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Unser verrücktes Gehirn

Über Blackouts, Aberglaube, Seekrankheit - wie uns das Gehirn austrickst

AutorDean Burnett
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783641185077
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Ohne Zweifel haben wir das größte Wunderwerk der Evolution in unserem Kopf. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn das Gehirn spielt uns fortwährend Streiche: Es versetzt uns in Angstzustände, als verfolge uns der Säbelzahntiger, quält uns an Bord eines Schiffes mit Übelkeit oder entwirft ein völlig überzogenes Bild von uns selbst.

Die Gründe werden im unausgeglichenen Verhältnis sehr alter primitiver Hirnteile und neuerer Regionen vermutet. So dominiert uns oft das sogenannte Reptilgehirn, und die uralte Amygdala lässt uns weiterhin Ausschau nach Gefahren halten, die es längst nicht mehr gibt - mit entsprechenden unpassenden, lästigen Reaktionsmustern.

Kompetent, leicht nachvollziehbar und witzig erklärt Burnett, wie, wann und warum uns das Gehirn in die Irre führt.



Dr. Dean Burnett ist Neurologe an der Cardiff University. In seinen Nebenstunden betätigt er sich als Stand-up Comedian. Sein 'Brain Flapping' überschriebener Wissenschaftsblog im Guardian wurde weit über 10 Millionen mal angeklickt.

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Leseprobe

1

Der Geist übt die Kontrolle aus

Wie das Gehirn den Körper steuert und dabei für gewöhnlich alles vermasselt

Die Mechanismen, die es uns gestatten zu denken, zu urteilen und zu überlegen, existierten vor Millionen von Jahren noch nicht. Der erste Fisch, der vor Äonen an Land kroch, wurde noch nicht von Selbstzweifeln gequält. Er fragte sich nicht: »Warum mache ich das eigentlich? Ich kann hier nicht atmen und habe nicht einmal Beine, was auch immer das sein mag – Beine.« Bis vor relativ kurzer Zeit erfüllte das Gehirn einen viel klarer umrissenen und einfacheren Zweck, nämlich den Körper mit den jeweils dazu erforderlichen Mitteln am Leben zu erhalten.

Das primitive menschliche Gehirn vermochte diese Aufgabe offenkundig erfolgreich zu erfüllen, da wir als Spezies überlebten und jetzt die dominante Lebensform auf der Erde darstellen. Doch trotz unserer hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten sind die ursprünglichen primitiven Funktionen des Gehirns nicht überflüssig geworden. Im Gegenteil: Sie sind wichtiger denn je. Über ein Sprachvermögen und die Fähigkeit zum logischen Denken zu verfügen, ist nicht viel wert, wenn man weiterhin aus simplen Gründen stirbt – weil man zum Beispiel vergisst zu essen oder über den Rand einer Klippe spaziert.

Das Gehirn ist zu seiner Erhaltung auf den Körper angewiesen, und der Körper braucht das Gehirn, damit es ihn kontrolliert und dazu bringt, das zum Leben Notwendige zu tun. (In Wirklichkeit stehen Körper und Gehirn noch in einem viel komplexeren Abhängigkeitsverhältnis zueinander, doch möge das fürs Erste genügen.) Als Folge davon ist ein großer Teil des Gehirns grundlegenden physiologischen Prozessen gewidmet wie der Überwachung innerer Abläufe, der Hervorbringung von geeigneten Reaktionen auf bestimmte Probleme, der Beseitigung von Wirrwarr: im Grunde also Erhaltungs- oder Wartungsarbeiten. Die Areale, die für diese fundamentalen Tätigkeiten zuständig sind, der Hirnstamm und das Kleinhirn, werden manchmal als »protoreptilisches Gehirn« bezeichnet, womit ihre primitive Beschaffenheit hervorgehoben wird: Sie leisten dasselbe, was unser Gehirn leistete, als wir Reptilien waren, in grauer Vorzeit. (Säugetiere betraten erst später die »Bühne des Lebens«.) Im Unterschied dazu ist für die höher entwickelten geistigen und sensorischen Fähigkeiten, derer wir modernen Menschen uns erfreuen – Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Denken –, der »Neokortex« zuständig. Die tatsächliche Aufgabenverteilung ist weit komplexer, als diese Etiketten vermuten lassen, doch sind sie zur ersten groben Unterscheidung nützlich.

