Diese Westfront hat der Teufel erfunden.
ADOLF WILD VON HOHENBORN, 1916
Einleitung
«No boats for the Continent!»[1], ruft der Zeitungsjunge, sein Extrablatt schwenkend: «Keine Schiffe zum Kontinent!» Cordt von Brandis wirkt beunruhigt. Eben ist sein Nachtzug aus Glasgow eingefahren. Nur ungern hat er eine Kajak-Tour abgebrochen. «Was haben wir an herrlichen Aussichten, an Freude an Sonne und Meer, an Spaß mit Seehunden und Delphinen erlebt!»[2] Doch ihn drängt es nach Hause. Der Leutnant will zu seinem Regiment nach Neuruppin. Wie ganz London weiß auch Brandis im Juli 1914 um die Kriegsgefahr. In der Euston Railway Station nimmt er die U-Bahn zur Victoria Station, kann dort aber kein Ticket nach Köln erwerben. «We dont’t book for Cologne!», erklärt der Verkäufer: «Are you German?» – «Sind Sie Deutscher?»[3] Brandis steigt in die Linie 8, in einen Doppeldeckerbus, um das Konsulat am Bedford-Place zu erreichen. «Bei zunehmender Hitze und Müdigkeit»[4] nimmt er auf dem Oberdeck Platz. Die Fahrt führt über die Mall bis zum Trafalgar Square, dann rollt das Fahrzeug am Picadilly Circus und am Hyde Park vorbei nach Westen. Neben Brandis sitzt ein jüngerer Passagier, den er bittet, ihm mitzuteilen, wo er aussteigen soll. «Sind Sie Deutscher oder Österreicher?», entgegnet der junge Nebenmann, «jeder Deutsche sieht soldatenmäßig aus.»[5] Brandis fürchtet, verhaftet zu werden. Dann aber trifft es ihn «wie ein elektrischer Schlag: In den Straßenlärm hinein, ihn vielfach übertönend», mischt sich «ein tiefer Unterton», dem Dröhnen der Brandung vergleichbar, findet Brandis, «das mir in den letzten Wochen so vertraut geworden war». Der Leutnant hört den Gesang einer riesigen Menschenmenge. «Bedford-Place!», erklärt ihm sein Nebenmann, «die Deutschen!».[6] In der Straße marschieren Reservisten in Kolonnen immer wieder auf und ab. Schwarz-weiß-rote Fahnen flattern. Alle Passagiere sind «völlig verstummt». Auch Schaffner und Fahrer starren auf die Marschierer. Dem Bus schlägt Kriegsgesang entgegen: «Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!»[7] Begeistert reiht sich Brandis in die Kolonne ein. Neunzehn Monate später werden viele Sänger nicht mehr am Leben sein. Und das Regiment aus Neuruppin wird in einer Schlacht zum Einsatz gelangen, die nicht nur in Europa aufhorchen lässt.
Verdun 1916 – längste Schlacht der Weltgeschichte, Sinnbild des totalen Krieges, Markstein für das 20. Jahrhundert. «So furchtbar kann nicht einmal die Hölle sein»[8], entsetzte sich ein Augenzeuge. Nie wieder starben mehr Soldaten auf so engem Raum. Deutsche und französische Truppen verloren über 700.000 Soldaten.[9] Der Erste Weltkrieg zerstörte die Großreiche Deutschlands, Russlands, Österreich-Ungarns und der Türkei. Er war der Anfang vom Ende der Vorherrschaft Europas, zwang die USA auf die Weltbühne, führte zur Gründung der Sowjetunion und bot den Nährboden für den Aufstieg von Kommunismus und Nationalsozialismus.[10] Erfahrungen und Folgen des Großen Krieges haben den Zweiten Weltkrieg vorgeprägt – in so hohem Maße, dass Historiker die Zeit von 1914 bis 1945 als zweiten Dreißigjährigen Krieg bezeichnen.[11] Kein Zweifel: Die «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts prägt noch unsere Gegenwart.[12] Und einer ihrer Wendepunkte war die Schlacht bei Verdun.
Dreihundert Tage und dreihundert Nächte tobte die Urschlacht des Jahrhunderts: vom deutschen Angriff am 21. Februar 1916 bis zum Ende der letzten französischen Großoffensive am 20. Dezember. Sie stieß die Entwicklung moderner Luftwaffen an, durchkreuzte die alliierten Pläne an der Somme, führte zum Sturz der beteiligten Heerführer, verschob die politischen Gewichte in Frankreich und Deutschland. Drei Viertel der französischen Streitkräfte kämpften an den Ufern der Maas. Bei Verdun entbrannte die – bis dahin – größte Materialschlacht der Geschichte. Zugleich bezeichnen die Kämpfe jenen Punkt, an dem die Hauptlast des Krieges von Frankreich auf Großbritannien überging. Hatte vorher für das Kaiserreich noch die Aussicht bestanden, den Krieg nicht zu verlieren, schwand diese Möglichkeit im Laufe der Schlacht dahin. Verdun befeuerte die Dolchstoßlegende, prägte das operative Denken beider Seiten, begünstigte den Bau der Maginot-Linie und legte auch dadurch den Keim für Frankreichs Niederlage 1940 im «Blitzkrieg» der Wehrmacht. Darüber hinaus verdichtete die Schlacht den Charakter des Weltkriegs als zivilisatorische Krise.[13] Viele Zeitgenossen erkannten eine Art Wasserscheide: vorher Licht, danach Schatten; von der Ordnung ins Chaos; zunächst Glanz, schließlich Elend. Für Historiker markiert der Weltkrieg den Abschluss des bürgerlichen Zeitalters. Es folgten Jahrzehnte, die in Diktatur, Vertreibung, Rassenkrieg und Shoa gipfelten.[14] Fest steht: Zwischen dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts und dem Ausklang einer Ära totaler Völkerkriege stand die Erniedrigung des Menschen zum bloßen «Material». In solchem Licht betrachtet, erscheint Verdun als Inbegriff der Enthegung militärischer Gewalt.
