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E-Book

Wie wir begehren

AutorCarolin Emcke
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104010830
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wer sind wir? Wer können wir sein, wer wollen wir sein, wenn wir anders sind als die Norm ? Entdecken wir das Begehren oder entdeckt das Begehren uns? Wie frei sind wir, unser Begehren zu leben? Hat es nur eine Form oder ändert es sich, wird tiefer, zarter, radikaler? In ihrem so persönlichen wie analytischen Text schildert Carolin Emcke das Suchen und die allmähliche Entdeckung des eigenen, etwas anderen Begehrens. Sie erzählt von einem homosexuellen Coming of Age, von einer Jugend in den 1980er Jahren, in der über Sexualität nicht gesprochen wurde. Sie buchstabiert die vielen Dialekte des Begehrens aus, beschreibt die Lust der Erfüllung, aber auch die Tragik, die gesellschaftliche Ausgrenzung dessen, der sein Begehren nicht artikulieren kann. Eine atemberaubend ehrliche Erzählung, die gleichermaßen intim wie politisch ist. »Ein eindrückliches Buch über Liebe und Freiheit.« Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung »Carolin Emcke (...) arbeitet mit einer gedanklichen und sprachlichen Präzision, die ihresgleichen sucht, und einem intellektuellen Mut, der bewundernswert ist.« Heribert Prantl

Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«.Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University.Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ?Von den Kriegen. Briefe an Freunde?, ?Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF?, ?Wie wir begehren?, ?Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit? sowie ?Gegen den Hass?.»Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben.«Elisabeth von Thadden, Die Zeit»Gut also, dass mit dem Friedenspreis [...] eine Autorin ausgezeichnet wird, die erfolgreich an der moralischen Aufladung der politischen Auseinandersetzung des öffentlichen Geredes arbeitet.«Jens Bisky, Süddeutsche ZeitungLiteraturpreise:»Das Politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005)Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises (2006)Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay für den Beitrag »Stumme Gewalt«, erschienen im »ZEITmagazin« vom 06.09.2007 (2008)Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2010Deutscher Reporterpreis 2010 für die beste ReportageJournalistin des Jahres 2010 (ausgezeichnet vom ?medium magazin?)Journalistenpreis für Kinderrechte der Ulrich-Wickert-Stiftung 2012Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache (2014)Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2015)Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur (2015)Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016)

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Leseprobe

»So quälte ich mich mit der Welt,

dass ich begann, mir Sprichwörter auszudenken.

Lange Wahrheiten gibt’s und kurze.

Und folgt die Strafe nicht auf dem Fuß,

musst Du die Schuld ableben durchs Leben.«

Jan Skácel

Vielleicht ist das der Grund für diese Geschichte. Vielleicht muss sie so beginnen: mit der Schuld, einer Schuld, die sich nicht abtragen, sondern nur ableben lässt durchs Leben. Vielleicht ist es eine Illusion, dass sich Schuld abbauen ließe, als sei sie aus Erz oder Kohle, als ließen sich Brocken herausschlagen, kleine Klumpen, die fortgetragen, zerkrümelt, aufgelöst werden könnten. Vielleicht gehört das Erzählen so zum Leben wie das Schweigen zum Tod. Und vielleicht lässt sich nur so, erzählend, die lange Wahrheit dieser Geschichte begreifen.

*

Warum gerade wir ausgewählt wurden, weiß ich nicht. Die anderen Schüler, vor allem die Jungen, standen um uns herum und stichelten. Vielleicht waren es außer mir auch nur Jungen. Das wäre mir nicht aufgefallen. Es war eine Zeit, in der die Unterschiede noch nicht besonders relevant waren. Oder zumindest für mich nicht. Sie lauerten wie ein Rudel Wölfe, im unförmigen Kreis, ohne klare Ordnung. Linkisch und bissig wagte sich mal einer, mal ein anderer vor und schubste uns, Daniel oder mich, mit einem Schlag gegen die Schulter: »Na los!«

 

Wir standen am Rand des lehmigen Fussballfeldes, das eigentlich kein richtiges Fussballfeld war, sondern nur eine größere Lichtung im waldigen Hügel, gleich neben dem Schulgebäude. Heutzutage gibt es das vermutlich gar nicht mehr, einen nichtasphaltierten Hof. Damals war der Platz etwas verwildert, neben dem eigentlichen Hof mit den Bänken und Geländern und dem ewig zugigen, grauen Toilettenhäuschen. Es gab zwei Tore ohne Netze und ein Feld ohne Linien.