Es wäre also zu hoffen, dass diese beiden Komponenten – das protoreptilische Gehirn und der Neokortex – harmonisch zusammenarbeiteten oder einander zumindest ignorierten. Pustekuchen! Wenn Sie jemals für einen Mikromanager gearbeitet haben, also jemanden, der sich in alle Einzelheiten eines Problems oder einer zu erledigenden Aufgabe einmischt, dann wissen Sie, wie unglaublich ineffektiv ein solches Arrangement sein kann. Wenn man ständig eine weniger erfahrene, aber im Rang höher stehende Person im Nacken hat, die einem unsinnige Befehle erteilt und dumme Fragen stellt, dann macht einem das ein effizientes Arbeiten schwer. Der Neokortex macht aber unablässig genau dies mit dem protoreptilischen Gehirn.

Doch geht die gegenseitige Behinderung nicht nur in eine Richtung. Der Neokortex ist flexibel und empfänglich, das protoreptilische Gehirn ist in seiner Funktionsweise festgefahren. Wir alle kennen Leute, die glauben, etwas besser zu wissen, weil sie älter sind oder etwas schon länger machen als wir. Mit solchen Menschen zusammenarbeiten zu müssen, kann zu einem Albtraum werden: Es ist, als ob man mit jemandem Computerprogramme entwickeln wollte, der darauf besteht, weiterhin eine Schreibmaschine zu benutzen, weil »man das immer so gemacht hat«. Das protoreptilische Gehirn kann sich genau so verhalten und Nützliches zum Scheitern bringen, indem es unglaublich stur ist. In diesem Kapitel wird untersucht werden, wie das Gehirn die grundlegenderen Funktionen des Körpers durcheinanderbringt.

Haltet dieses Buch an. Ich will aussteigen!

Wie das Gehirn die Reisekrankheit verursacht

Die Menschen verbringen heutzutage viel mehr Zeit im Sitzen als früher. Berufe, die körperliche Anstrengungen erfordern, sind weitgehend von Bürojobs abgelöst worden, Autos und andere Transportmittel gestatten es uns, im Sitzen zu reisen. Das Internet ermöglicht es uns, quasi unser ganzes Leben im Sitzen zu verbringen: Wir können mit seiner Hilfe nicht nur mit anderen kommunizieren, sondern auch von zu Hause aus unsere Bankgeschäfte erledigen und Einkäufe tätigen.

Das alles hat seine Nachteile. Wahnsinnssummen werden für ergonomisch geformte Bürostühle ausgegeben, um sicherzustellen, dass niemand durch exzessives Sitzen körperlichen Schaden nimmt oder Verletzungen davonträgt. Zu lange in einer Flugzeugkabine eingepfercht zu sitzen kann sogar tödlich enden, indem es Thrombosen verursacht. Es scheint merkwürdig, aber zu geringe Bewegung ist gesundheitsschädlich.

Sich zu bewegen ist wichtig. Menschen können es gut, und sie tun es oft, wie die Tatsache belegt, dass wir uns als Spezies über fast die gesamte Erdoberfläche verteilt haben – ja sogar bis auf den Mond vorgedrungen sind. Es heißt, dass ein Spaziergang von drei Kilometern am Tag gut für das Gehirn sei, doch ist er vermutlich jedem Teil des Körpers zuträglich.1 Unsere Knochengerüste haben sich im Lauf der Evolution so entwickelt, dass wir lange Strecken zu Fuß zurücklegen können, und die Anordnung und die Beschaffenheit unserer Füße, Beine und Hüften, unseres Körpers generell, eignen sich in idealer Weise für regelmäßiges Gehen. Doch ist nicht nur die Struktur unseres Körpers entscheidend: Wir scheinen darauf »programmiert«, uns zu Fuß fortzubewegen. Wir können es, ohne dass wir das Gehirn »einschalten« müssen.