Schlachten sind zu Symbolen für Kriege und Epochen oder schlicht sprichwörtlich geworden. Jedes «Waterloo» bedeutet eine endgültige Niederlage. «Stalingrad» steht für den Zweiten Weltkrieg. «Trafalgar» meint den Krieg unter Segeln. «Issos» beschwört die griechische Phalanx. «Verdun» ist der Erste Weltkrieg – jedenfalls für Franzosen und Deutsche.[15]
Warum Verdun? Noch immer hat die Forschung Schwierigkeiten, auf diese Schlüsselfrage eine Antwort zu finden.[16] Um den Sinn der «Blutmühle» strategisch zu erklären, verweisen Historiker gewöhnlich auf die «Weihnachtsdenkschrift» des Generalstabschefs Erich von Falkenhayn. Die französische Armee, behauptete Falkenhayn in seinen Memoiren, sollte bei Verdun «verbluten». Schon Falkenhayns Zeitgenossen misstrauten dieser Begründung.[17] Und das Wort «Ausbluten» weckt Abscheu noch in unserer Gegenwart. So erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff «Menschenmaterial» zum «Unwort des zwanzigsten Jahrhunderts».[18] Gerd Krumeich hielt die Weihnachtsdenkschrift für einen «der ungeheuerlichsten Texte des Ersten Weltkriegs»; er sei in Frankreich «berühmt-berüchtigt».[19] Hinter der Weihnachtsdenkschrift, ergänzte Michael Salewski, verberge sich «der unmenschlichste strategische Plan des ganzen Krieges».[20]
Welchen Plan verfolgte Falkenhayn für 1916? Weshalb ein Angriff auf Frankreichs stärkste Festung? Warum dauerte die Offensive so lange? Und warum hat die französische Heerführung die Schlacht angenommen? Konnte der Besitz einer Kleinstadt über Sieg oder Niederlage im Weltkrieg entscheiden? Was hat den Schlachtverlauf bestimmt? Wer eigentlich hat den Kampf gewonnen? Das französische Heer, wie fast alle Zeitgenossen glaubten? Oder vielleicht doch die Streitkräfte des Kaisers, wie deutschsprachige Autoren nach dem Krieg erklärten?[21] Gab es überhaupt einen Sieger? Und wie ist es um die Folgen der Kämpfe bestellt?
Bisher gibt es keine Darstellung der Schlacht bei Verdun, die aus archivalischen Quellen schöpft und das Wechselspiel zwischen dem «Krieg des kleinen Mannes» und dem Handeln der Heerführer beleuchtet.[22] Die wohl mit Abstand größte Forschungslücke betrifft die deutsche Führungsebene – vor allem aus Gründen, die im Zusammenbruch der militärgeschichtlichen Forschung in beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg wurzeln.[23] Dabei erscheint die Quellenlage eher günstig. Zwar sind viele einschlägige Akten 1945 bei der Zerstörung des Heeresarchivs verbrannt; doch mit dem Schriftgut der «Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte» steht seit 1996 im Bundesarchiv Freiburg eine Ersatzüberlieferung bereit.[24] Dieses Schriftgut zur Schlacht entstand Anfang der 1930er Jahre im Zuge der Vorarbeiten zum amtlichen Weltkriegswerk. Jahrelang stellten die Potsdamer Historiker Nachforschungen an. So gibt es Kommentare, Randbemerkungen, Briefe und Stellungnahmen wohl aller damals lebender Stabsoffiziere, die bei Verdun mit operativen Fragen befasst waren: von der Obersten Heeresleitung und dem Oberkommando der Kronprinzenarmee über die Führung der Armee- und Reservekorps bis hinab zu den Stäben der Divisionen. Dutzende Augenzeugen aus den obersten Rängen versahen auf Bitten der Forschungsanstalt die Fahnen des Weltkriegswerkes mit ihren Anmerkungen. Zahllose Hinweise, Stellungnahmen oder Briefe schafften es nicht in die Druckfassung – gelegentlich auch deshalb, weil eine Veröffentlichung politisch unangebracht erschien.[25] Die Akten der Forschungsanstalt erlauben einen neuen Blick hinter die Kulissen der deutschen Führung. Weitere Bestände treten ergänzend hinzu: die...