 

»Na los!«, sie waren erschrocken über den eigenen Mut, ängstlich vor der eigenen Feigheit, immer darauf bedacht, was die anderen von ihnen denken könnten. »Na los, prügelt euch.« Sie schnappten und wichen wieder zurück, jeder beobachtete jeden, die schmächtigen Körper etwas gebeugt, den Kopf tief, etwas zu aggressiv, etwas zu devot, immer auf der Hut, ob sich die Gewalt, die sie gerade auf uns lenken wollten, im nächsten Moment gegen sie selbst kehren könnte, eine Meute aus Kindern.

 

Es war der erste Schultag am Gymnasium. Der Tag hatte in der Turnhalle begonnen. Warum die Begrüßungszeremonie der Neuankömmlinge und die Vorstellung der Klassenlehrer für die drei fünften Klassen nicht in der Aula stattfanden, weiß ich nicht. Wir saßen auf hölzernen Bänken neben unseren Müttern oder Vätern und warteten darauf, welcher Klasse wir zugeordnet würden. Was wir von den Lehrern zu erwarten hatten, ob sie beliebt oder unbeliebt waren, konnten wir heraushören am klatschenden Kommentar der älteren Schüler, die der Veranstaltung aus Langeweile oder Gehässigkeit beiwohnten. Wenn ich es heute recht bedenke, muss es sich für die drei Lehrer, die da am Ende der Halle unter dem Basketball-Korb standen, entsetzlich angefühlt haben. Wie ihre Namen aufgerufen wurden, sie mit lauten Pfiffen oder allzu leisem Applaus bedacht wurden und sie so, schon im Moment der Ernennung zum Klassenlehrer, vor ihren neuen Schülern jede Autorität verloren. Vermutlich waren sie deswegen da, die älteren Schüler, weil dies der einzige Moment im Jahr war, an dem sie sich rächen konnten. Ich weiß noch, dass sie mir ein wenig leidtaten, die Lehrer, die sich da ausliefern mussten. Und ich weiß noch, dass mir diese Atmosphäre des kollektiven Urteils, das ich als solches damals gar nicht hätte benennen können, unheimlich war.

 

Wir verfolgten nur die alphabetischen Namenslisten, warteten unseren Buchstaben ab, hörten unseren Namen und bangten dann, ob auch all die vertrauten Freunde aus der Grundschule genannt würden. Ich hatte Glück. Meine liebsten Spielgefährten aus den vorangegangenen Jahren wurden alle derselben Klasse zugeteilt. Wer die anderen Unbekannten waren, die folgten, war gleichgültig. Entscheidend war nur, nicht allein in diese neue Welt gestoßen zu werden. Dann löste die Versammlung sich auf, die Eltern verabschiedeten sich, und wir gingen in der gerade neusortierten Gruppe hinter der neuen Klassenlehrerin die Treppen zum Gebäude der fünften und sechsten Klassen hinunter. Wir waren etwas abseits, am Fuß des Hügels, in einer eigenen versunkenen Welt, nicht mehr ganz Grundschule, aber auch noch nicht Gymnasium.

 

Und da standen wir nun. An der Ecke von diesem Fußballfeld. Gleich neben dem mit Brennnesseln bewachsenen Abhang. In einer der ersten Pausen. Sie muss eine kurze Pause gewesen sein. Die lange Pause wurde immer als wirkliche Pause, also zum Fußballspielen genutzt. Die kurzen taugten für nichts Halbes und nichts Ganzes. Da unten, bei den Unterstufengebäuden, gab es keinen Bäcker, keine Eisdiele, nichts, wohin man eben mal hätte verschwinden können. Für eine Raucherecke, wie es sie später geben sollte, waren wir zu jung oder zu wenig verwegen. Vielleicht hatten wir auch einfach zu wenig Phantasie, wie sich die Lust an der Grenzüberschreitung ausdrücken sollte.

 

Wir wollten nicht, weder Daniel noch ich. Etwas verstohlen schauten wir uns an. Wir kannten uns ja gar nicht. Von welcher Grundschule Daniel auf dieses Gymnasium gewechselt war, wusste ich nicht. Aber ich wusste, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Er hatte blonde Haare und weit auseinanderstehende grüne Augen. Er war ein bisschen größer als ich, aber nicht viel. Seine Schultern waren eckig. Die Arme etwas zu lang. Aber auch das ist mir damals bestimmt nicht aufgefallen. Schließlich war bei jedem von uns irgendetwas zu lang oder zu kurz, war jeder von uns irgendwie leicht daneben, und sei es nur, weil wir dachten, die anderen könnten das von uns denken. Daniel hatte eine angenehme Erscheinung. Es gab keinen Grund, warum er ausgewählt wurde in diesem Moment am ersten Schultag. Es war wahllos. Es traf einfach uns.

