Ein Grillabend mit Tränen
Nie werde ich die Wochen des Sommers 2009 vergessen, als Freunde von mir mit einem leicht heruntergekommenen Bauernhof etwas außerhalb Berlins regelmäßig freitags einen Grillabend veranstalteten, zu dem sich stets dieselben sechs, sieben Leute zusammenfanden. Man hätte an einem Freitagabend in Berlin hundert andere Sachen machen können, trotzdem entschied sich jeder von uns immer wieder aufs Neue zu diesem eher unspektakulären Abend »auf dem Lande«, wobei vielleicht gerade darin der Reiz lag: der Stadt mit ihren Verlockungen und Zumutungen für ein paar Stunden einfach den Rücken zu kehren.
Abgesehen von meiner Freundin und mir bestand die Grillrunde aus: den Gastgebern, Julia und Christian, einem Ehepaar von knapp über 40, sie Kinderpsychologin, er Journalist. Dann Tanja, Anfang 30, Single, sie war die Einzige, die gelegentlich fehlte, sei es, weil sie auf einem Meeting irgendwo auf der Welt sein musste, sei es, weil sie irgendein Date hatte. Dafür kamen Sophie und Nico immer, beide Mitte 30, beide mit wechselnden Jobs und noch weitgehend verwirrt darüber, was sie mit ihrem Leben denn nun eigentlich genau anstellen sollten.
Eines Abends tauchte Sophie alleine auf. Während Christian und ich uns am Grill teils nützlich, teils wichtig machten, verschwanden die Frauen ins Haus und kamen nicht wieder. Irgendwann, als die ersten Zucchinischeiben auf dem Grill langsam beunruhigend dunkel wurden, ging Christian los, um nachzusehen.
Minuten später kamen sie alle in den Garten, und ich erfuhr, was los war: Sophie und Nico hatten sich getrennt. Der Grund erwies sich als erschreckend einfach: Sie wollte Kinder, er nicht, noch nicht. Er war einfach noch nicht so weit. Jetzt hatte sie die Schnauze voll und nach einem langem Hin und Her, von dem wir nichts mitbekommen hatten, einen Schlussstrich gezogen.
»Ist ja schon typisch«, sagte Tanja nach einer Weile, wir saßen mittlerweile am langen Holztisch. Aßen, redeten. Versuchten, Sophie zu trösten. »Alle toben sich aus, keiner bindet sich wirklich, und am Ende bleiben wir Frauen dabei auf der Strecke.« Ich schätze, dass Tanja mit ihrem Job bei einem großen Pharmaunternehmen schon damals mehr als 70 000 oder 80 000 Euro verdiente, jedenfalls mehr als alle anderen in der Runde. Sie hatte ein Dauerabo bei Elitepartner.de und bei ihrer immer verzweifelteren Suche nach einem (einem? dem) Mann ihre astronomischen Ansprüche sukzessive und zähneknirschend heruntergeschraubt, bis dahin ohne Erfolg.
Ich fragte vorsichtig, was sie denn damit meine und ob nicht auch Frauen unter Umständen Spaß daran hätten, sich auszutoben.
Austoben sei ja schön und gut, entgegnete Tanja. »Aber je länger alles unverbindlich bleibt, desto mehr steigt für die Frau das Risiko, dass sie nur ihre Zeit verschwendet mit einem Typen, der sich davonmacht, sobald es ernst wird. Irgendwann steht sie alleine da, oder sie muss sich auf einen Mann einlassen, den sie vielleicht gar nicht so richtig will und den sie dann doch nimmt, weil ihr keine Zeit mehr bleibt.«
Christian, ein langer, schlaksiger Typ, sah Tanja irritiert an. »Und du denkst, Männer hätten mehr Zeit?«, fragte er.
»Ja, sicher«, entgegnete Tanja. »Charlie Chaplin ist noch mit 80 Vater geworden.«[1]
Christian schüttelte den Kopf. »Tja, so einfach ist das also«, sagte er in einem ironisch-sarkastischen Tonfall, woraufhin es unangenehm still wurde. Keiner sprach ein Wort. Auch Tanja schwieg. Vielleicht wurde ihr erst jetzt bewusst, dass ihre Sätze, so recht sie damit aus ihrer Sicht vielleicht hatte, für Christian und Julia einem Schlag ins Gesicht gleichkamen.
Christian und Julia hatten sich nach ihrem Studium mehr oder weniger ausschließlich um ihre Karrieren gekümmert. Erst hatten Kinder nicht in ihren Lebensplan gepasst, dann hatte sich der Plan geändert, zu dem Zeitpunkt jedoch war es bereits, wie ein Besuch beim Arzt bestätigte, zu spät. Jetzt besuchten sie einen Adoptionskurs, den das Jugendamt fordert, um für die Adoption eines Kindes in Frage zu kommen.
