Der Sonnenuntergang des Aton
Im Verlaufe dieses Buchs werden wir vielen Beispielen begegnen, die eine der vier Erzählungen am Werk zeigen. Doch es gibt keinen besseren Ausgangspunkt als die Ufer des Nils, denn dort erreichte das Streben nach Unsterblichkeit eine beispiellose Perfektion und Pracht. Die Zivilisation des alten Ägypten überdauerte nahezu unverändert gut dreitausend Jahre. Und selbst nach der Eroberung Ägyptens – zuerst durch die Perser, dann durch die Armeen Alexanders des Großen und schließlich, nach Kleopatras berühmtem Selbstmord, durch die Römer – übte sie weiterhin einen gewaltigen kulturellen und religiösen Einfluss aus. Bei Griechen und Römern stand Ägypten für uralte Weisheit. Man hatte das ausgeprägte Gefühl, die Ägypter hätten zu einer Wahrheit gefunden, nach der andere Kulturen noch mühevoll suchten.
Das ägyptische Pantheon ging erst endgültig unter, als die römischen Eroberer sich 380 n.Chr. massenhaft einem anderen Unsterblichkeitssystem zuwandten – dem Christentum, das dann wenige Jahrhunderte später in Ägypten von einem engen Verwandten, dem Islam, verdrängt wurde. Diese Dauerhaftigkeit und Attraktivität verdankte das ägyptische Weltbild seiner vollkommenen Unsterblichkeitserzählung. Und diese Erzählung war zum Teil deshalb so eindrucksvoll, weil sie in ihrer lebenssprühenden Mythologie alle vier Grundformen zu einer einzigen Erzählung verwob. Wie schon angemerkt, sind auch heute noch alle vier Erzählungen präsent – allerdings als Alternativen und nicht als einheitliche Geschichte. Auch in anderen Kulturen finden sich alle vier Erzählungen, doch dort stehen eine oder zwei von ihnen im Vordergrund. Nur im alten Ägypten verband man alle vier zu einer einzigen verführerischen Geschichte. Sie ist ein Beispiel für die religiöse Phantasie des Menschen und für eine allseitige Absicherung des Weges zur Unsterblichkeit.
Deshalb traf Haremhab – der Pharao, der sich daranmachte, Nofretete zu vernichten – alle erdenklichen Vorkehrungen. Die alten Ägypter konnten auf allen vier Wegen versuchen, ihre natürliche Lebenszeit zu verlängern. Obwohl sie vor allem für ihre kunstvolle Einbalsamierungstechnik berühmt sind, waren sie doch auch sehr darauf bedacht, den elementarsten Weg zu gehen und zunächst einmal weiterzuleben. Sie verfügten über ein hochentwickeltes System aus Medizin und Magie, das Alter und Krankheit fernhalten sollte. Kräuter, Zaubersprüche und Amulette sollten deren Anwender und Träger so lange wie möglich und bevorzugt auf ewig am Leben erhalten – in zahlreichen Papyri geht es in erster Linie um die Verlängerung des Lebens und eine Umkehrung des Alterns. Trotz der vielen Darstellungen, die farbenprächtig zeigen, wie man das Beste aus dem Tod macht, war das Weiterleben doch weitestgehend Plan A.
Da diese Taktik ganz offensichtlich ihre Grenzen hatte, setzte man seine Hoffnung in die Auferstehungserzählung. Die alten Ägypter unternahmen gewaltige Anstrengungen, um Leichen fachgerecht zu konservieren, in dem Glauben, sie eines Tages auf magischem Wege wiederbeleben zu können. Dieser Aufgabe widmete sich eine riesige Industrie, die man den Priestern anvertraute. Sie ließen die Körperflüssigkeiten ab, entfernten die weichen Organe, um sie gesondert zu präparieren, und entzogen der Leiche schließlich mit Natron, einem natürlich vorkommenden Salz, alle Feuchtigkeit. Dann stopften sie den Körper mit Tüchern und Sägemehl aus und umwickelten ihn mit Hunderten von Metern Leinen, das gelegentlich zur Abdichtung mit Harz oder Bitumen getränkt war (so entstand die Bezeichnung »Mumie«, die von dem persischen Wort für Bitumen, »mum«, abgeleitet ist).
Die Bedingungen bei der Präparierung waren alles andere als steril – so hat man in den Leinenbandagen Maden, Käfer und sogar Mäuse gefunden. Und die Priester waren durchaus nicht immer vertrauenswürdig. Wie der griechische Historiker Herodot berichtete, übergab man die Leichen junger Frauen den Einbalsamierern erst, wenn die Verwesung bereits begonnen hatte, um zu verhindern, dass sie ihre Privilegien missbrauchten. Der ganze Vorgang dauerte siebzig Tage und gipfelte in der Zeremonie des »Mundöffnens«, in der man den Verstorbenen auf magischem Wege wiederbelebte (auch wenn sich dessen Handlungsfähigkeit natürlich auf das Jenseits beschränkte). Die Pyramiden – die nur in einer kurzen, relativ frühen Phase der ägyptischen Geschichte errichtet wurden, da sich zeigte, dass sie allzu viel Anziehungskraft auf Grabräuber ausübten – wurden an den Stellen erbaut, an denen man das Jenseits angesiedelt glaubte, damit deren Bewohner auf kürzestem Wege dorthin gelangen konnten.