Wir besitzen Nervenzellen in unserem Rückgrat, die uns in die Lage versetzen, unsere Fortbewegung ganz instinktiv zu kontrollieren, das heißt ohne Einbeziehung unseres Bewusstseins.2 Diese Bündel von Nervenzellen nennt man pattern generators, sie befinden sich im unteren Teil des Rückenmarks, im zentralen Nervensystem. Diese Aktivitätsmustergeneratoren stimulieren die Muskeln und die Sehnen der Beine, sich – wie der Name sagt – nach bestimmten Mustern, patterns, zu bewegen und so das Gehen hervorzubringen. Sie empfangen ihrerseits ein Feedback von den Muskeln, Sehnen, Gelenken und der Haut, das zum Bespiel anzeigt, ob wir gerade einen Abhang hinuntergehen, sodass wir die Art und Weise unserer Bewegung der Situation anpassen, eine Art Feineinstellung vornehmen können. Das könnte erklären, warum eine bewusstlose Person immer noch herumlaufen kann, wie wir später bei der Beschäftigung mit dem Phänomen des Schlafwandelns erfahren werden.

Ihre Fähigkeit, sich mit Leichtigkeit und ohne darüber nachzudenken zu Fuß fortzubewegen, stellt das Überleben der Spezies Mensch sicher. Sie ermöglicht es dem Menschen, aus gefährlichen Situationen zu fliehen, Nahrungsquellen aufzutun, Beutetiere zu verfolgen oder vor Raubtieren davonzulaufen. Die ersten Organismen, die aus dem Meer krabbelten und das Festland besiedelten, ließen das gesamte auf der Aufnahme von Sauerstoff aus der Luft basierende Leben entstehen. Das wäre nicht geschehen, wenn diese Organismen sich nicht vom Fleck gerührt hätten.

Doch die große Frage lautet: Wenn Fortbewegung unerlässlich für unser Wohlbefinden und unser Überleben ist und wir tatsächlich ausgeklügelte biologische Systeme entwickelt haben, die dafür sorgen, dass es so oft wie möglich dazu kommt und so problemlos wie möglich vonstattengeht – warum löst sie dann gelegentlich Übelkeit und Erbrechen aus? Man bezeichnet dieses Phänomen als Kinetose, Bewegungs- oder Reisekrankheit. Manchmal führt die Tatsache, dass wir »unterwegs« sind, ohne erkennbaren Grund dazu, dass uns das Frühstück wieder hochkommt, wir unser Mittagessen von uns geben oder eine andere kürzlich eingenommene Mahlzeit wieder ausspeien.

Verantwortlich dafür ist das Gehirn, nicht etwa der Magen oder ein anderes Verdauungsorgan – wenn es sich auch im Moment so anfühlen mag. Was könnte der Grund dafür sein, dass unser Gehirn – Jahrmillionen der Evolution zum Trotz – zu dem Schluss gelangt, sich von A nach B zu begeben, könnte ein berechtigter Anlass dafür sein, dass wir uns übergeben? Tatsächlich verstößt unser Gehirn überhaupt nicht gegen die Tendenzen, die sich im Lauf der Evolution ausgebildet haben. Es sind die zahlreichen Systeme und Mechanismen, über die wir verfügen, um uns unsere Bewegung zu erleichtern, die die Wurzel des Übels darstellen. Die Reisekrankheit macht einem nur dann zu schaffen, wenn man sich mithilfe künstlicher Apparaturen fortbewegt, also wenn man sich in einem Transportmittel befindet. Hier kommen die Gründe dafür.

Der Mensch verfügt über ein breites Spektrum von Sinnen und neurologischen Mechanismen, die ihn zu Propriozeption, zum »Selbstverspüren«, befähigen, zum Empfinden der aktuellen Position und Bewegung des eigenen Körpers im Raum oder des räumlichen Verhältnisses von dessen einzelnen Teilen zueinander. Führen Sie Ihre Hand hinter den Rücken: Sie können sie dann immer noch spüren, wissen, wo sie sich befindet und was für eine unanständige Geste sie vielleicht vollführt, auch wenn Sie sie nicht sehen. Das versteht man unter Propriozeption.

Wir besitzen aber auch das sogenannte Vestibularorgan, das...

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