Kapitel 2:
Nachträgliche Veränderung des Genoms – wie geht das?
Das Phänomen der Epigenetik
Wir wissen jetzt, dass unser Ernährungsverhalten entscheidend durch das Erbe geprägt wird, das wir von unseren Erzeugern mitbekommen haben – und durch das, was uns im 1000-Tage-Fenster begegnet ist. Aber wie genau funktioniert diese Weitergabe? Diesem biomedizinischen Wunder wollen wir uns in diesem Kapitel ein wenig nähern.
Wie ein Lebewesen aussieht, wird durch seine Gene bestimmt. In jeder Körperzelle gibt es 46 Chromosomen; in diesen liegen – gut verpackt in Proteine – riesige DNA-Moleküle (auch DNS genannt). Diese enthalten die Gene und damit die Informationen über alle Merkmale und Eigenschaften des Lebewesens. Die Gesamtheit der Gene nennt man das Genom – oder auch den »genetischen Code«, weil diese Informationen, also der Bauplan, in verschlüsselter Form vorliegen und »abgelesen« werden müssen, damit sie verarbeitet werden können.
Das Prinzip der DNA war übrigens bereits bei den Archea, einzelligen kernlosen Mikroorganismen, vorhanden, die am Anfang allen Lebens auf der Erde standen. Manche ihrer Gene finden sich auch noch beim Menschen, und im Grunde lässt sich die Evolutionsgeschichte aus dem Vergleich der DNA verschiedener Spezies ablesen. Bemerkenswert ist, dass sich das Prinzip der DNA – sie vermehrt und verbreitet die in ihr verborgene Information durch Selbstverdopplung (Reduplikation) – über alle Veränderungen auf unserem Planeten hinweg seit mehr als 2 Milliarden Jahren erhalten hat.
Die DNA, auf der unsere Gene liegen, muss man sich wie eine lange, um sich selbst gedrehte Strickleiter vorstellen (Doppelhelix). Die »Sprossen« dieser Strickleiter bestehen aus vier chemischen Bausteinen (»Basen«), die sich gegenüberliegen und durch starke chemische Bindungen aneinandergekoppelt sind. In jeder einzelnen unserer Zellen befindet sich DNA mit einer Gesamtlänge von etwa 2 Metern – und diese wird im Zellkern mit einem Durchmesser zwischen 0,005 und 0,016 Millimeter untergebracht. Bei diesem unglaublichen Unterbringungsprozess muss auch noch sichergestellt sein, dass die Abschnitte, auf denen die Gene liegen, jederzeit zugänglich sind, damit sie abgelesen werden können. Das geht nur, wenn die DNA geschickt gepackt ist. Dies wird erreicht, indem sie um spezielle Proteine gewickelt wird, sogenannte Histone, aber auch andere Proteine. Der DNA-Faden ist im Zellkern also dicht um Eiweißbausteine gepackt.
Alle Mitglieder einer Art haben grundsätzlich denselben »Bauplan«: Eine Maus sieht immer aus wie eine Maus, und ein Mensch immer wie ein Mensch. Aber es gibt bekanntlich individuelle Unterschiede in Kleinigkeiten wie der Haar- und der Hautfarbe, der Größe, dem Stoffwechsel etc. Grund dafür ist, dass bei der Zeugung die Chromosomen aus der väterlichen Samen- und der mütterlichen Eizelle zusammenkommen und einen neuen Chromosomensatz für ein neues Individuum entstehen lassen, in dem alle Gene doppelt vorhanden sind (einmal vom Vater, einmal von der Mutter). Diese »doppelten Lottchen« nennt man Allele, und sie können sich in ihren DNA-Bausteinen durchaus minimal voneinander unterscheiden. Das heißt aber auch, dass die anhand der leicht unterschiedlichen DNA-Information gebildeten Proteine ebenfalls ein bisschen unterschiedlich sind. Damit kommt es letztendlich auch zu Unterschieden im äußeren Erscheinungsbild (Phänotyp).
Epigenetik: Das Nachjustieren des genetischen Programms
Kommen wir noch einmal auf das bereits erwähnte Phänomen zurück, dass aus einer einzigen Zelle, der befruchteten Eizelle, 200 verschiedene Zelltypen entstehen, die sich sowohl im Aussehen als auch in ihren Funktionen unterscheiden. Ganz offensichtlich stellt der genetische Code eine Unzahl an Möglichkeiten zur Verfügung – und das Geheimnis eines komplexen Organismus besteht darin, dass es Mechanismen gibt, die aus diesen Möglichkeiten gezielt eine Auswahl treffen und andere gezielt ignorieren. Dieser Mechanismus des »gezielten« selektiven Ablesens (und Ignorierens) steuert sowohl die Spezialisierung der Zellen im sich entwickelnden Embryo und Fötus als auch die kurzfristige Anpassung des Organismus an plötzliche Umweltveränderungen.
