»Was nie geschrieben wurde, lesen«
Von der Zeichenhaftigkeit am Grund der Bilder
Vorsicht
Zum Zeitpunkt der Finalisierung des vorliegenden Hefts kursierte im Netz ein recht simples Foto, begleitet von der Frage: Sehen Sie hier eine Tür oder einen Strand?1 An der Antwort schieden und scheiden sich die Geister, die meisten, so heißt es, woll(t)en eine Tür sehen; es ist aber ein Strandfoto, um 90° nach links gekippt. Haben also diejenigen, die Mehrzahl noch dazu, die eine Tür erblick(t)en, unrecht, war der Strand für sie unsichtbar? Oder blieb umgekehrt die Tür für diejenigen, die von Anfang an den Strand gesehen haben, unsichtbar – verborgen hinter der Sichtbarkeit des Strandes? Etwas sehen heißt immer zugleich auch etwas anderes nicht sehen. Das ist freilich eine Binsenweisheit, aber eine, die immer wieder aufs Neue aufzudecken (oder jedenfalls an sie zu erinnern) die Literatur geeignet ist. Die – paradoxe – Antwort »der« Literatur (wenn es sie gibt) auf die Frage, ob besagtes Foto denn nun eine Tür oder einen Strand zu sehen gebe, würde also so schlicht wie unmissverständlich lauten müssen: ja.
Hinsicht
Den Anstoß zur Konzeption des Hefts gab ursprünglich eine bildungspolitische Beobachtung, die in Österreich im Gefolge der Einführung der sogenannten »Zentralmatura« (recte: teilstandardisierte kompetenzorientierte Reifprüfung – an AHS 2014/15 – bzw. Reife- und Diplomprüfung – an BHS 2015/16) sehr schnell die Runde machte, nicht nur, aber vor allem in deutschdidaktischen Kreisen: dass die Literatur dabei zusehends (!) aus dem Blick gerate – sowohl dem der Schülerinnen und Schüler als auch der Lehrpersonen. Dazu ist, auch in dieser Zeitschrift, schon manches gesagt worden, und nicht die Triftigkeit dieser Beobachtung steht im Fokus der nachstehend versammelten Überlegungen unserer inter nationalen wie interdisziplinären Autorinnen und Autoren. Es geht vielmehr um die mit dem diagnostizierten Problem verschwindender Sichtbarkeit der Literatur im schulischen Kontext mit aufgerufene Frage danach, worin diese denn eigentlich bestehe: Wie wird Literatur sichtbar und wie macht sie ihrerseits sichtbar? An Letzterem, daran also, dass Literatur Dinge – Themen, Sachverhalte, Zusammenhänge – sichtbar macht, dürfte weiter kein Zweifel bestehen; aber gibt es einen Konnex zwischen dieser ihrer spezifischen (eben literarischen: literarästhetischen) Weise, Dinge sichtbar zu machen, einerseits und ihrer eigenen Sichtbarkeit respektive Unsichtbarkeit, zumal im gesellschaftlichen Feld, andererseits? Die Tragweite dieser Fragestellung – die natürlich die gesamte Bandbreite zwischen dem theoretischen (z. B. philosophischen, ästhetischen, metapsychologischen) und dem praktischen (z. B. didaktischen, politischen, soziologischen) Bereich einnimmt – lässt sich im Umfang eines Zeitschriftenhefts freilich nicht einmal annähernd abdecken, geschweige denn erschöpfen oder gar vermitteln; doch liefern die eingelangten Beiträge wertvolle Hinweise auf bzw. geben interessante Einblicke in die verschiedenen Dimensionen und Aspekte dieser Thematik.