Doch die alten Ägypter legten ihre Hoffnungen nicht nur in den Körper. Sie besaßen auch eine Version der dritten Erzählung, der Seele. Wie viele andere Völker der Antike glaubten sie an mehrere Seelen, deren wichtigste ka, die Lebenskraft, war. Sie wurde dem Menschen im Augenblick seiner Geburt von den Göttern eingehaucht und befähigte ihn, Kinder hervorzubringen – so etwas wie sexuelle Potenz oder das von Bluessängern so genannte »Mojo«. Nach dem Tod lebte ka in der Mumie fort und benötigte eine beständige Versorgung mit Nahrung. Deshalb war es ganz entscheidend, dass Freunde und Verwandte Speisen an das Grab des Verstorbenen brachten, von denen ka sich ernähren konnte – wobei natürlich nur die spirituellen Bestandteile dieser Nahrung aufgenommen wurden und nicht die materiellen, die man großzügig den Priestern überließ.
Wie wir gesehen haben, bestand die vernichtendste Strafe darin, den oder die Verstorbene aus der Geschichte zu tilgen – die Römer bezeichneten dies als damnatio memoriae. Schließlich maßen auch die alten Ägypter der vierten Erzählung, dem Vermächtnis, entscheidende Bedeutung für das Überleben bei. In ihren Augen gehörten Name und Ansehen zu den elementaren Bestandteilen eines Menschen. Wenn er in der nächsten Welt ein volles Leben führen soll, müssen auch sie bewahrt werden. Deshalb unternahmen die Ägypter große Anstrengungen, um den eigenen Namen lebendig zu erhalten. Sie schrieben ihn, wie es heute Graffitisprayer tun, auf nahezu alles, was sich finden ließ – von Grabwänden über Gefäße bis hin zu Kämmen. Vor allem aber erwarteten sie, dass Freunde und Verwandte ihrer gedachten und ihre Namen priesen, wenn sie ihrem ka Speisen brachten. Solange der Name noch genannt wurde und die Monumente noch standen, lebte, so glaubten sie, zumindest ein Teil noch fort.
Wenn all diese Komponenten zusammenkamen, erwartete die alten Ägypter ein glorreiches und ewiges zweites Leben. Wurden sie dagegen zerstört, vernachlässigt oder vergessen, war der Verstorbene zu endgültiger Auslöschung verdammt – zu jenem »zweiten Tod«, den alle Ägypter fürchteten. Das war die Strafe, die Haremhab über Nofretete und ihren Mann, den Pharao Echnaton, verhängte. Für welches Verbrechen? Sie hatten das alte ägyptische Unsterblichkeitssystem für sich allein beansprucht.
Als der Archäologe Ludwig Borchardt Nofretete im Wüstenboden entdeckte, erblickte er eine lebensgroße Büste der Großen Königin in ihren besten Jahren. Ihr langer, schlanker Hals erhebt sich über einem äußerst fein herausgearbeiteten Halsband. Ihre Lippen sind voll, ihre Augen groß und mit verführerischem Lidstrich nachgezeichnet. Ihr Gesicht ist eingerahmt von einer einzigartigen blauen Krone, die die Linie ihrer Wangen und Schläfen fortsetzt. Sie strahlt Autorität und Selbstbewusstsein aus. Sie wirkt zugleich entschlossen und rätselhaft. Es ist ein Bild der Macht und der Schönheit, das heute noch ebenso kraftvoll wirkt wie vor mehr als dreitausend Jahren, als die Büste geschaffen wurde.
Damals um 1380 v.Chr. besaß sie eine Stellung und einen Einfluss, wie sie in der langen Geschichte Ägyptens noch keine Frau besessen hatte. Nofretete, deren Name »Die Schöne ist gekommen« bedeutet, war nicht nur die Große Königin des Pharao, seine Hauptfrau und Mutter von sechs gemeinsamen Töchtern – sie war ihm ebenbürtig. Zeitgenössische Darstellungen zeigen sie neben ihm im Kampf, im Streitwagen und bei der Huldigung der Götter.
Der Pharao Echnaton war dagegen eine eher komische Figur, mit dürren Beinen und Kugelbauch – weit entfernt vom ägyptischen Ideal des breitschultrigen Kriegers. Als Oberhaupt des Staates und der Religion – beide untrennbar miteinander verbunden – fiel ihm in der Unsterblichkeitserzählung eine entscheidende Rolle zu: Man erwartete von ihm, dass er die Rituale und Zeremonien leitete, die den Kosmos im Gleichgewicht hielten, und dass er seinem Volk damit den Durchgang durch diese und den Übergang in die nächste Welt sicherte. Doch er und seine mutige, schöne Frau hatten andere Vorstellungen.
Anfangs vernachlässigten sie lediglich die übrigen Götter und bauten stattdessen gewaltige Tempel für den zuvor obskuren Gott Aton, der mit der Sonnenscheibe assoziiert wurde. Nach fünf Jahren auf dem Thron brachen sie jedoch vollständig mit den alten Traditionen, gaben die alte Hauptstadt Theben auf und gründeten eine neue, der sie den Namen Achetaton gaben – »Horizont des Aton«. Diese prachtvolle, innerhalb weniger Jahre auf einer staubigen Ebene errichtete Stadt war voll von Bildwerken, die Echnaton und Nofretete im Licht der Sonne badend zeigen, ihres Gottes, dessen Strahlen ihnen ein »Anch« reichen, das kreuzförmige Symbol ewigen Lebens. Darunter findet sich in Hieroglyphen die Inschrift: »Mögen sie ewig leben«. Aber auch das war noch nicht genug, und als sie erst...