The Stuff Of Legend
Den Geiger David Garrett hörte ich zum ersten Mal im Jahr 2011 im Rundfunk. Er spielte das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven. Weil mich sein Spiel an Menuhin erinnerte, blieb mir der Name David Garrett im Gedächtnis haften. Über den Geiger selbst wusste ich nichts.
Das änderte sich schlagartig. Ich saß mit einigen Freunden nach dem Finale der Beethoven Competition für Klavier in Bonn zusammen. Bei dem Gedanken, einen solchen Wettbewerb in der Beethovenstadt auch für die Violine zu verankern, erzählte ich von meinem musikalischen Hörerlebnis mit dem Geiger David Garrett. Die Reaktion glich einer Explosion der Ablehnung. Ich war verblüfft. Was geschah hier? Hatten die Leute keine Ohren? In diesem Moment erwachte eine gewaltige Widerspruchslust in mir. Vor allem aber wurde ich neugierig darauf, wer dieser Geiger war und warum Menschen so leidenschaftlich auf ihn reagierten. Ich begab mich auf Spurensuche.
War ich in den Bann der Violine geraten, als ich Beethovens Violinkonzert mit Garrett hörte, so geriet ich bei meinen Recherchen in den Bann seiner Person. Dieser Bann steigerte sich, als ich ihn live auf den Bühnen spielen sah. Es geht einem durch und durch, wenn er so greifbar nah vor einem steht, sagte eine Freundin im Opernhaus von Neapel, als wir vorne im Parkett wenige Meter entfernt das Violinkonzert von Max Bruch mit ihm hörten.
Mehr und mehr wurde mir klar, was die klassische Musikwelt bei diesem Geiger bewegt. Er fordert zum Widerspruch geradezu heraus, denn er ist ein außergewöhnlicher Geiger und ein ungewöhnlicher Mensch.
Er macht wahr, was andere sich nicht trauen. Er setzt seinen Sexappeal ein, um sein Ziel zu erreichen: möglichst viele Menschen in seine Konzerte zu locken und sie für klassische Geigenmusik zu gewinnen. Wie dereinst Paganini. Nicht teuflisch wie dieser, sondern erotisch. Versinnbildlicht auf dem Foto der Rückseite der CD Virtuoso: kniend mit weit ausgebreiteten Armen, triumphierend die Geige in der hoch erhobenen linken Hand, den Bogen in der hoch erhobenen Rechten, mit offenem Hemd und fliegenden Haaren, aber mit geschlossenen Augen und einem entrückt begeisterten Gesichtsausdruck, in schwarzem Jackett und schwarzen Hosen, die das weiße Hemd strahlend hell leuchten lassen.
Ein Sinnbild der Öffnung Ein Sinnbild der Verführung.
Die Wahrnehmungen von Garrett und die Reaktionen auf sein Violinspiel sind zahllos. Was Musik einem Menschen geben kann, Freude, Glück, Träume, aber auch Zielstrebigkeit, Ernsthaftigkeit, Rückschläge, Arbeit und Einsamkeit gibt er mit der Violinmusik an seine Zuhörer weiter. Sein kometenhafter Aufstieg zum weltweit bekannten Violinisten wurde als Phänomen wahrgenommen und enthusiastisch beschrieben. »David Garrett is already the stuff of legend – in him is enshrined an entire Corpus of virtuoso violin art, expounded with a fearsome beauty beyond comprehension« schrieb das BBC Music Magazine in seiner Ausgabe im Januar 20142. Mit dieser poetischen (an entire Corpus of virtuoso violin art), fast religiös-ehrfürchtigen (in him is enshrined) und staunend-bewundernden (a fearsome beauty beyond comprehension) Beschreibung versuchte das BBC Magazine, diesem Musikphänomen nahezukommen, denn Garrett wurde und wird tatsächlich von vielen als die Verkörperung einer »umfassenden virtuosen Violinkunst« wahrgenommen, die sich mit einer »erschreckenden Schönheit über das Begreifbare hinaus« ausdrückt. Mit 34 Jahren hatte er nicht nur den Stoff zur Legende, sondern er war bereits eine Legende. Bis heute »klingeln die Kassen, hagelt es Preise, jubeln Zehntausende«, wo immer er auftritt. Beide, der Crossover-Star und der klassische Geiger Garrett, üben eine große Anziehungskraft auf viele Menschen weltweit aus. Viele nehmen Geigenunterricht, und manche Ältere kramen sogar ihre alten Violinen hervor, um wieder Etüden zu üben.
In einer Zeit, in welcher der Zustand der klassischen Musik allgemein als kritisch gilt, sticht dieser Geiger hervor. Denn beim Blick in seine Violinkonzerte kommt man nicht auf die Idee, dass sich die Musik, die er spielt, in einer Krise befindet. Die großen Konzertsäle sind voll und ausverkauft, das Publikum aus einem Gemisch aller Alters- und sozialen Klassen steht Schlange. Das gilt für alle seine Konzerte, nicht nur für seine Crossover-Konzerte, sondern auch für seine klassischen einschließlich seiner kammermusikalischen Konzerte. Er demokratisiert klassische Musik und macht sie Klassik-Neulingen mit scheinbar leichter Hand zugänglich. Sein Ziel sind besonders die jungen Leute.