Die Diskussion zog sich noch bis weit nach Mitternacht hin, unter einem blassen Sternenhimmel. Als meine Freundin und ich schließlich nach Hause fuhren und über den Abend und unsere Probleme redeten (um nur eins zu nennen: Meine Freundin musste gerade arbeitstechnisch für längere Zeit nach Holland, hatte aber wenig Lust, mich, ihre Freunde und Familie und Berlin zu verlassen), platzte es irgendwann aus ihr heraus: »Warum fällt es uns so schwer, alles richtig zu machen? Eigentlich haben wir doch alle Möglichkeiten, trotzdem sind wir ständig unzufrieden!«
Ich weiß nicht mehr, was ich damals geantwortet habe, ob ich überhaupt etwas halbwegs Intelligentes gesagt habe, wahrscheinlich eher nicht. Ich glaube, ich stimmte, furchtlos und unerschrocken, wie ich bin, meiner Freundin zu. Sie hatte ja auch recht: Eigentlich haben wir wirklich alle Möglichkeiten, eigentlich sollten wir wirklich zufrieden sein. Warum also sind wir es nicht? (Oder sind wir es doch, und wir sind einfach zu verwöhnt, es zu merken?)
Frauen: Mehr Freiheit, mehr Glück?
Ein paar Tage später. Ich hatte immer mal wieder an den Grillabend und die anschließende Heimfahrt gedacht. Ich hatte mich mit Nico getroffen, mir seine Version der Geschichte angehört und darüber gegrübelt, was die Probleme, die an dem Abend zur Sprache gekommen waren, zu bedeuten hatten, ob sie – über die Probleme als solche hinaus – überhaupt etwas zu bedeuten hatten. Hatte es die Liebe in der heutigen Zeit besonders schwer? Hatten wir es besonders schwer, und wenn ja, warum? Worin bestand, auf einen Nenner gebracht, unser Problem? Etwa »nur« darin, dass es für uns schwierig geworden war, Arbeit und Liebe oder Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen?
Ich überlegte, ob das Ganze nicht eine kleine Recherche wert wäre, und fing an, mich in die Sache zu vertiefen, wenn zunächst auch nur halbherzig. Und selbst als ich schon einiges gelesen hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich meine Zeit mit so etwas Trostlosem wie einem Luxus-Lamento verschwendete.
Einem Teil von mir kam es einfach naiv, fast ein bisschen peinlich vor, dass ausgerechnet meine Generation sich mit der Liebe und dem Leben schwertun sollte und zu Frust und Unzufriedenheit neigt. Na gut, wir stöhnen und jammern, etwas, das wir uns als Spezies wohl nie abgewöhnen werden, aber, herrje, stöhnen und jammern wir nicht auf einem verdammt hohen Niveau? Sind wir nicht, alles in allem, in einer weitaus besseren, privilegierteren Lage als die meisten, um nicht zu sagen: alle Generationen vor uns? So manche Angelegenheit ist sicher etwas komplizierter geworden als früher, aber war es früher wirklich besser? Als ob es jemals eine Zeit gegeben hätte, in der die Leute nicht unzufrieden gewesen wären! (Vielleicht, ja wahrscheinlich beschränkte sich die Sache gar nicht auf einen Jahrgang, sondern war mehr ein allgemeines Phänomen hochentwickelter, moderner Gesellschaften.)
Ich stand schon kurz davor, die Angelegenheit wieder fallenzulassen, als in diesem August 2009 zufällig eine Studie erschien, die meine Vorstellungen abermals auf den Kopf stellte. In der Studie untersuchen zwei US-Ökonomen minutiös, wie sich die Lebenszufriedenheit von Frauen und Männern der »westlichen« Welt in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Spätestens seit den 1970er Jahren, entdeckte ich, führen Meinungsforscher nicht nur in den USA, sondern auch in zahlreichen europäischen und anderen Industrieländern Befragungen durch, die Teile der Bevölkerung unter anderem danach abklopfen, wie glücklich sie sind. Mit anderen Worten: Die Frage, ob wir heute zufriedener oder unzufriedener mit unserem Leben sind als noch vor wenigen Jahrzehnten – tiefer in die Vergangenheit gehen die meisten Daten leider nicht –, lässt sich inzwischen empirisch beantworten. Man ist nicht mehr auf Spekulationen oder indirekte Befunde angewiesen, nein, man kann sich einfach ansehen, wie sich die Menschen selbst über ihr Leben geäußert haben.
Als die Wissenschaftler das taten und die Glücksangaben von Männern und Frauen aus den 1970er Jahren bis heute auswerteten, offenbarte sich ihnen ein Ergebnis, das sie zunächst kaum glauben konnten. Verblüfft stellten sie fest, dass sich das Glück je nach Geschlecht unterschiedlich entwickelt hat: Während es bei den Männern über die Jahrzehnte weitgehend konstant geblieben bzw. sogar leicht gestiegen ist, sind die Frauen mit der Zeit – größtenteils relativ zu den Männern, teils aber auch absolut – immer unglücklicher geworden. Waren die Frauen in den 1970er Jahren noch eindeutig glücklicher als die Männer, so hat sich dieses Glücksplus über die Jahrzehnte, schleichend, Stückchen für Stückchen, in Luft aufgelöst.
Die Grafik zeigt einen Ausschnitt der Befunde aus den USA.[2] Man sieht, der Anteil sehr glücklicher Frauen ist gesunken, während dieser Anteil bei den Männern ungefähr gleich geblieben ist. Und was das Erstaunlichste ist: Als relativer Trend zeigt sich der Glücksschwund der Frauen nicht nur in den USA, sondern in praktisch allen Nationen, die die Forscher untersucht haben, in Belgien, Dänemark, Frankreich,...