Vorwort und Danksagung der Herausgeber
In den Jahren von 2014 bis 2018 befragten wir bei mehreren Besuchen in Berlin insgesamt über 50 Stunden Hans Modrow,1 der Ende der 1980er Jahre vom Westen, aber auch im eigenen Lande als politischer „Hoffnungsträger“ für eine offenere und reformorientierte DDR gesehen wurde, jedenfalls heute aber nicht als „Gorbatschow des Ostens“ begriffen werden und sich als solcher betrachtet sehen will. Ein Jahr nach der deutschen Einigung wurde er hingegen schon als „Sozialist mit Heiligenschein“ beurteilt,2 eine Einschätzung, die ihm womöglich besser gefiele.
Was ursprünglich und zunächst nur ausschnittsweise als Zeitzeugengespräch über die Beziehungen zwischen der DDR und Österreich 1989/90 angedacht war und umgesetzt wurde,3 weitete sich über das anvisierte Thema immer stärker aus, sodass sich daraus diese umfangreiche Zeitzeugendokumentation entwickelte.
Bereits im Februar 1990, mitten im immer turbulenter werdenden Geschehen, waren die ersten hundert Tage seiner Regierungszeit dokumentiert worden.4 Im Jahre 1998 hatte Hans Modrow umfangreich seine Erinnerungen sowie auch Reflexionen zur Perestroika veröffentlicht, die als Grundlagen zur Beurteilung seiner Biographie und Politik zu berücksichtigen und als zusätzliche Informationen heranzuziehen sind.5 Vieles, was darin enthalten ist, musste für diese Publikation nicht mehr in allen Details neu aufgerollt und abermals erzählt werden, konnte aber als Basis für Nachfragen dienen.
Die von uns geführten Gespräche mit Hans Modrow sind nicht die ersten. Ernst Elitz, Gabriele Oertel und Hans-Dieter Schütt haben bereits im Sinne von Zeitzeugeninterviews Vorarbeit geleistet.6 Wir hielten es dennoch aus forschungs-spezifischen Gründen und zeitbedingtem Interesse für geboten, im einen und anderen Fall nachzufassen und bisher weniger stark berücksichtigte Aspekte, v. a. hinsichtlich der deutsch-deutschen Beziehungen, aber auch des europäischen und internationalen Kontextes, in dem sich der deutsche Umbruch vollzog, anzusprechen. Eine Reihe neuer Einsichten und Erkenntnisse konnte so gewonnen werden.
Das Ende der DDR kann allein im innen- und parteipolitischen sowie nur im innerdeutschen Rahmen weder zur Gänze erfasst noch vollständig verstanden werden. Aspekte einzelner Biographien der Geschichte der DDR, Personenkonstellationen im Machtgefüge des SED-Staats und nicht zuletzt die Entwicklungen in der Sowjetunion und in den Europäischen Gemeinschaften in der zweiten Hälfte der 1980er und besonders für die Phase 1989/90 waren mit einzubeziehen.
Das Buch versteht sich nicht als eine Festgabe mit Blick auf den 90. Geburtstag, den Modrow am 27. Januar 2018 in Berlin begehen konnte, sondern im Sinne einer Zeitzeugendokumentation als eine Art letztes Wort zu seinem politischen Leben. Ausführlich und offen beantwortete er über 500 Fragen zu seiner Biographie, zur Geschichte der DDR sowie der Bonner und Berliner Republik. Er sprach über seine Erfahrungen, Erlebnisse, Weggefährten sowie Zäsuren und nicht zuletzt über seine Regierungszeit als Vorsitzender des Ministerrates der DDR vom 13. November 1989 bis zum 12. April 1990 und das BND-Verfahren.
Modrow bilanzierte seine Politik und gab Antworten auf bisher zum Teil noch offen gebliebene und zuweilen auch kritische Fragen. Die vorliegende Gesprächsdokumentation ist sein Vermächtnis, indem er die historischen Weichenstellungen der deutschen und europäischen Geschichte aus seinem persönlichen Erleben schildert.
Modrow erinnerte sich an viele Details, weniger aus Kindheit und Jugend und dem Elternhaus, die bereits gut dokumentiert und erzählt sind, sondern vor allem aus seiner politischen Laufbahn. Die Ereignisse und Entwicklungen der ostdeutschen Zeitgeschichte kommen zur Sprache: die Ära Walter Ulbricht 1949–1971 und Erich Honecker 1971–1989, die Gründung der DDR 1949, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) 1949, die Stalin-Noten 1952, der Arbeiter- und Volksaufstand 1953, der Ungarn-Aufstand 1956, der Mauerbau 1961, der „Prager Frühling“ 1968, die Gewerkschaftsbewegung Solidarność und die Kriegsrechtsverhängung 1981 in Polen, die KSZE-Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975 sowie der damit im Zusammenhang stehende Nachfolgeprozess. Modrow spricht über den bayrischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß, die eingefädelten Milliardenkredite 1983/84, die Reformbestrebungen „Perestroika“ und „Glasnost“ von Michail S. Gorbatschow in den Jahren ab 1985 sowie den Besuch von Erich Honecker in der Bundesrepublik vom 7. bis 11. September 1987.
