Geleitwort von Professor Walter Simon
Ich freue mich, dieses Vorwort schreiben zu dürfen, da ich Dr. Al-Baghdadi lange kenne und ihn häufiger aufforderte, sein Denken und seine Erfahrungen einem größeren Kreis von Verantwortungsträgern mitzuteilen. Wer, so wie er, 25 Jahre lang als Berater und Wirtschaftstrainer in deutschen und internationalen Unternehmen tätig ist, schreibt nicht aus der Warte der betriebswirtschaftlichen Alma Mater, angereichert mit schwer verdaulicher statistisch-mathematischer Pampe, sondern unverfälscht aus dem Morast des Alltagsgeschäfts, mit vielen blauen Problemflecken, die man sich tagtäglich als anpackender Change-Manager in der Fertigung oder im Vertrieb holt. Diese Erfahrungen hat er dann mit jenen Gedanken und Ideen verknüpft, wie sie sich in Projekten ergeben und beides dann in die Schriftform gebracht.
Nun ist die Idee selbstverantwortlicher Teams nichts fundamental Neues, denn Warnecke leitete bereits vor Jahren mit seinem Werk »Das fraktale Unternehmen« die theoretische Diskussion neuer Hierarchieformen ein. Aber Warnecke legte nur das wissenschaftliche Fundament, auf dem die praktisch tätigen Veränderungsmanager jetzt aufbauen können. Genau das macht Wafi Al-Baghdadi in dem vorliegenden Buch. Er bewegt sich nicht auf der begrifflichen Metaebene, sondern benennt konkrete Schritte, weg von der alten Hierarchie hin zur »Heterarchie«, weist auf mögliche Fallstricke hin, nennt die Zutaten und betont die Bedeutung der Mitarbeiter als Gestalter der neuen Teamorganisation. Ein Unternehmen, das sich für 360°-Teams interessiert, muss wissen, dass es die besten und billigsten Unternehmensberater im eigenen Unternehmen hat.
Man merkt dem Autor seine lange Erfahrung als Projektmanager auf vielen Baustellen dieser Welt an. Seine Gliederung erinnert immer wieder an präzises Projektmanagement. Letztendlich handelt es sich bei der Einführung von 360°-Teams um ein organisatorisches Großvorhaben, auf das alle Merkmale eines Projekts zutreffen: Komplexität, Umfang, Interdisziplinarität, Einmaligkeit und Risiko. Dementsprechend gibt er Hinweise zur Auftragsklärung, Projektstrukturierung, Ablauf- und Ressourcenplanung, Risikominimierung und Projektsteuerung.
Doch das Buch bewegt sich über das Projektmanagement hinaus, quer durch alle Managementthemen, aber ohne diese nochmals theoretisch zu bemühen, sondern nutzt sie praktisch für die Grundidee der 360°-Teams. Es bewegt sich mitten in dem Themenwust von Unternehmenskultur, fraktaler Selbstorganisation, Enthierarchisierung und Teammanagement, um nur einige Beispiele zu nennen.
Al-Baghdadis Plädoyer für die Selbstorganisation der 360°-Teams ist der rote Faden durch das ganze Buch. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail, denn Al-Baghdadis Empfehlungen gefährden hierarchische Pfründe. Daher neigen viele Unternehmen eher zu graduellen als zu radikalen Änderungen. Es bedarf schon eines großen Leidens- und Problemdrucks, bevor Organisationen zu solchen tief greifenden Änderungen willens und fähig sind, wie der Autor sie vorschlägt. Man darf dabei nicht vergessen, dass unsere Organisationsvorstellung seit dem Pyramidenbau vor viertausend Jahren hierarchisch ist, so wie die Form der Pyramiden selbst. Pharaonen und ihre feudalen Nachfolger sind vergangen, doch die pyramidenförmige Organisationsstruktur ist geblieben, ebenso wie das Kommando-Kontroll-Modell, mit dem die Sklaven zum Bau der monumentalen Grabmäler angetrieben wurden, obwohl aus Sklaven im Laufe der Zeit Mitarbeiter wurden und Befehle heute als Bitten ausgesprochen werden. Das ändert aber nichts am Grundcharakter dieses pyramidenförmigen Führungsmodells, dem die Vorstellung zugrunde liegt, dass ein Individuum Anordnungen von oben auszuführen hat, und zwar deshalb, weil sich Intelligenz und Weisheit ausschließlich an der Spitze der Organisation befinden. Das entspricht auch dem Aufbau des menschlichen Körpers: Das Gehirn sitzt ganz oben, die Arbeit wird mit den Fingern und Zehen verrichtet, und das Nervensystem übermittelt die Information.
