Was ist ein Papa?
Die meisten Kleinkinder hatten in diesen ersten drei bis fünf Jahren keinen Papa, da die Papas irgendwo auf der Welt in Gefangenschaft ihre Führertreue, unter menschenunwürdigen Bedingungen, abbüßen mussten.
So mussten die Mütter alleine für ihre Familien sorgen. Also, zu dieser Zeit war es eine reine Frauenwirtschaft, die die ersten schlimmen Jahre Deutschland wieder wohnens- und lebenswert organisierten. Nun zeigten die Frauen, dass sie die Familienpolitik auch ohne Männer schafften.
Als die Männer wieder zu Hause waren und am bürgerlichen Leben teilnahmen, wurden sie von der Selbstständigkeit ihrer Frauen regelrecht überrollt.
Dies war der Beginn der neuzeitlichen Frauenbewegung.
Einige Beispiele: Einführung des Frauenwahlrechtes, größere Toleranz, gelockerte Kleidervorschrift, Frauen durften Hosen tragen, Frauen machten den Führerschein und nahmen somit aktiv, und selbstbewusst am Straßenverkehr teil.
Ab welchem Zeitpunkt sich ein Mensch an unvergessliche Ereignisse erinnern kann, ist nicht eindeutig. Jeder Mensch hat andere Erinnerungsmomente.
Ich kann mich noch an einige für mich große Momente erinnern, als ich dreieinhalb Jahre alt war. Sicher sind es nur einige emotionale unvergessliche Ereignisse, die in früher Erinnerung bleiben.
Später erzählte mir öfters meine Mutter, wie sie meinen Vater in meine Gedanken, mein Wissen und Leben bringen wollte.
Ich musste ja auf meinen Papa vorbereitet werden, wenn er vom Krieg, von der Gefangenschaft, wieder heimkehrt.
Täglich erzählte mir meine Mutter einige Papageschichten, damit ich ihn gleich akzeptierte und annehmen würde.
„Bald wird unser Papa wieder zu uns kommen, er ist noch in Ägypten in Gefangenschaft.“
Auf diese Papageschichten hatte ich natürlich immer neugierige Fragen: „Was ist ein Papa? Wer ist es? Warum ist er in Ägypten? Was ist Ägypten? Was macht er dann bei uns? Wo soll er denn wohnen? Warum ist er dort und nicht hier?“ Solche kindlichen Fragen sind auch für eine Mutter schwer, sie richtig und realistisch zu beantworten.
„Ich hab doch dich und meine Schwester, meinen Opa und meine Oma. Was soll da noch ein Papa?“
„Wer und was ist unser Papa?“, fragte ich auch neugierig meine große Schwester.
„Ein Soldat.“
„Also ein Amerikaner?“
Amerikaner kannte ich nämlich sehr gut, da sie in unserem Dorf immer wieder mit den Panzern für ein paar Tage Station machten. Oder durch ihre großen Manöver in unserer Gegend. Man konnte das Motoren- und Kettengedröhne der Panzer schon lange hören, bevor man sie sah. Wir Kinder liefen jedes Mal zum Schauen auf die Hauptstraße.
„Nein, kein Amerikaner. Er war ein deutscher Soldat, aber der Krieg ist vorbei.“
„Also ein amerikanischer Deutscher!“
„Ach das verstehst du nicht, lass mich in Ruhe mit deiner Fragerei, du wirst ihn ja bald sehen.“
„Blöde Kuh! Ich frag ihn selber, wenn er da ist, wer er ist.“
Endlich, irgendwann im Sommer 1948, Wochentage oder Monate kannte ich damals noch nicht, sagte meine Mutter zu mir: „Dein Papa kommt nächste Woche heim. Dein Onkel Albert holt ihn mit dem Auto vom Bahnhof ab. Du darfst auch mitfahren.“
Wenn ich auch erst dreieinhalb Jahre alt war, aber, dass mein Onkel einen Opel Blitz hatte wusste ich damals schon. Im Dorf gab es nämlich nur drei Autos. Eines hatte der Zimmermann, eines ein Steinemacher und mein Onkel einen Opel Blitz.
Das war natürlich eine Vorfreude. Die Person Papa war nicht mehr so wichtig. Hauptsache ich durfte mit zum Bahnhof, die Züge anschauen und Autofahren. Ich war ja die meiste Zeit auch mit auf den Feldern, da es damals keinen Kindergarten gab. Mein Opa hatte seine Felder an einer Bahnstrecke, so konnte ich immer die vorbeifahrenden, schwarzen, dampfenden, zischenden Züge sehen. Die von Ruß geschwärzten Heizer auf den Lokomotiven winkten mir öfters zu. Jetzt durfte ich richtig zum Bahnhof mit einem Opel Blitz fahren.
Bis es wirklich soweit war, konnte ich vor Aufregung nicht mehr richtig schlafen.
Wie viele Tage die Wartezeit von einer Woche sind, konnte ich noch nicht realisieren.
„Heute kommt dein Papa. Dein Onkel wird gleich kommen, wir holen ihn dann ab.“
Endlich, ich wurde richtig hergerichtet, was ich überhaupt nicht leiden mochte. Meistens putzte meine Mama mir mit etwas Spucke das Gesicht ab, weil ich seit dem Waschen schon wieder Dreckspuren im Gesicht hatte.
