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E-Book

Die Modernisierung der Seele

Kind-Familie-Gesellschaft

AutorMartin Dornes
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl528 Seiten
ISBN9783104017150
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Kinder und Eltern haben derzeit eine schlechte Presse. Kinder sind angeblich entweder verwöhnt und tyrannisch oder verwahrlost und gewalttätig. Eltern setzen angeblich keine Grenzen , fordern die Kinder zu wenig oder fördern sie falsch. Trotz guten Willens seien viele Eltern einfach überfordert. Der Autor untersucht den Realitätsgehalt dieser Meinungen; sein Ergebnis: Kinder und Eltern sind besser als ihr Ruf.

Martin Dornes (1950-2021) , promovierte in Soziologie, habilitierte sich in psychoanalytischer Psychologie und arbeitete in Psychiatrie, Psychosomatik, Sexualmedizin und Medizinischer Psychologie. Von 2002 bis 2014 war er Mitglied im Leitungsgremium des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Im Fischer Taschenbuch Verlag ist u.a. von ihm erschienen ?Der kompetente Säugling? (16. Aufl. 2015), ?Die emotionale Welt des Kindes? (6. Aufl. 2014), ?Die Modernisierung der Seele. Kind-Familie-Gesellschaft? (2012), sowie zuletzt ?Macht der Kapitalismus depressiv?? (2016).

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Leseprobe

Einleitung


Seit Ende der 1960er Jahre ist in vielen Familien eine Veränderung der Erziehungseinstellungen und -praktiken zu beobachten, die man in Kurzform als Verschiebung »vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt« kennzeichnen kann. Nicht nur die Beziehung zwischen den Geschlechtern ist egalitärer geworden, sondern auch die zwischen Eltern und Kindern. Diese »Demokratisierung« der Eltern-Kind-Beziehung hat zu vielerlei Hoffnungen und Befürchtungen Anlass gegeben, wobei in jüngster Zeit die Befürchtungen zu überwiegen scheinen. Kinder und Jugendliche sollen unter dem Einfluss einer liberalisierten Erziehung zunehmend aus dem Ruder laufen: Verhaltensstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Aggressivität und Gewalttätigkeit sowie subklinische Phänomene wie Unhöflichkeit, Mangel an Leistungsbereitschaft und Anspruchshaltung sollen das Ergebnis einer übermäßig nachgiebigen Erziehung sein, welche die Kinder schlapp, verwöhnt und undiszipliniert macht und damit ihre Entwicklung bedroht.

Auch andere Faktoren wie Patchworkfamilien, Einelternfamilien, mütterliche Berufstätigkeit und der wachsende Einfluss aggressiv oder sexuell aufgeladener Mediendarstellungen geben Anlass zur Besorgnis. Gehetzte, zeitknappe oder interesselose Eltern »parken« ihre Kinder vor diesen Medien, und die Kinder reagieren darauf mit den beschriebenen Symptomen: Sie werden dumm, dick, faul, traurig, aggressiv, alles zusammen oder von jedem etwas. Eine oft zu hörende psychoanalytische Diagnose lautet, dass ihr »psychischer Apparat« aus den Fugen gerät: Das Es wird ansprüchlich, das Überich lückenhaft, das Ich sublimierungsunfähig. Psychostrukturell gesprochen beobachten wir eine »Regression«, psychosozial eine Zunahme seelischer Auffälligkeiten und Abweichungen.

Dieses Szenario exploriere ich im ersten Kapitel und komme zu dem Ergebnis, dass solche Befürchtungen überwiegend unbegründet sind. Die meisten Kinder und Jugendlichen entwickeln sich gut, fühlen sich in ihren Familien wohl, verbringen genug Zeit mit ihren Eltern und Freunden, sind mit der Art, wie sie erzogen werden, zufrieden, haben genügend Zeit für sich selbst, sind in Schule und Freizeit nicht gestresst, kommen mit den neuen Medien gut zurecht und liefern insgesamt wenig Gründe für pessimistische Einschätzungen.