Ein prominenter Kenner der Welt-Managementszene, der US-Strategiepapst Prof. Michael Porter sagt dazu:
»Wenn man bedenkt, welche Führungskulturen in einem Lande wie der Bundesrepublik Deutschland vorherrschen, so erweist sich die Vorstellung einer Übertragung von Verantwortlichkeit und Autorität von der Spitze der Hierarchie an die Basis als geradezu unvorstellbar. Die Deutschen sind Weltmeister in Sachen »Generalstabskonzept«, demzufolge Pläne von den besten Köpfen ausgearbeitet werden und die Ausführung dieser Pläne den »Frontkämpfern« obliegt.«
Unternehmen wären aber gut beraten, das vorliegende Buch häufiger in die Hand zu nehmen, vor allem jene, die sich bei ihren strategischen Überlegungen vorwiegend auf die Bereiche Produkt und Markt konzentrieren. Ihr Interesse gilt eher dem fertigen Kuchen und weniger der »menschlichen Hefe«, die ihn treibt. Leider wird das vorhandene Leistungspotenzial oft nicht als Leistungsreserve genutzt. Es gibt noch viel zu viel ungenutzte Human-Resources-Energiereserven in Organisationen. Prof. Hans-Jürgen Warnecke, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, schreibt, dass nach seinen Erfahrungen bei herkömmlichen Organisationsstrukturen die Mitarbeiter nur 10 bis 20 Prozent ihres Leistungspotenzials einbringen können. Mit traditionellen Hierarchiestrukturen lassen sich Unternehmen zwar steuern, aber nicht zur Höchstleistung entwickeln. Wer dieses will, muss zuvor die Barrieren einreißen, die kreative Mitarbeiterproduktivität verhindern. Dazu gehören insbesondere einseitig-direktive Entscheidungsrechte, gepaart mit der tayloristischen Trennung von Denken und Handeln. Zu viele Unternehmer sind immer noch Unterlasser gegenüber ihren eigenen Mitarbeitern. Sie reagieren zwar auf die Möglichkeiten des Marktes, aber übersehen die Möglichkeiten im eigenen Hause.
Manager, die mit 360°-Teams zu neuen Ufern aufbrechen wollen, müssen ihre Mitarbeiter in die betrieblichen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse einbeziehen, um so ihren aus der täglichen Arbeit resultierenden Sachverstand zu nutzen. Es reicht nicht und wäre ein Widerspruch, nur die Anzahl der Verbesserungsvorschläge erhöhen zu wollen, während kritische Mitarbeiter im normalen Arbeitsgeschehen bitte nicht stören mögen. Unternehmer und Manager, die engagierte Mitarbeiter fordern, dürfen deren Wissen und Können nicht nur in Qualitätszirkeln bei Bedarf anzapfen, sondern müssen diese auch im Arbeitsalltag als unberechenbare, spontane Querdenker akzeptieren. Denn Querdenker sind keine Quertreiber.
Unternehmen, die das Neue wollen, sollten auch nicht davor zurückschrecken, vorab jene Führungskräfte zu »entsorgen«, die mit ihren konventionellen Altlasten im Kopf das Unternehmensklima belasten. Es wirkt wenig glaubwürdig, wenn sie vom Chefpodest herab, in der schwarzen Nadelstreifenuniform, steif und förmlich, so wie seit Generationen, das Engagement zur Mitarbeit in 360°-Teams fordern. Sie sind diejenigen, die kreative Ideen mit einem kurzen kritischen Blick töten. Solche Entscheidungsträger sind Innovationshemmer statt Innovationshämmer.
Einem Unternehmen, das sich mit 360°-Teams »neu erfinden« will, stehen mehrere Wege zur Verfügung. Es kann sich einem rein institutionellen (oder projektorientierten) Ansatz verschreiben. Hierbei werden innovationsgenerierende Projekte gestartet, so zum Beispiel ein betriebliches Vorschlagswesen, Qualitätszirkel und ein wenig Management by objectives. Im Mittelpunkt solcher Innovationsbemühungen stehen Produkt- und Prozessverbesserungen, ohne die Organisation selbst zu verändern. Man bleibt irgendwo zwischen 90 und 180 Grad stehen.
Bei dieser eher linear ausgerichteten Vorgehensweise trifft die Kugel diesen oder jenen Kegel, aber nur selten alle Neune. Wer Volltreffer will, der muss radikaler vorgehen, sozusagen von der Wurzel her, ganz im Sinne der lateinischen Wortbedeutung (Radix = die Wurzel).
Ich ordne Al-Baghdadi eher den radikalen Innovationsstrategen zu, denn er will nicht nur Teilsysteme, sondern die Gesamtorganisation um 360° erneuern. Alle Innovationsbremsen gehören seiner Meinung nach auf den Prüfstand der Organisation: Abläufe, Denk- und Verhaltensweisen, Werte und Normen, Strukturen, Prozesse, die Aufbau- und Ablauforganisation und Traditionen. Es reicht nicht, nur die Mittel für Forschung und Entwicklung aufzustocken und ein halbes Dutzend Task-Force-Groups neben einigen Qualitätszirkeln einzuführen. Ein Unternehmen, und gegebenenfalls die ganze Branche, muss »neu erfunden werden«, so auch die Meinung der...