Am Dienstag habe ich meinen Vater zersägt
Plötzlich waren sie weg – die täglichen Geräusche vom Grundstück der Familie M. Die Schuppentür klapperte nicht mehr, die Straße wurde nicht gefegt, das Auto nicht bewegt. Mit den Geräuschen fehlte auch das Ehepaar selbst. Nicht, dass man Manuela und Manfred M. besonders gemocht hätte. Fast alle Nachbarn hatten den Kontakt zu dem Paar, das gern mal die Polizei holte, auf ein Minimum beschränkt. Aber diese wochenlange Abwesenheit von zwei Menschen, die nie verreisten – da konnte etwas nicht stimmen.
Die Nachbarn behielten recht: Als sie die Polizei alarmierten, waren die sechzigjährige Frau und der siebenundsechzigjährige Mann bereits seit fünf Wochen tot; erstochen und erschlagen vom eigenen Sohn. Als der blasse, hochaufgeschossene Mann vor seine Richter tritt, sind seine Hosen zu kurz, sein beigefarbenes T-Shirt zu weit.
Im Gefängnis hat Marco M. sich die einst welligen und brav gescheitelten Haare abschneiden lassen. Eine lange Nase und ein breiter Mund dominieren sein Gesicht. Trotz der militärischen Frisur wirkt es weich und unsicher.
»Meine Familie gestaltet sich jetzt übersichtlich«, sagt der Achtundzwanzigjährige. Das klingt zynisch, doch es ist ein typischer Marco-Satz: emotionslos und sachlich, ausschließlich an den Fakten orientiert. Sich selbst beschreibt er als verschlossen, ohne besten Freund, ohne Freundin. »Ich bin nicht der übliche Partygänger«, ergänzt er mit leiser Stimme und ernster Miene. Dann schaut er schweigend zum Vorsitzenden Richter, bis der ihm wieder eine Frage stellt.
So arbeiten sich Gericht und Angeklagter durch eine Familiengeschichte, die in den achtziger Jahren in einer ostdeutschen Kleinstadt begann. Mutter Manuela hatte an einer Fachschule studiert und arbeitete in einem nahe gelegenen Werk, genau wie sein Vater, der dort die Anlagen wartete. Dort hätten sich die Eltern kennengelernt, erzählt der Sohn dem Gericht. Die Nachbarn dagegen berichten, schon der Vater sei ein Einzelgänger gewesen, den Mutter und Oma vom Leben fernhielten. Die Mütter der dominanten Manuela und des introvertierten Manfred waren Kolleginnen und hätten die Beziehung arrangiert.
Marco M. wurde am neununddreißigsten Geburtstag seines Vaters geboren. Seine Mutter war damals »zweiunddreißigeinhalb«, so der Angeklagte. Das Baby hatte missgebildete Füße und wurde in den folgenden Jahren oft operiert – mit mäßigem Erfolg.
Seine ehrgeizige Mutter muss sich an diesem Manko schuldig gefühlt haben, vermutet der psychiatrische Gutachter, den das Gericht bestellt hatte, um die Schuldfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen. Manuela M. wollte damals alles tun, um die Ungerechtigkeit der Natur auszugleichen, und nahm die Kindererziehung selbst in die Hand. Von einer Freundin besorgte sie sich ein Fachbuch und blieb mit ihrem Sohn bis zu dessen Einschulung zu Hause. Später dann, als Marco die fünfte Klasse besuchte und sein Notendurchschnitt von 1,2 auf 1,5 abrutschte, gab es zu Hause »Schule nach der Schule«. Intensiv habe seine Mutter alle Arbeiten kontrolliert, bis die »Schwächephase« überwunden war, so der Angeklagte.
Er und seine Eltern blieben meist unter sich. Mit den Nachbarn hatte man sich weitgehend zerstritten, genauso mit den wenigen Verwandten. Das Familienleben spielte sich in einer verschlossenen Doppelhaushälfte ab, die auf einem von Pflanzen überwucherten Grundstück stand. Mit Gleichaltrigen kam der Junge kaum in Berührung, er besuchte keinen Kindergarten und später auch keinen Schulhort. Selbst die Unterrichtspausen verbrachte er allein. An Hänseleien kann er sich nicht erinnern. Möglicherweise war er für seine Mitschüler einfach nur Luft. Nach der Schule wurde er immer vom Fahrdienst abgeholt. Verspätete der sich mal um Minuten, hätten sich die besorgten Eltern bereits erkundigt, berichtet eine Zeugin.
Mit dem Untergang der DDR verloren Manuela und Manfred M. ihre Arbeit. Spartanisch lebten sie nun von staatlicher Unterstützung. »Die Eltern wirkten wie Senioren, die das Arbeitsleben hinter sich gelassen haben, wie die Großeltern ihres Sohnes, sehr gesetzt«, so empfand es ein Zeuge, der das Ehepaar zehn Jahre vor dessen Ermordung einmal gesehen hatte.
Die M.’s waren von der neuen Gesellschaftsordnung enttäuscht. Permanent schimpften sie darüber und schotteten sich noch mehr von der als bedrohlich empfundenen Außenwelt ab. Auch untereinander bestimmten Vorwürfe das Familienklima. Als seine Mutter an Brustkrebs erkrankte, machte sie ihren Mann dafür verantwortlich, erinnert sich der Sohn, der damals dreizehn Jahre alt war. »Danach hat sie sich immer mehr zurückgezogen.« Dennoch hatte sie das Sagen in der Familie. »Dann kam der Sohn, dann eine Weile nichts, dann erst kam der Manfred«, erinnert sich ein früherer Kamerad des Vaters. Streit habe man von den M.’s nicht mitbekommen. »Wie auch?«, meint der Angeklagte, »Streit heißt ja, wenn beide etwas sagen.« Man habe nur wenig miteinander gesprochen, eher als Wohngemeinschaft nebeneinanderher gelebt.