Der Schwerpunkt des Gespräches liegt auf den revolutionären Ereignissen und umbruchartigen Geschehnissen der Jahre 1989/90 inner- und außerhalb der DDR unter Einbeziehung der europäischen Ebene und des internationalen Kontextes: Mit dem symbolischen Aufschneiden der letzten Reste des Eisernen Vorhangs am 27. Juni 1989 durch die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, der offiziellen Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze am 11. September 1989 und den Demonstrationen im Laufe des Oktobers in der DDR fing die öffentlich immer massiver werdende Hinterfragung des SED-Regimes für alle sichtbar an.
Modrow war noch als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden tätig und am 4./5. Oktober 1989 gezwungen, die Schwierigkeiten bei der Durchfahrt der ostdeutschen Prager-Botschaftsflüchtlinge durch die sächsische Metropole zu bewältigen. Einschätzungen zu dem nach den Republik-Feierlichkeiten erfolgten Abtritt von Honecker am 18. Oktober und zum „Fall der Mauer“ am 9. November sowie zur Wahl als Ministerpräsident am 13. November, zur Umgestaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), zu Überlegungen, einen Nachrichtendienst und ein „Amt für Verfassungsschutz“ der DDR einzurichten (aufgrund dessen am 27. Dezember 1989 die Bildung einer zivilen Arbeitsgruppe „AG Sicherheit“ beschlossen wurde) und Anstrengungen zur Abwendung der Auflösung der SED sowie zu seinen Treffen mit Michail Gorbatschow, James Baker, François Mitterrand, Helmut Kohl, Egon Krenz, Lothar de Maizière, Franz Vranitzky und weiteren nationalen und internationalen Akteuren bieten aufschlussreiche und vielfältige Einblicke.
Mit den Aussprachen und Beschlüssen am „Zentralen Runden Tisch“ vom 7. Dezember 1989 bis 12. März 1990 konnte ein wichtiger Beitrag zu einem friedlichen und gewaltfreien Übergang geleistet werden. Modrow erkannte diese Notwendigkeit und wirkte mit. Er selbst beruhigte die angespannte Lage, die durch Demonstranten vor der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße in Berlin am 15. Januar 1990 mit verursacht worden war.
Die Eindrücke von der 45. Konferenz des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Sofia am 9./10. Januar 1990, die Erfahrungen bei seinem Moskau-Besuch am 30. Januar, die Etablierung der neuen „Regierung der nationalen Verantwortung“ sowie die Teilnahme am Weltwirtschaftsforum in Davos am 4. Februar waren wichtige Stationen auf dem Weg zur Erkenntnis, dass es mit dem Fortbestehen der noch existierenden DDR immer schwieriger und letztlich sogar aussichtslos werden sollte. Das Ergebnis des Aufeinandertreffens mit Helmut Kohl beim Besuch in Bonn am 13./14. Februar beschleunigte die Entwicklung, die nach der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli dann zum raschen Ende der DDR am 3. Oktober 1990 führte. Der Antrag zum EG-Beitritt in Brüssel am 16. März 1990 – zwei Tage vor der Volkskammerwahl – war ein letzter verzweifelter Versuch, eine souveräne DDR europäisiert und insbesondere unabhängig zu erhalten, kam jedoch zur Rettung viel zu spät, einmal abgesehen von der Frage, ob ein solches Ansuchen früher noch etwas in diesem Sinne bewirkt hätte.
Kritische Bemerkungen und Wertungen der Regierungsbilanz des ersten frei gewählten und zugleich letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, des Zwei-plus-Vier-Vertrags sowie der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 und ihrer Folgen runden ein facettenreiches Bild ab. Im Jahre 1991 erlebt Modrow das Ende der Sowjetunion und weilt zum Zeitpunkt des Putsches gegen Gorbatschow in der UdSSR.
Als Mitglied des Deutschen Bundestages (1990–1994) und des Europäischen Parlaments (1999–2004)7 sowie Mitbegründer der Europäischen Linken sowie im Ältestenrat der deutschen sozialistischen Partei „Die Linke“8 war Modrow noch lange politisch aktiv.
Viele problematische Entscheidungen, strittige Ereignisse, politische Kontroversen und Niederlagen sowie private Rückschläge erfuhr er in seinem Leben: U. a. die Verurteilung wegen Beteiligung an Wahlfälschungen, die Vorwürfe wegen der Ausschreitungen am Dresdner Hauptbahnhof beim Transfer der ostdeutschen Botschaftsflüchtlinge in Prag über das Territorium der DDR, die Frage der Duldung von Aktenvernichtung sowie der vergebliche Versuch durch Anwaltsanschreiben an das russische Außenministerium im Mai 2017, an seine „verschleppt-geglaubten“ Stasi-Akten zu gelangen, können als Beispiele genannt werden. Vor kurzem, nach jahrzehntelangem,...