Zur Einführung
Die Stimme der gesellschaftlichen Außenseiter Chinas
Als die chinesische Regierung in der Nacht vom 3. Juni 1989 in Peking Panzer einrollen ließ und die Demokratie-Bewegung der Studenten brutal niederschlug, war Liao Yiwu zu Hause, im Südwesten der Provinz -Sichuan. Die Nachrichten erschütterten ihn in den Grundfesten. Über Nacht verfasste Liao ein langes Gedicht mit dem Titel »Massaker« und schilderte in drastischen Bildern die Ermordung unschuldiger Studenten und Bürger, und das so lebendig wie Picasso die Bombardierung von Guernica durch die Nazis.
Ohne Möglichkeit, sein Gedicht in China zu veröffentlichen, sprach Liao Yiwu den Text mit rituellen Gesängen und der heulenden Anrufung des Geistes der Toten auf Band. Die Aufnahme wurde durch Untergrundkanäle in ganz China verbreitet. In einem weiteren Gedicht aus der gleichen Zeit beschreibt er die Frustration, sich nicht wehren zu können:
Du bist geboren mit der Seele eines Attentäters,
Aber wenn es Zeit ist für die Tat,
Bist du verloren, tust nichts.
Du hast kein Schwert zu ziehen,
Dein Körper, die Schwertscheide, ist verrostet,
Deine Hände zittern,
Deine Knochen faulen,
Deine kurzsichtigen Augen taugen nicht für den Schuss.
Das Band mit dem Gedicht »Massaker« und der Film »Requiem«, den er anschließend mit Freunden drehte, riefen die chinesische Sicherheitspolizei auf den Plan. Als er im Februar 1990 einen Zug nach Peking bestieg, fiel sie über ihn her. Sechs seiner Freunde, Dichter und Schriftsteller, und seine schwangere Frau wurden wegen ihrer Beteiligung an seinem Filmprojekt zur gleichen Zeit verhaftet, als Rädelsführer bekam Liao vier Jahre Gefängnis.
Seither steht Liao auf der schwarzen Liste der Regierung. Die meisten seiner Werke sind in China noch immer verboten, wo er unter den wachsamen Augen des Amtes für Öffentliche Sicherheit als Straßenmusiker in einer kleinen Stadt im Südwesten der Provinz Yunnan lebt. In der Vergangenheit wurde er mehrere Male wegen »illegaler Interviews« und der Darstellung der dunklen Seiten der kommunistischen Gesellschaft in seinem dokumentarischen Buch »Interviews mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« verhaftet. Die neunundzwanzig Geschichten, die in diesem Buch erscheinen, wurden aus dieser Sammlung wie aus neueren Texten von chinesischen Webseiten außerhalb Chinas ausgewählt und übersetzt.
Liao ist 1958 im Jahr des Hundes geboren. Es war auch das Jahr, in dem Mao Zedong den Großen Sprung nach vorn initiierte, eine Kampagne, die Chinas rückständige Agrarwirtschaft industrialisieren sollte. Die zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft und die blinde Mobilisierung des Landes zur primitiven Produktion von Eisen und Stahl führte 1960 zu einer Hungersnot, die geschätzte 30 Millionen Menschen das Leben kostete.
Während der Hungersnot litt Liao unter einem Ödem und war dem Tode nah. In ihrer Verzweiflung schaffte seine Mutter ihn aufs Land, wo ein Doktor der Naturheilkunde »mich über einen Wok hielt, in dem ein Kräutersud kochte«. Wie durch ein Wunder machte dieses Dampfbad ihn gesund.
1966 wurde Liaos Familie tief traumatisiert, als sein Vater, ein Lehrer, während der Kulturrevolution als Konterrevolutionär gebrandmarkt wurde. Seine Eltern ließen sich scheiden, um ihre Kinder vor den Auswirkungen dieses Paria-Status des Vaters zu schützen. Das Leben ohne den Vater war hart. Unter seinen Kindheitserinnerungen ist eine, an die er sich noch heute lebhaft erinnert: »Ein Verwandter gab meiner Mutter einen offiziellen Bezugsschein für zwei Meter Stoff. Aber als meine Mutter ihn auf dem Schwarzmarkt verkaufte, um etwas für uns zu essen besorgen zu können, wurde sie von der Polizei gefasst und wurde mit anderen Kriminellen auf der Bühne des Sichuan-Opernhauses vorgeführt. Als einige meiner Mitschüler, die meine Mutter gesehen hatten, mir davon erzählten, war das für mich ein Desaster.«
Nach der höheren Schule reiste Liao durch das Land, arbeitete erst als Koch und dann als Lkw-Fahrer auf der Strecke zwischen Sichuan und Tibet. In seiner Freizeit las er westliche Dichter, die früher verboten gewesen waren, von Keats bis Baudelaire. Außerdem fing er an, eigene Gedichte zu schreiben und in Zeitschriften zu veröffentlichen.