Die Konzerte Garretts sind im klassischen Musikbetrieb immer noch eine Ausnahme. Denn ein Blick in die Zuhörerreihen der »normalen« klassischen Konzerte lehrt viele klassische Musiker das Fürchten. Ihre Musik ergraut. Der Blick in Konzerthallen und Opernhäuser zeigt: Grau in Grau, mit weißen Einsprengseln und ein bisschen Farbe. Das Publikum klassischer Musikveranstaltungen ist grauhaarig. Vor dem inneren Zukunfts-Auge passieren die nächsten Stationen der Entwicklung: Die Grauflächigkeit weicht der Weißflächigkeit, die freigehaltenen Plätze für Rollstühle nehmen erst zu und dann wieder ab, dann breiten sich Lücken in den Sitzplatzreihen aus, zum Schluss blickt man ins Leere.
Diese Entwicklung bereitet den Betroffenen des klassischen Musikbetriebes zunehmend Sorge. Viele suchen deshalb nach Wegen, die klassische Musik für ein junges Publikum zu öffnen. Auch die Medien nehmen sich seit längerem verstärkt dieses Themas an und machen Reklame. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung legte am 15. November 2014 als Verlagsspezial Nr. 8 ihrer Samstagsausgabe ein Heft mit dem Titel bei: »Taktvoll. Das Magazin für Ereignisse und Klänge«. Gleich auf den Seiten 4 und 5 sieht man ein großes Foto mit jungen Musikern. Es wird folgendermaßen kommentiert: »Die Zukunft vor Augen: Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, dirigiert den philharmonischen Nachwuchs der Orchesterakademie.« Das Foto und dieser Kommentar zeigen einen Musikbetrieb, der sich in den Reihen der Orchestermusiker um jungen Nachwuchs sorgt. Die Alterfahrenen, in diesem Fall der Dirigent Simon Rattle, fungieren als Mentoren oder lenken sogar noch aus dem Jenseits ihre Rekrutierung wie Herbert von Karajan, nach dessen Qualitätsvorgaben die jungen Musiker in diese Kaderschmiede des klassischen Musikernachwuchses aufgenommen werden.
Der Kommentar verheißt den jungen Musikern und damit auch der klassischen Musik eine hoffnungsvolle Zukunft. Verheißungen jedoch gehören in den Bereich der Hoffnung, nicht in den der Realität. Ein realistischer Blick in die Zukunft geht in drei Richtungen: zu der Musik, zu den Musikern und zum Publikum. Sicher lebt klassische Musik von denen, die sie machen. Aber Musik zu machen ist kein Selbstzweck. Denn nach der Freude über den Erfolg, in diese Kaderschmiede der Exzellenz mit einer monatlichen Unterstützung von 950 Euro aufgenommen worden zu sein, kommt die Ernüchterung der Lebenswirklichkeit, also die Frage nach einer Anstellung und einem Einkommen, mit dem sich auch mit einer Familie überleben lässt. Das aber werden die jungen Musiker nur erhalten, wenn sie ein Publikum haben, vor dem sie ihre Kunst zeigen können.
Klassische Musik wird von vielen als Musik für die Ewigkeit empfunden, als zeitlos, ein Empfinden, wie es David Garrett in dem CD-Titel Timeless für die Violinkonzerte von Max Bruch und Johannes Brahms zum Ausdruck bringt. Ohne Zuhörer schrumpft diese Ewigkeit aber rasant, denn mit dem entschwindenden alten Publikum entschwindet auch die klassische Musik, selbst in hehren Musiktempeln wie der Berliner Philharmonie. Ohne Publikum wird sie in die Mülltonne gestoßen oder landet als Anlageobjekt in den Safes der Wohlhabenden, neben den anderen Kulturschätzen der Welt. Zurück bleiben all die hochqualifizierten Nachwuchs-Pianisten, Geiger, Sänger, Dirigenten und Orchestermusiker. Wohin mit ihnen ohne ein neues, junges Publikum? Betroffene des klassischen Musikbetriebes nehmen diese Frage zunehmend ernst. Immer mehr setzt sich die Einsicht durch, dass zur Nachwuchsförderung für klassische Musik nicht nur die Förderung junger Musiker, sondern auch die Förderung eines jungen Publikums gehört. Die Frage ist nur, wie man das bewerkstelligen kann. An der Musik liegt es nicht, denn die Schönheiten klassischer Musik erschließen sich auch den Jungen. Auch für sie gilt, dass schön ist, was wir sehen, schöner noch, was wir kennen, bei weitem am schönsten aber, was wir nicht begreifen.
Der Geiger Garrett blieb nicht zurück.
Er fand das Zauberwort des »Sesam öffne dich« aus Tausend und einer Nacht, er fand den Zauberschlüssel, um die Felsentore der klassischen Musik für ein neues und junges Publikum zu öffnen und es zu den Wundern ihrer verborgenen Schätze zu führen. Als junger Geiger hatte er eine Vision, wie dieser Zauberschlüssel aussehen könnte: Klassische Musik im Crossover-Gewand. Mit ihm sah er...