Bevor ich die Beiträge kurz vorstelle, möchte ich einleitend einige Reflexionen über die Sichtbarkeit (in) der Literatur anstellen, und zwar entlang dreier – nach meinem Dafürhalten – einschlägiger Sentenzen, von denen zwei aus dem literarischen Spektrum stammen, nämlich von Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil, während eine dritte (literatur-)theoretischer Provenienz ist und sich bei Paul de Man findet. Sie lauten:
• »Was nie geschrieben wurde, lesen« (Hugo von Hofmannsthal)
• »([W]ir) (haben) eher zu lernen, wie man Bilder liest, als wie man sich einen Sinn vorstellt« (Paul de Man)
• »Man sieht viele unsichtbare Dinge.« (Robert Musil)
Unbeschadet der verschiedenen, ungeachtet ihrer jeweils präferierten Terminologie von der Stoßrichtung her größtenteils übereinstimmenden, in jedem Fall als »visual« sich präsentierenden turns seit den 1990er Jahren liegt doch wort- bzw. schriftsprachlich wie bildsprachlich realisierten Bedeutungszusammenhängen jedenfalls dies eine gleichermaßen zugrunde, dass es sich nämlich in beiden Fällen um Zeichensysteme handelt (wie uns nicht erst, aber besonders nachhaltig und trotz berechtigter nachmaliger Kritik an ihm der Strukturalismus vor allem slawisch- wie romanischsprachiger Prägung gelehrt hat). Was die Frage der Sichtbarkeit solcher Zeichensysteme betrifft (die nicht schon identisch ist mit der Frage nach deren Lesbarkeit), läuft ihre Unterschiedenheit nicht auf die in gewisser Weise künstliche und sachlich jedenfalls irreführende Alternative Sprache vs. Bild (bzw. »Denken/Schreiben/Erzählen mit Worten« vs. »Denken/Schreiben/Erzählen mit Bildern«) hinaus. Gerade der Strukturalismus und an ihn (durchaus kritisch) anschließende Ansätze hatten diese allzu einfache Opposition bereits unter Verweis auf die beiden Formen der Wahrnehmung zugrundeliegenden Bedingungen der Möglichkeit des Erfassens von Bedeutung überhaupt zu unterlaufen versucht. Viel eher als die vermeintliche Entscheidung zwischen zwei mutmaßlich heterogenen Tätigkeiten »Lesen« und »Schauen« steht daher bezüglich der Frage nach der Sichtbarkeit (in) der Literatur im Mittelpunkt des Interesses, wie es überhaupt zum In-Ersc heinung-Treten von etwas Bedeutsamem kommt, wie Bedeutsames also sichtbar wird. Im einen wie im anderen Fall, bei wort- bzw. schriftsprachlich realisierten Bedeutungen wie bei bildsprachlichen, geht es um Formen des Sehens und in weiterer Folge des Lesens von (sichtbar gewordenen) Zeichen. Von daher sind Literatur- (und das heißt zuerst und zunächst: Text-)Wissenschaftler/innen und Bildwissenschaftler/innen ungeachtet der mit den eingangs erwähnten turns erfolgten Hinwendung zu bildsprachlichen Erscheinungsformen von Kultur gleichermaßen gut beraten, mit Zeichen aller Art zu rechnen bzw. rechnen zu lernen, zumal wenn sie in didaktischen Arbeitsbereichen tätig sind. Wenn der ganz bewusst Strukturalismus und Hermeneutik miteinander auszusöhnen bemühte Paul Ricoeur bekanntermaßen vom zwischen (Schrift-) Sprache und Bild angesiedelten Symbol in definitorischer Absicht gesagt hat, es gebe zu denken (Ricoeur 1974, S. 163; dazu etwa Kemp 1970 und Meyer 1990), so wäre mit Blick auf das Zeichen zu ergänzen, es gebe zu lesen – und zwar unabhängig davon, in welcher konkreten Form es zur Erscheinung gelangt.
Unter diesem Aspekt ließe sich die erste der drei unsere Überlegungen leitenden Sentenzen, Vers 540 des 1893 verfassten, 1894 veröffentlichten und 1898 uraufgeführten Versdramas Der Tor und der Tod Hugo von Hofmannsthals (welcher u. a. für Walter Benjamins geschichtsphilosophisch motivierte Redimensionierung der literarischen Hermeneutik von Bedeutung war), vielleicht dadurch erst richtig würdigen, dass man sie ernst – und das heißt diesfalls: ganz wörtlich – nimmt: »Was nie geschrieben wurde, lesen« (Hofmannsthal 1900, v. 540) umfasste dann nicht nur, worauf Benjamin in erster Linie abhebt, (historische) Handlungen, die es gleichwohl zu »lesen« gälte wie literarische Narrationen, sondern eben auch – nie geschrieben, weil gezeichnet oder gemalt oder auf andere Weise visuell realisiert: bildliche Narrationen. Wie (für – nicht allein – Benjamin) in der Geschichte, so wird auch in Geschichten und Bildern Literatur sichtbar, bzw. umgekehrt: Was in Geschichte/n und Bildern sichtbar wird, empfiehlt er, Benjamin, – und empfiehlt sich allgemein – wenn nicht (ausschließlich) als, so doch (immer auch) wie Literatur aufzufassen.
Auf die dazu erforderliche Fertigkeit würde sich sodann unsere zweite Sentenz richten, Paul de Mans in Auseinandersetzung mit literarischen, insbesondere mit bildstarken, vor allem lyrischen Texten gewonnene Einsicht, die er ebenfalls in die Form einer Empfehlung an den/die Literaturwissenschaftler/in kleidet: dass wir nämlich »eher zu lernen haben, wie man Bilder liest, als wie man sich einen Sinn vorstellt« (de Man 2008, S. 323, kursiv i. O.).
Es war der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, der in kritischer Auseinandersetzung mit dem postum erschienenen Spätwerk seines langjährigen philosophischen Gesprächspartners Maurice Merleau-Ponty mit dem bezeichnenden Titel Das Sichtbare und das Unsichtbare (Merleau-Ponty 1986) in seinem Seminar über Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Lacan 1978) auf die fundamentale Spaltung des Sehvermögens in Auge und Blick hingewiesen hat. Dabei macht sich, verkürzt dargestellt, das Auge solcherart im Blick des Sehenden bemerkbar, dass es dessen Illusion eines autonomen und gleichsam selbsterzeugenden kognitiven Vermögens stört, indem es dort als blinder Fleck erscheint. Damit wird das sehende Subjekt gewahr, dass es, wenn es sieht, zugleich immer auch gesehen wird (eine Doppelung, die im französischen regarder – »schauen«, »betrachten«, aber auch...