In den ersten 16 Lebenswochen werden all die Zelltypen und Gewebe gebildet, die der Organismus braucht, um ordnungsgemäß zu funktionieren, danach kann nur noch teilweise korrigiert werden. Während dieser 16 Wochen muss der Organismus außerdem auf Signale reagieren, die ihm helfen, sein Überleben in der Welt, in die er sich hineinentwickelt, sicherer zu machen. Das dafür erforderlichen »Feintuning« des genetischen Codes nennt man Epigenetik. Wie erwähnt, gibt es also etwas »hinter« oder »neben« der Genetik, das Einfluss darauf hat, wie wir aussehen und wie unser Stoffwechsel funktioniert. Mittlerweile sprechen viele schon von einem »zweiten Code« (neben dem genetischen Code aus den aneinandergereihten Basenpaaren). Der Clou der neuen Erkenntnisse: Es gibt eine Steuerungsebene, auf der die DNA verändert werden kann – aber ohne die elementare Erbinformation, nämlich die Reihenfolge der Basen zu verändern! Das heißt: Der Basiscode ist stabil, aber der Steuerungscode, also der detaillierte Ausführungsplan dafür, welches Gen abgelesen wird und welches nicht, ist variabel und flexibel. Das Epigenom steht also für die Gesamtheit der Veränderungen, die an der DNA einer Zelle vorgenommen wurden. Und dieses Epigenom schreibt auch unsere Ernährungsbiografie – manches mit Kugelschreiber, also für immer, anderes mit Bleistift, also vorläufig und reversibel.
Die Fähigkeit eines Organismus, eine durch Umwelteinflüsse erforderliche Veränderung vorzunehmen, wird als Anpassungsfähigkeit (Adaptivität) bezeichnet. Diese ist Voraussetzung für die Anpassung, das heißt die Formbarkeit. Die Eigenschaft, die es Zellen und Organen ermöglicht, sich während ihrer Entwicklung und auch noch nach der Geburt auf die zu erwartenden bzw. vorgefundenen Umweltbedingungen einzustellen, nennt man, wie erwähnt, Plastizität. Genau genommen ist dies die Fähigkeit eines Genotyps, durch Bildung unterschiedlicher Phänotypen eine Anpassung zu erreichen. Plastizität kann in diesem Zusammenhang auch heißen, dass die Zelle die Menge an Hormonen, die sie bildet, den Umweltbedingungen anpassen kann. Auch dies geschieht mithilfe des Epigenoms – und darin liegt eine gewisse Chance, unsere Ernährungsbiografie doch noch zu beeinflussen. Denn so, wie die Mutter Signale der Umwelt an das noch ungeborene Kind schickt, schicken auch wir selbst nach der Geburt Signale unserer Umwelt an unsere Zellen und damit letztlich an das dort befindliche Genom und Epigenom. Aus evolutionärer Sicht erlaubt die adaptive Plastizität einem jungen Organismus, seinen Phänotyp so anzupassen, dass er in der Umwelt überleben und sich fortpflanzen kann, in die er hineingeboren wird.
Ein schönes Beispiel für die adaptive Plastizität bietet die Feldmaus: Tiere, die im späten Herbst geboren werden, tragen ein dickeres Fell als Feldmäuse, die im späten Frühling zur Welt kommen. Dieser Mechanismus bedient sich des Melatonins, also des im Gehirn gebildeten Hormons, das den Tag-Nacht-Rhythmus mitsteuert. Wenn es morgens hell wird, sinkt der Spiegel des Hormons rasch ab, um mit einsetzender Dunkelheit wieder anzusteigen. Je kürzer der Tag, desto mehr Melatonin wird gebildet. Ist die Feldmaus trächtig, so »erfahren« die ungeborenen Feldmausjungen über die Melatoninkonzentration aus dem mütterlichen Stoffwechsel, in welche Jahreszeit sie hineingeboren werden. Das Melatonin beeinflusst Enzyme, die für die Ausbildung des Haarkleids zuständig sind, und bereitet den Organismus der Mäusejungen so auf die zu erwartende Temperatur »da draußen« vor. Einen solchen Vorgang nennt man vorausschauende bzw. vorhersagende adaptive Antwort.
Ein anderes Beispiel für eine epigenetische Veränderung findet man bei den Honigbienen. Hier wird sie von der Nahrung ausgelöst, dem geheimnisvollen Gelée Royale, das aus einem Arbeiterkind eine Königin macht. Der Unterschied ist augenfällig: Eine Bienenkönigin ist fast doppelt so groß und mindestens dreimal so schwer wie eine Arbeiterin desselben Volks. Sie kann mehrere Jahre alt werden, während die Arbeiterin es im Sommer gerade mal auf einen Monat bringt. Und neben den körperlichen beobachtet man auch enorme Verhaltensunterschiede zwischen den sozialen Kasten: Während die Heerscharen von Arbeiterinnen auf eigenen Nachwuchs verzichten, fleißig Nektar sammeln, den Stock putzen, verteidigen und die nächste Bienengeneration großziehen, ist die einsame Königin – nach der Begattung durch mehrere Drohnen, wie die Bienenmänner heißen – mindestens ebenso fleißig (weil ausschließlich) mit Eierlegen beschäftigt. Eier, aus denen wieder viele Arbeiterinnen und wenige Königinnen hervorgehen – obwohl sie doch dasselbe Erbgut haben.
Dass die Unterschiede zwischen Arbeiterinnen und Königinnen auf das Futter zurückzuführen sind, das sie als Larven von den Ammen- oder Pflegebienen erhalten, ist schon sehr lange bekannt. Eine Larve, die zur Königin bestimmt ist, wird während ihrer gesamten Entwicklung mit Gelée Royale gefüttert, einem nährstoffreichen Sekret aus den Futtersaftdrüsen der Pflegebienen, das neben Zucker, Eiweiß und Fett auch viele Mikronährstoffe, insbesondere B-Vitamine, enthält. Die Larven der Arbeiterinnen erhalten dieses Spezialfutter nur ganz am Anfang ihrer Entwicklung, dann werden sie auf eine reine Pollen- und Nektar-Kost umgestellt.
Einer australischen Forschergruppe ist es kürzlich gelungen, Arbeiterinnen zu Königinnen heranwachsen zu...