Meine Schwester, die acht Jahre älter war als ich, durfte oder wollte nicht mit, warum wusste ich nicht.
Für mich war nur der Opel Blitz und die Züge von wichtiger Bedeutung.
Als für mich mein lang ersehnter Onkel mit seinem Opel Blitz ankam, war ich schon draußen und sprang gleich auf den gut gepolsterten Rücksitz, den ich für mich alleine zur Verfügung hatte.
Natürlich wurde ich für meine Voreile von meiner Mama wieder gemaßregelt, aber das nahm ich an diesem wichtigen Ereignis nicht war.
So, endlich saßen alle im Auto, und die Fahrt mit dem Opel Blitz ging los. Das Gefühl der ersten Autofahrt war so emotional, dass ich mich an dieses Ereignis als Dreieinhalbjähriger noch sehr gut erinnern kann.
Es waren etwa zehn Kilometer, aber für mich war das eine kleine Weltreise. Ich konnte nicht viel genug sehen. Wichtig war aber, ich durfte im Opel Blitz fahren.
Mit dem Opel Blitz durch die Stadt fahren war fantastisch. Hoffentlich schauten die Leute auch alle auf uns.
Am belebten Bahnhof angekommen, waren die schwarzen, dampfenden Züge auch wieder ein besonderes Erlebnis für mich.
Meine Mama nahm meine Hand und führte mich mit sich. Es waren viele Leute anwesend und jeder wartete auf jemanden.
Wir stellten uns an ein Geländer. Erst mein Onkel, dann meine Mama und dann ich. Ich hing richtig an ihrem Rockzipfel, damit sie mich unter diesen vielen Leuten auch nicht verlieren konnte.
Es kam auch schon ein Zug an. Man konnte erst gar nicht viel erkennen, da der halbe Zug in einer Dampfwolke verschwand.
Als sich die Sicht besserte, sah man viele Männer mit einheitlicher Kleidung aussteigen. Die meisten wurden von anderen Menschen schon erwartet.
Als der Zug abfuhr, standen wir drei immer noch ohne Papa da.
Nach kurzer Zeit kam auch schon der nächste Zug dampfend eingefahren.
Wieder stiegen viele Männer aus.
Meine Mama und mein Onkel schauten angespannt und suchend auf die aussteigenden Männer.
Ein Mann stellte sich neben mich und schaute mich ganz komisch an. Meine Mama und mein Onkel schauten immer noch mit suchenden Blicken in Richtung Zug.
Ich drückte mich fester an meine Mutter und zog am Rockzipfel bis sie genervt fragte: „Was ist den los, du wolltest doch immer mitkommen, jetzt musst du auch etwas Geduld haben.“
„Der Mann neben mir schaut mich immer so komisch an. Kannst du nicht etwas weiter rücken?“
„Wer?“
Nun war es geschehen. Eine innige Umarmung folgte, ich hatte keinen Platz mehr und hängte mich an meinen Onkel.
Auch er begrüßte diesen Mann sehr freundlich.
Meine Mutter nahm mich auf ihren Arm und sagte zu dem Mann: „Das ist dein Sohn“ und zu mir „das ist dein Papa, von dem ich dir immer erzählt habe.“
Ich spürte jetzt schon, dass ich nicht mehr der Mittelpunkt war.
Auch im Opel Blitz hatte ich die Rückbank nicht mehr alleine. Meine Mutter saß neben mir und redete unaufhörlich mit dem Mann, meinem Papa, der vorne saß. Ich konnte während der Heimfahrt nur langweilig aus dem Fenster schauen. Das war die ganze Vorbereitung auf meinen Vater.
Zuhause war natürlich die (mir bis dahin vorkommende) übertriebene Begrüßung, mit meiner Schwester, meinem Opa und meiner Oma, wieder das Wichtigste. Mein Onkel verließ mich auch noch mit seinem Opel Blitz.
Wie wird das wohl weitergehen.
Auch aus dem Schlafzimmer meiner Mutter wurde ich ausquartiert. Mein Bett wurde in ein schnell neu errichtetes Zimmer gestellt.
Wenn ich manchmal revoltierte und dort nicht schlafen wollte, erzählte mir meine Mutter die Kriminalgeschichte von Hinterkaifeck (im Jahre 1922), was zu dieser Zeit noch immer ein traditionelles Thema von den Erwachsenen war. Von meinem Fenster aus konnte ich, in etwa drei Kilometer Entfernung, nur schemenhaft ein altes Gehöft erkennen. Somit hatte ich vor dem Einschlafen wohl Angst, aber ich war im Familienbund wieder umgänglich.
Wenn die Mäuse auf dem Dachboden dann noch hörbar tanzten, konnten die Phantasien mit Räubern einen bis zum Morgengrauen wach halten.
Das Zimmer war in dieser damaligen Zeit so gut isoliert, dass im Winter die Zudecke durch den feuchten Atem steif gefror.
Von unserem Hausflur aus, führte eine Tür zum Kuhstall. So, dass man vom Wohnraum direkt in den Stall gehen konnte. Was sich natürlich in der aromatischen Wohnungsluft wiederspiegelte.
Diese Situation war meinem Vater letztendlich auch zu viel des Guten.
Diesen Zustand änderte er sehr bald.
Die nächsten Tage beobachteten...