Bizarr wirken die Beobachtungen der wenigen Zeugen, welche die Familie etwas näher kannten. Für sich allein genommen sind sie wenig bedeutsam – erst in der Summe erschrecken sie. Da war der Kinderwagen, der unter einem Pflaumenbaum stand. »Die Mütter der Umgebung sind fast ausgerastet, als der Marco darin lag und stundenlang schrie«, sagt ein Nachbar aus. Da war das sommerliche Grillen, bei dem der Vater das Fleisch im Garten briet. War es fertig, verspeiste man es nicht etwa im Freien, sondern im Haus, in dem sich die Familie förmlich verschanzte. Da waren die irrsinnigen Vorräte, welche die Familie im Keller ihres Hauses hortete: »Man hätte jahrelang leben können, ohne zu verhungern«, meint ein Polizeibeamter. Da war das tägliche Ritual an der Gartenpforte, die der Vater morgens und abends für seinen Sohn aufsperrte und hinter ihm wieder verschloss. Minuten, bevor der Junior von der Uni nach Hause kommen musste, hielt der Senior am Gartenzaun nach ihm Ausschau, beschreibt ein Nachbar die Szene. »Der Vater schloss das Tor auf. Der Sohn schaute ihn beim Hereinlassen gar nicht an. Wortlos ging er an ihm vorbei.«
Der Hausarzt der Familie wunderte sich, wie selbstverständlich die Mutter den jährlichen Besuchen des mittlerweile erwachsenen Sohnes beiwohnte, ohne dass dieser protestierte. »Was hätten Sie erwartet, wenn Sie die Frau herausgeschickt hätten?«, erkundigt sich der psychiatrische Gutachter. Der Befragte glaubt: »Das wäre schwierig gewesen, das hätte sie nicht akzeptiert.« Isoliert, bevormundet und quasi eingesperrt lebte Marco M. zeit seines jungen Lebens, so empfanden es fast alle Zeugen.
Nach dem Abitur, das er nach eigener Aussage mit einem Durchschnitt »unter Zwei, mit Schwächen in Musik und Kunst« bestand, wollte er gern Chirurg werden: »Aber man war der Meinung, dass mich das Stehen körperlich überfordern würde«, erklärt der Angeklagte. »Man«, damit ist »Mutti« gemeint. Sie hätte dann Jura »als Ersatzkandidaten ins Spiel gebracht«. Die arbeitslose, als zänkisch verschriene Frau, die gerichtliche Auseinandersetzungen mit ihren Mitmenschen nicht scheute, wünschte sich für ihren Sohn eine Tätigkeit als Anwalt.
Schon bald aber zweifelte der Student an der Wahl seiner Fachrichtung. »Für mich ist ›eins und eins gleich zwei‹ und nicht ›vielleicht zwei‹ oder ›von bis zwei‹«, erklärt er dem Richter seine Probleme mit Fachgebieten, deren Ergebnisse diskutabel sind. »Das kriege ich einfach nicht zusammen.«
Beinahe scheiterte sein Studium an einer Zwischenprüfung, wäre bei der Nachprüfung nicht ausgerechnet das drangekommen, was er gelernt hatte. Sonst hätte sich das Problem von selbst erledigt und der Student nicht unter solchem Druck gestanden. Vielleicht würden seine Eltern dann noch leben.
So aber machte er tapfer weiter, getreu dem Familien-Motto: »Was man einmal begonnen hat, muss man auch beenden.« Einem Händler, der dem Hobbyinformatiker zehn Jahre lang Computerzubehör verkaufte, fiel auf, wie bedrückt Marco M. in dieser Zeit war. »Er kam immer mit einem schweren Rucksack zu mir. Wenn er den abnahm, hatte man das Gefühl, er hat den immer noch auf.« Nur als sein Kunde im siebten Semester einen LKW-Führerschein gemacht hatte und kurzzeitig für eine Spedition arbeitete, veränderte er sich: »Er wirkte offener, hatte strahlendere Augen, einen festen Händedruck, wuschelige Haare und war besser gekleidet. Bald aber wirkte er wieder so bedrückt wie vor dem Lastwagenfahren.« Da hatte Manuela M. ihrem Sohn geraten, sich wieder mehr auf seine universitäre Ausbildung zu konzentrieren.
Nach dreizehn Semestern wollte er das Studium endgültig abbrechen. Vorsichtig sagte er seiner Mutter, Jura spräche ihn nicht richtig an: »Daraufhin sagte Mutti, es gibt immer mal Phasen, da muss man durch.«
Im fünfzehnten Semester erfand der Sohn ein erstes Staatsexamen, das er mit »befriedigend« bestanden hätte. Die Eltern freuten sich sehr. Er solle noch promovieren, schlug ihm seine Mutter vor. Er lehnte ab, das Studium habe doch schon so lange gedauert, außerdem, so log er, müsse er noch eine Forschungsarbeit beenden. Tage später sprach ihn die Mutter wieder auf die Promotion an. Seine erneute Ablehnung strafte sie mit Nichtbeachtung. »Sie sprach mit mir nur das Allernötigste«, erinnert sich der Angeklagte. Kurz danach erlitt Manfred M. einen Schlaganfall. Dieser Umstand verpasste den Lügen etwas längere Beine – für eine Weile stand Vaters Gesundheit im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Das änderte sich, als die Mutter ein knappes Jahr nach dem angeblichen Jura-Abschluss ihren...