Im zweiten Kapitel gehe ich entsprechenden Befürchtungen in Bezug auf die Erwachsenen nach. Sind sie narzisstisch, zu Symbolisierung und Triebaufschub zunehmend unfähig, vom Jugendwahn befallen, dem Körperkult in Gestalt schönheitschirurgischer Eingriffe verhaftet, schlucken sie Pillen, um ihre Probleme zu lösen, und erliegen so einer »Abfuhrkultur« und Sofortbefriedigungsmentalität, die sie von der langfristigen Lösung ihrer Probleme abhält? Auch hier zeige ich, dass das Gesamtbild weniger furchteinflößend ist und die Erwachsenen reifer sind, als ihnen in der einschlägigen Literatur nachgesagt wird.

Nachdem solcherart das Szenario einer regressiven Entdifferenzierung der Seele abgehandelt ist, wende ich mich im dritten Kapitel ihrem Gegenteil zu, der Theorie progressiver Differenzierung. Sie besagt, dass in Anbetracht tiefgreifender Enttraditionalisierungs- und beschleunigter Modernisierungsschübe der ständige Umbau der Persönlichkeit in den Vordergrund tritt. Er wird unter dem Begriff der Selbsterfindung behandelt, welche das Ziel der Selbstbefreiung abgelöst oder zumindest überlagert haben soll. Die Psyche befindet sich dieser Sichtweise zufolge in einem nicht nur erzwungenen, sondern auch erwünschten Prozess ständiger kreativer Selbsttransformation, die Identität wird patchworkartig, das Selbst situativ oder transitorisch, was von den einen begrüßt, von den anderen bedauert wird. Ich halte die Nachricht vom Verschwinden fester Persönlichkeitsstrukturen für übertrieben und arbeite neben den Stärken die meines Erachtens wesentlichste Schwäche der Selbsterfindungstheorie heraus: Sie überschätzt das Ausmaß der neuen Freiheiten ebenso wie die Fähigkeit zur Selbstgestaltung. Kehrseitig unterschätzt sie sowohl die Bedeutung sozialstruktureller Restriktionen für die Möglichkeiten der Selbsterfindung als auch den sie begrenzenden Einfluss frühkindlicher Erfahrungen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die Entwicklung der Persönlichkeit von den Beziehungserfahrungen in der frühen Kindheit abhängt und dass späteren Persönlichkeitsveränderungen engere Grenzen gesetzt sind, als die Theorie der Selbsterfindung annimmt.

Im vierten Kapitel befasse ich mich mit dem Wandel der Adoleszenz sowie erneut mit der Frage, welche Probleme sich mit der Erziehungsliberalisierung und der sie begleitenden Entkonfliktualisierung der Eltern-Kind-Beziehung ergeben haben. Ein wesentliches Problem soll im Autoritätsverlust der Eltern bestehen, der durch übermäßige Nachgiebigkeit, Konfliktscheu und Erziehungsvermeidung hervorgerufen wird. Er soll kuriert werden durch eine Rückkehr zu mehr Disziplin. Ich »dekonstruiere« diese Idee und spezifiziere, was unter einer demokratischen Erziehung zu verstehen ist. Außerdem gebe ich einen Überblick über die Vorkommenshäufigkeit von gravierenden Erziehungsproblemen. Abschließend versuche ich zu klären, warum in Erziehungsdebatten – unbegründeterweise – meist Katastrophenszenarien vorherrschen.

Im fünften Kapitel gehe ich der Frage nach, wie Kinder und Jugendliche unter modernen Bedingungen des Aufwachsens, in denen die Eltern stärker Emotionseltern sind als früher und weniger Rollenvorbilder, die für ein Leben in der Gesellschaft vorbereiten, überhaupt noch in die Gesellschaft integriert werden. Ich behandle Befürchtungen, die besagen, der Prozess der Individualisierung und Pluralisierung habe dazu geführt, dass sich jeder nur noch um sich selbst kümmert, eine Ellenbogenmentalität entwickelt hat und soziales Engagement vermissen lässt, weshalb der soziale Zusammenhalt verlorengehe. Auch hier komme ich zu anderen Ergebnissen, unter anderem dem, dass der wachsende Individualismus kooperativ, nicht egozentrisch ist, soziales Engagement kausal hervorbringt und nicht zu dessen Niedergang beiträgt. Dadurch wird der Wegfall von Traditionen hinsichtlich möglicher negativer Folgen für die Sozialintegration kompensiert, und es wird verhindert, dass sich spätmoderne Gesellschaften in eine Ansammlung von Monaden verwandeln.