In den achtziger Jahren wurde Liao zu einem der populärsten neuen Dichter Chinas mit regelmäßigen Beiträgen in einflussreichen Literaturzeitschriften und Untergrundpublikationen, in denen Gedichte im westlichen Stil erschienen, für die Regierung ein Zeichen »geistiger Verschmutzung«. Im Frühjahr 1989 nutzten zwei prominente Zeitschriften das zeitweilige politische Tauwetter und brachten Liaos Langgedichte »Die gelbe Stadt« und »Das Idol«. In diesen Gedichten kritisierte er in allegorischen Anspielungen, was er ein System nannte, das von einer kollektiven Leukämie gelähmt und aufgefressen werde. Er behauptete, das Erscheinen von Mao sei das Symptom dieser unheilbaren Krankheit gewesen. Aufgeschreckt durch diese unverhohlen antikommunistische Botschaft, veranstaltete die Polizei bei Liao eine Hausdurchsuchung und unterzog ihn mehreren gründlichen Untersuchungen, Befragungen und kurzzeitigen Inhaftierungen. Auch die Herausgeber der Zeitschriften wurden gemaßregelt; eine Zeitschrift wurde per Anordnung geschlossen.
Liaos Inhaftierung 1990 für seine Verurteilung der Niederschlagung der Demokratiebewegung durch die Regierung im Jahr zuvor war ein Schlüsselerlebnis in seinem Leben. Geächtet und deprimiert, rebellierte er während der vier Jahre seiner Einkerkerung gegen die Gefängnisregeln, was ihm nichts einbrachte als unverhältnismäßige Bestrafungen: mit Elektroknüppeln geschlagen, gefesselt und gezwungen, stundenlang in der heißen Sommersonne zu stehen. Einmal wurden ihm in Einzelhaft die Hände für dreiundzwanzig Tage hinter den Rücken gebunden, bis Abszesse seine Achselhöhlen bedeckten. Er erlitt mehrere Nervenzusammenbrüche und versuchte zwei Mal, sich das Leben zu nehmen. Unter den anderen Insassen war er bekannt als der »große Mondsüchtige«.
1994 wurde Liao auf internationalen Druck 50 Tage vor Ablauf seiner Strafe freigelassen (die chinesische Regierung behauptete, er sei für seine gute Führung belohnt worden). Er kehrte nach Hause zurück, wo er feststellte, dass seine Frau ihn verlassen und ihr gemeinsames Kind mitgenommen hatte. Seine städtische Wohnerlaubnis wurde aufgehoben, wodurch er keine Arbeit mehr bekam und aufs Land vertrieben wurde. Seine früheren literarischen Freunde mieden ihn – aus Angst. Das Einzige, was er besaß, war eine Flöte, die er im Gefängnis zu spielen gelernt hatte. Liao ging durch die lärmenden Straßen Chengdus, seiner Geburtsstadt, und begann von vorne, als Straßenmusiker.
Aber er gab seine literarische Arbeit nicht auf. 1998 stellte er einen Band mit dem Titel »Der Fall des heiligen Tempels« zusammen, eine Anthologie von Untergrundgedichten aus den siebziger Jahren, in der Texte von zahlreichen chinesischen Dissidenten enthalten waren oder erwähnt wurden. Einer der Vizepräsidenten Chinas ordnete persönlich eine Untersuchung des Buches an und bezeichnete es als einen »vorsätzlichen und von mächtigen antichinesischen Gruppierungen unterstützten Versuch, die Regierung zu stürzen«. Er wurde erneut verhaftet und dem Herausgeber ein einjähriges Publikationsverbot erteilt.
Als die chinesische Regierung ihre Nase immer tiefer in seine literarische Karriere steckte, ging es mit Liao weiter bergab, und er nahm Gelegenheitsjobs in Restaurants, Nachtclubs, Teehäusern und Buchhandlungen an. Aber sein Leben in diesen Kreisen erweiterte den Fokus seines Buchprojektes über sozial ausgegrenzte Menschen, mit denen er mittlerweile Freundschaft geschlossen hatte. Die Gespräche mit Mitinsassen im Gefängnis und mit den Menschen von der Straße ließen sein Buch »Gespräche mit Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft« entstehen. Unter den sechzig Interviews, die er für sein Buch zusammenstellte, sind Gespräche mit einem professionellen Trauermusiker, einem Menschenhändler, einem Mörder, einem Bettler, einem Wahrsager, einem Einbrecher, einem Dissidenten, einem Homosexuellen, einem Zuhälter, einem ehemaligen Grundbesitzer, einem Lehrer und einer Falun-Gong-Anhängerin. Wie der Autor selbst, wurden seine Protagonisten entweder während der verschiedenen politischen Säuberungen in der Mao-Zeit auf die unterste Stufe der Gesellschaft hinabgeschleudert, oder sie landeten dort als Resultat der tumultartigen Prozesse, in denen sich die chinesische Gesellschaft heute entwickelt.
Die Interviews sind literarisch und journalistisch zugleich – eher Rekonstruktionen der Treffen mit seinen Gesprächspartnern als reine Wiedergaben. Da die Gespräche eine spezielle Sensitivität und Geduld erforderten, verzichtete er manchmal auf gewöhnliche Hilfsmittel wie Kassettenrekoder oder Notizbuch. Ob im Gefängnis oder auf der Straße, Liao verbringt immer eine beträchtliche Zeit mit seinen Partnern und versucht, ihr Vertrauen zu gewinnen, bevor er mit einem Interview beginnt. Für ein Gespräch mochten drei, vier Treffen zu verschiedenen Gelegenheiten notwendig sein. Zum Beispiel interviewte er einen Bestattungsunternehmer sieben Mal und baute diese Gespräche zu einem einzigen zusammen.
2001 brachte der Yangzi-Verlag eine gereinigte und gekürzte Fassung seines Buches heraus, die sofort ein Bestseller wurde. Yu Jie, ein bekannter unabhängiger Literaturkritiker in Peking, bezeichnete das Buch als den »investigativen...