Da hebt das Dach sich von dem Haus
und die Kulissen rühren
und strecken sich zum Himmel raus,
Strom, Wälder musizieren...
J. v. Eichendorff
Die erste Hüttenwanderung
DHW 1. Vom Pragser Wildsee nach Forno da Soldo, 2003
Strahlend BLAU der Himmel, wenigstens nach den ersten drei Tagen! WEISS die Berge, und vor allem die Schuttflächen an ihrem Fuß häufig hellweiß. Schließlich das ROT eines kleinen Krauts, Bärentraube, das zwischen dem Grün der Büsche und Krüppelkiefern im Gegenlicht feurige Placken bildet. Die Herbstverfärbung setzt bei Lärchen und Birken erst zögernd ein, so dass die Farbe Gelb fast ganz fehlt, anders als im letzten Jahr. - Übrigens, die Nationalflagge Italiens ist leider nicht blau, weiß, rot sondern grün, weiß, rot.
Bergwandern. Auf halber Höhe gehen wir etwa auf einen Pass zu, hoch oben zwischen zwei Spitzen ist er zu sehen, einen halben Tag lang. Später blickt man noch lange auf diesen Pass zurück. Erst: Da sollen wir rauf? Später: Da oben waren wir!! - Hiltrud geht immer voran in mäßigem Tempo, Inge schleicht bergauf. Deshalb komme ich als letzter nie außer Puste und mein Puls überschreitet kaum die ärztlich empfohlenen 130 Schläge. Schrittchenweise geht es also voran und hinauf, Augenblick für Augenblick. Aber die winzigen Strecken und Momente addieren sich. Schneller als gedacht sind wir schon deutlich über dem Talgrund. Bleibe ich stehen, um mich umzusehen oder ein Foto zu machen, sind die anderen im Nu schon ein erstaunliches Stück weiter – aus solchen Schritten und Augenblicken setzen sich die Stunden und Höhenmeter und Kilometer zusammen, auch das Leben, auch schließlich die Ewigkeit – Zeit, Raum, Zeitraum.
Fast die ganze Strecke vom Pragser Wildsee bis Rifugio Pramperèt konnten wir „die Sella“ von Ferne sehen, erst von Norden, dann von der Seite, dann von Süden, ein riesiger runder Felshocker von um die zehn Kilometer Durchmesser, 3150 Meter hoch, charakteristisch stufig aufsteigend, mit Grödnerpass zur Puezgruppe hin und mit Pordoipass zur Marmolada hin (Zeichnung S. →). Dieses letztere Massiv, ein gewaltiger „Sessel“, nach Norden geöffnet und mit weißem Kissen ausgestattet, hat nichts mit Marmelade zu tun, mehr mit weißem Schnee oder Marmor, marmo italienisch, daher auf Deutsch vielleicht „die Marmorne“? Weitere Berge haben uns begleitet, der Monte Formin, ge“formt“ als schräge Platte mit den Croda da Lago-Spitzen hinten dran. Dann der Civrettakamm, der riesige Monte Pelmo mit seinen zwei stumpfen Gipfeln, dann noch die Antelao-Pyramide jenseits des Piave-Tals... - so können wir tatsächlich schrittweise das Gewirre von Bergen ein bisschen strukturieren. Alle diese Gebirgsstöcke ragen aus dem heraus, was Regen, Wind und Frost von ihnen abgesprengt haben, was als Steinchen, Felsen und hausgroße Blöcke nun zu ihren Füßen liegt. Diese „Schutthalden“ kommen wie ein Fluss gerade oder geschlängelt aus den Spalten der Berge herunter oder lagern sich einfach schräg unten an, die Blöcke liegen wie Hütten im Grün der Wälder und Gebüsche.
In dem großen Hotel am Pragser Wildsee, in dem auch die österreichische Kaiserfamilie einst zu nächtigen pflegte, verbringen wir eine ruhige Nacht vom 10. auf den 11. September, der Himmel ist heute früh blau, der Rucksack nicht zu schwer, aber es ist Schlechtwetter vorausgesagt. Tatsächlich wird es beim Aufstieg zum Seekofel-Pass (2.400 Meter) allmählich grau und kühl. Ein zu leicht bekleidetes Paar, das uns überholt hatte, kommt uns wieder entgegen. Kurz darauf beginnt es zu regnen. Kalt, noch kälter, ganz kalt, mit Graupeln und dann Schnee. Je höher wir steigen, desto stärker bläst der Wind. Da ich zu faul bin, meine Überhosen im Rucksack intensiv zu suchen, werde ich als einziger von uns dreien untenrum nass, das Fahrrad-Regencape tut ansonsten seine Dienste und schützt Rucksack und meine obere Hälfte. Die Seekofel-Hütte ist voll mit triefenden Gästen. Um zwei Uhr klart es bereits wieder auf, die hervorbrechende Sonne gibt der Landschaft ein unwirkliches Licht in blauen, violetten und grellgrünen Tönen, durchmischt mit aufsteigenden silberweißen oder grauen Wolkenschwaden. Eine fantasy-Landschaft mit wechselnder Beleuchtung. Der Seekofel ist mit dicken Kalkplatten sauber belegt, die Hochfläche glänzt im Neuschnee, der rundum die Strukturen der Alpenfaltung deutlich macht wie im Geologen-Bilderbuch. Es ist noch zu früh, um Quartier zu machen. So gehen wir halt weiter, abwärts zur Senneshütte, dann über liebliche Kiefern-Stein-Gräser-Hänge zum freundlichen Rifugio Fodara. – Alle Übernachtungshütten und -stationen hebe ich hervor, setze auch Höhenzahlen oft in den Text, damit wir uns besser erinnern können.