Im sechsten Kapitel frage ich zunächst, ob liberalisierte Erziehungs- und Sozialisationspraktiken zu einem Gewinn an Autonomie geführt haben oder nicht auch zu allerlei Fehlentwicklungen, wie sie unter Stichworten wie »fürsorgliche Belagerung«, »Hotel Mama«, »Parentifizierung«, »Kind als Projekt« etc. thematisiert werden. In diesen Konzepten wird die Befürchtung angesprochen, zuwendungsorientierte und demokratisierte Erziehungsweisen würden die kindliche Autonomieentwicklung gefährden. Träfe dies zu, so wäre die ursprüngliche Absicht, die mit ihnen verbunden war, nämlich Selbständigkeit und freie Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern, als »Schuß nach hinten« losgegangen. Die Befundlage hierzu ist komplex, deutet aber insgesamt in Richtung einer autonomieförderlichen Wirkung moderner Erziehungsmethoden. Danach wende ich mich der Frage nach den psychostrukturellen Folgen dieser Erziehung zu und postuliere, in Abgrenzung von den bekannten Typen der autoritären Persönlichkeit (Adorno et al. 1950) und des narzisstischen Sozialisationstyps (Ziehe 1975), eine »postheroische Persönlichkeit«. Ich beschreibe ihre Merkmale und stelle das Problem in den Mittelpunkt, ob ihre wesentlichen Eigenschaften, nämlich die größere Flexibilität und größere innere Freiheit und Lebendigkeit, nicht um den Preis einer größeren Labilität und Verletzlichkeit erkauft werden. Der Verlust von Charakterstarre ginge dann mit einem Verlust von Charakterstärke und Belastbarkeit einher. Dies ist teilweise der Fall, weshalb ich diese Entwicklung als ambivalent betrachte.

Im siebten Kapitel behandle ich einige mögliche Einwände gegen den von mir behaupteten Zusammenhang von Erziehungswandel und Persönlichkeitswandel. Manche Theorien und Autoren gehen nämlich davon aus, dass die psychische Strukturbildung Eigengesetzlichkeiten gehorcht und deshalb kulturelle Veränderungen die Persönlichkeit in ihren Tiefenstrukturen nicht nachhaltig affizieren, sondern nur deren Oberfläche und Erscheinungsbild verändern. Diese Behauptung einer Tiefenstrukturkonstanz bei bloß symptomatischem Oberflächenwandel hat Vor- und Nachteile, die gegeneinander abgewogen werden. Die Nachteile überwiegen, so dass in der bis zu diesem Punkt entwickelten »Vierfelderwirtschaft« (regressive Entdifferenzierung, progressive Differenzierung, ambivalente Entwicklung, Strukturkonstanz bei Oberflächenwandel) das dritte Szenario einer ambivalenten Entwicklung am meisten überzeugt. In ihm ist, trotz aller Ambivalenz, insgesamt eine »Nettofortschrittsdiagnose« bezüglich des kindlichen Wohlbefindens enthalten.

Im achten Kapitel befasse ich mich mit einer der wichtigsten Herausforderungen für eine solche Diagnose, nämlich der weitverbreiteten Überzeugung, Kinder, Jugendliche und Erwachsene würden unter dem Einfluss moderner Lebens- und Arbeitsbedingungen – die häufig als neoliberal, turbokapitalistisch, leistungshypertrophiert, übermäßig beschleunigt und prekär beschrieben werden – seelisch immer kränker. Ich zeige, warum wir das glauben, obwohl (mich) die Anhaltspunkte dafür nicht überzeugen. Eine der zentralen Ideen in diesem Kapitel ist, dass nicht die Krankheiten zunehmen, sondern die Sensibilität für sie sowie für Befindlichkeitsstörungen,...

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