 

Ich wusste nicht richtig, was das sollte, warum wir uns denn schlagen sollten. Daniel hatte mir nichts getan. Es gab kein Motiv. Ich hatte mich schon oft gerauft. Schon an meinem ersten Tag im Kindergarten. An meinem ersten Tag in der Grundschule auch. Grundsätzlich sprach also nichts gegen eine Prügelei am ersten Tag auf dem Gymnasium. Ich habe einen älteren Bruder. Raufen gehörte zum gewöhnlichen Repertoire des Überlebens. Aber ich musste wütend sein über etwas, das der andere getan hatte, was ich gemein fand. Einfach so, ohne angegriffen worden zu sein, auf jemanden loszugehen, das konnte ich nicht. Vielleicht verstand ich auch einfach das Spiel nicht: diesen Versuch einer amorphen Gruppe, in sich eine Hierarchie zu schaffen, diesen Versuch jedes einzelnen Schülers, nur ja nicht selbst im Kreis zu landen, nur nicht selbst getestet zu werden, nur nicht selbst, schon am ersten Tag, ausgegrenzt zu werden. Nur deswegen formten sie diesen Kreis, nur deswegen trauten sie sich so viel zu, weil sie sich nichts zutrauten, nur deswegen brauchten sie diese Situationen, in denen andere als Schwächlinge markiert werden konnten.

 

Als Schwäche konnte allerdings beides gelten: sich zu prügeln wie sich nicht zu prügeln. Wer sich von den anderen aufstacheln ließ, traute sich vielleicht nicht zu, sich gegen die Gruppe zu wehren. Wer sich nicht aufstacheln ließ, traute sich vielleicht nicht zu, gegen einen anderen zu gewinnen. Eine psychische Niederlage das eine, eine physische das andere. Ich gebe zu, dass mich die Aussicht zu verlieren als erfahrene kleine Schwester keineswegs beunruhigte. Das war ich gewohnt. Jede Kraftprobe, jeden athletischen Wettkampf, jede Prügelei verlor ich. Meine ganze Kindheit hindurch. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich die einzelnen Wettkämpfe als besondere Niederlagen empfand, auch wenn sie nur aus einer Aneinanderreihung von Niederlagen bestanden. Ob es mich aus athletischem Ehrgeiz reizte, es zu versuchen, ob es aus Stolz darum ging, gegenzuhalten, das kann ich gar nicht sagen. Vermutlich war ich bloß stur.

 

Wenn ich überlege, warum ich in dieser Situation, damals, am ersten Schultag, keine Angst vor dem Verlieren hatte, kann ich nur ahnen, dass es etwas damit zu tun haben muss, dass ich ja ohnehin immer verlor. Ich glaube, darüber dachte ich nicht einmal nach. Vielleicht war das, die Angstfreiheit, der beste Schutz.

 

Die Szene verging, wie sie entstanden war, plötzlich und wortlos. Weil das Pausenzeichen ertönt oder irgendein Lehrer in der Nähe aufgetaucht war. Alle stoben auseinander. Die Anspannung war verflogen, wie sie entstanden war. Die meisten erinnerten schon am nächsten Tag nicht mehr, dass sie uns hatten aufstacheln wollen. Das war meine erste Begegnung mit ihm.

*

Warum er sich das Leben genommen hat, weiß ich nicht. Ich habe niemanden dazu befragt. Niemanden außer mir selbst. Gewundert habe ich mich nicht. Dabei ist das sonst so üblich. Jemand stirbt durch eigene Hand, und wir tun überrascht. Natürlich war ich erschrocken, als ich Jahre später, Jahre nach diesem ersten Schultag am Gymnasium und einige Zeit, nachdem Daniel unsere Schule verlassen hatte, hörte: »Daniel ist tot.« Da war er noch nicht einmal achtzehn. »Daniel ist tot.« Das klang schäbig. In dem Moment, in dem ich den Satz hörte, ekelte er mich auch schon an. Es war niemals nur ein erschrockener Ton, der angeschlagen wurde mit diesem Satz, immer lag unter der Betroffenheit noch etwas anderes. Erst dachte ich, das Intervall, das ich hörte, wenn über diesen Selbstmord gesprochen wurde, sei die gemeine Lust am Skandal, die mit angestimmt wurde, die voyeuristische...

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