Am nächsten Morgen wählen wir nicht die breite Straße mit erheblichem Ab- und Anstieg sondern die Variante 1, einen Pfad unterhalb der Fanes-Felsen im steil abfallenden Geröll, mit weniger Höhenverlust, dafür aber genügend Kletterei an manchen Stellen. Der Pfad ist wirklich schmal, so schmal, dass er vielleicht deshalb auf den neueren Karten schon nicht mehr drauf ist. Beim Steigen rutscht plötzlich mein Wasserbehälter aus der Seitentasche des Rucksacks und holpert und springt zu Tal. Nicht weit, wie beruhigend, so dass ich nachklettern kann. Zerbeult aber noch dicht wird das Teil gerettet.
Das Rifugio Fanes (2050 Meter) liegt in einem flachen Hochtal mit zwei moorigen Seen, umgeben von ansteigenden Kalkbänken, etwa wie ein Amphitheater. Da wir früh angekommen sind und der graue Tag uns zu keinen weiteren anstrengenden Taten ermutigt, kehren wir nahebei in einer Bauernhütte zu einem Honigschnaps und einem Glas Wein ein. Oben auf dem Kachelofen wälzt sich eine stumme Schöne. Der dazu gehörige junge Mann, Herr über 2000 Kühe, bereitet sich auf die Wintersaison vor, er ist Skilehrer, und erzählt von der Schule: Man lernt hier Ladinisch, Italienisch, Deutsch und Englisch!
Ab nun gibt es nur noch blendend schönes Wetter, Hochgebirgssonne plus kühlen Wind. Schon bald haben wir von den nächsten Jochs einen Abschiedsblick auf den Seekofel und dann einen herrlichen Blick durch das Hochtal und auf unseren weiteren Weg zur Seescharte (2500 m). Beim Anstieg entdecken wir plötzlich zum ersten Mal Sella und Schlern (Seiser-Alm), freuen uns, dass wir schon etwas von früher kennen. Der Abstieg in einem steilen Geröllkamin ist lästig wegen des Gerutsches, dann werden wir durch den Blick auf die vereiste Marmolada entschädigt. Auch taucht fern und hoch unser Ziel für heute auf, das Lagazoi-Rifugio (2750 Meter). Unten entlang, am Fuß einer enormen Gipfelreihe geht es leicht aufwärts, aber das sanfte und allmähliche Berg-An dauert Stunden. Immer das Haus vor Augen, es kommt einfach nicht näher. Wenigstens wandert eine Gemse ganz in der Nähe querfelsein auf die Berge zu. Zum Schluss ein steiler Anstieg über eine Skipiste, jetzt im Sommer eine kahle, hässliche Schotterhalde. Er endet mit einem atemberaubenden Rundblick über die Alpen in alle Himmelsrichtungen. Schön, dass wir unsere Scharte vom Mittag noch einmal sehen und unsere Leistung abschätzen können. Links und geradeaus im Süden die Bergketten, an denen wir bald vorbeilaufen werden, rechts Sella und Puez mit Geislerspitzen. Alpendohlen taumeln kunstvoll wie schwarze Blätter über dem Abgrund. Beim Abendessen geraten wir neben drei Herren aus Norddeutschland, von denen der kleinste sich ungeheuer mit seinen Kenntnissen und planerischen Vorschlägen hervortut. Er bringt es auch fertig, Hiltrud seine Vermutung mitzuteilen, dass wir bloße Spaziergänger seien.
Am Sonntag, Kuchen zum Frühstück, vollbringen wir unsere Glanzleistung: Neun Stunden und insgesamt tausend Meter Aufstieg, also fast dreimal auf den Eiffelturm zu Fuß, und 1500 m Abstieg - verteilt auf verschiedene Etappen.
Das Frühlicht arbeitet plastisch die Bergstrukturen heraus. Für den Rundblick vom Kleinen Lagazuoi aus begibt man sich am besten selbst dorthin, mit dem Auto oder Rad und dann mit der Gondel hinauf und überzeugt sich selbst. Oder geht zu Fuß wie wir.
Beim Abstieg zum Falzarego-Pass kommen wir an Befestigungsanlagen aus dem Ersten Weltkrieg vorbei. Die Kommentare auf den Hinweistafeln beschreiben, welche Mühe sich die Herren Offiziere gaben, dass sich die armen Bergbauern aus benachbarten Dörfern auf österreichischer und italienischer Seite wechselseitig abschießen und in die Luft sprengen konnten. Im Winter erbarmungslos froren und hungerten, während im rückwärtigen Offizierskasino die Sahne floss. Widerwärtig. Verbrecherisch.
Eine Südfront im Ersten Weltkrieg gab es erst im zweiten Kriegsjahr, als die Entente-Mächte Italien den südlichen Teil Tirols (Österreich) versprachen und italienische Truppen heranrückten – Kriegsziel Brenner. Das deutsche Kriegsziel waren die...