Ein altes Gewerbe
Die Buchbinder schotteten sich seit dem 16. Jahrhundert durch einen strengen Zunftzwang, seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch einen entsprechenden Innungszwang gegen unliebsame Konkurrenz ab. Dabei wurde u.a. die Zahl der Lehrlinge und Gesellen je Buchbindermeister in der Regel durch die Innung begrenzt. Eine Niederlassung eines ortsfremden Meisters war fast nur durch Verwandtschaft oder Einheirat in einen bestehenden Buchbinderbetrieb möglich. Wie es Wilhelm Theodor Knaur unter diesen Voraussetzungen möglich war, seine Firma in einer Stadt mit derart vielen Buchbindereien zu gründen, ist nicht überliefert. Jegliche Information über die Herkunft der Familie fehlt. Knaur war bei der Gründung des Betriebs achtundzwanzig Jahre alt und musste als Buchbindermeister damit die Stationen als Lehrling und Geselle bereits durchlaufen haben. Das bedeutete in der Regel eine Lehrlingszeit von drei oder vier Jahren und eine ebenso lange Wanderzeit als Geselle.
Wie stark die Buchbinderinnung auf Abschottung des Gewerbes gegenüber neuen Anbietern aus war, zeigen Entscheidungen der Leipziger Innung. So verbot sie 1816 Breitkopf und Härtel sowie 1824 Teubner, eigene Buchbindergesellen einzustellen, und 1833 wurde Brockhaus auf Drängen der Innung untersagt, eine eigene Buchbinderei zu errichten.
Auch nach Einführung der Gewerbefreiheit in Sachsen im Jahr 1862 bestanden vielerorts die Innungen als freiwillige Vereinigungen fort – so auch in Leipzig, wo die Innung 1894 stolz ihr 350-jähriges Bestehen feierte.[4] Zur Sicherung ihres Vertretungsanspruchs öffnete sie sich hier für selbstständige Buchbinder, die bisher außerhalb der Innung standen. Auch die Großbuchbindereien gehörten diesen Innungen an; ihre Inhaber standen oft an deren Spitze. 1894 hatte die Leipziger Innung 118 Mitglieder mit rund 2200 Beschäftigten, was einen relativ geringen Zuwachs gegenüber der Zeit der Knaurschen Betriebsgründung rund fünfzig Jahre zuvor bedeutet. Der Innung nicht angehörende Buchbindereien beschäftigten etwa die Hälfte. Nur zwölf der Innungsmitglieder arbeiteten mit Dampfkraft, darunter auch Knaur, was den Schluss zulässt, dass die Innungsmitglieder weiterhin überwiegend handwerklich orientiert waren, während viele der Großbuchbindereien nicht der Innung angehörten.
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Buchbinder war zwar seit alters ein angesehener Berufsstand, aber das Buchbindereigeschäft, das heißt die wirtschaftliche Lage der Betriebe, war oft schlecht. Das führte häufig dazu, dass die Betriebe vom Buchbinden allein nicht leben konnten und daher weitere Produkte anboten. Der Historiker des Buchbinderhandwerks, Hellmuth Helwig, hat das plastisch beschrieben: »Das Buchbindergewerbe besaß einen ›universalen‹ Charakter, denn alles, was mit Kleistertopf und Leimpinsel in Berührung stand, gehörte zu seinem Arbeitsgebiet.«[5] Das reichte von der Herstellung von Geschäftsbüchern und Alben, von Kartonagen, Kalendern, Bilderrahmen, Lampenschirmen und Futteralen bis zur Verarbeitung von Papier zu Schreibheften, Notizbüchern und Blocks. Bezeichnenderweise trug die Allgemeine Buchbinder-Zeitung im Jahr 1878 den Untertitel »Organ für Buchbinder, Portefeuiller, Etuis-Cartonnage-Arbeiter und Liniirer«.
Ein aufwendig gestalteter Leistungskatalog der Buchbinderei Knaur aus dem Jahr 1882. Rechts eine Einbanddecke für die beliebte Familienzeitschrift Daheim.
© Bibliothek des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler
Bei Knaur zeigt sich das darin, dass 1852 der Eintrag in das Handelsregister um den Zusatz »Portefeuille- u. Galanteriearbeiter« ergänzt wurde. Seit 1893 findet sich die Firmenbezeichnung »Buchbindereigeschäft, Comptoir-Bedarfsartikel u. Geschäftsbücher«. In einer undatierten Anzeige, die aus den 1890er-Jahren stammt und die mit der Nennung des Gründungdatums 1846 auf die Tradition der Firma verweist, firmiert Knaur als »Dampfbuchbinderei, Verlagsbuchhandlung und Einbanddeckengeschäft«. Neben »Prachteinbanddecken für die gangbarsten Zeitschriften, Lexika u. Prachtwerke« werden u.a. »Kaffeehausmappen«, »Speise- und Weinkarten in Leder und Leinen« sowie »Photographiemappen in allen Grössen« angeboten.[6] Der Geschäftsumfang wird im ungewöhnlich ausführlichen Eintrag im Adressbuch des Deutschen Buchhandels für 1896 deutlich: »Empfehle mein Lager von Einbanddecken für Zeitschriften, Lexika u. verschiedene Prachtwerke, besonders auch Mappen für Diplome in künstlerischer Ausführung, Photographie-Mappen in reichster Pressung, Meldekarten und Umschläge, sowie Meldekarten-Etuis für Offiziere. Wetterfeste Durchlesetaschen zum Schutz für Karten-Pläne, Schriftstücke etc. Ferner mein Lager aller gangbaren Geschäftsbücher und Anfertigung nach jedem Schema, ebenso die in neun verschiedenen Einbänden je in einfachen und in Doppelbänden vorrätigen Klassiker-Oktav-Ausg. [Hervorhebung im Original] etc. Kataloge bitte gefl. zu verlangen. Meine Buchbinderei mit Dampfbetrieb halte ich zur gefl. Benutzung bestens empfohlen.«[7] Das heißt, Knaur agiert hier einerseits als traditionelles Handwerksunternehmen, andererseits auch als »Großbuchbinderei«, wie die Firma später im Leipziger Adressbuch (1906) verzeichnet ist, und als Verlag, was aber nur am Ende des Eintrags und eher beiläufig erwähnt wird.
Knaur gründete seine Buchbinderei zu einer Zeit, als der Umbruch vom traditionsreichen Handwerksbetrieb zur industriellen Großbuchbinderei gerade begann.[8] Die traditionelle Form der Einbandherstellung in der Werkstatt des Buchbinder-Handwerkers, in der – vom Meister persönlich überwacht – vom Falzen bis zum Vergolden ein Arbeitsschritt auf den anderen folgte, wurde ersetzt durch mehrere, nebeneinander existierende Herstellungsstufen.
Anzeige aus den 1890er-Jahren. Bemerkenswert, dass zwar die Verlagsbuchhandlung erwähnt wird, es jedoch keinen Hinweis auf das Programm gibt.
Damit änderte sich grundlegend das Berufsbild des Buchbinders. Von einem nach festen Innungsregeln ausgebildeten und arbeitenden Handwerker, der in einer nach patriarchalischen Prinzipien aufgebauten Werkstatt arbeitete, wurde der Buchbinder zum Fabrikbesitzer, der über eine mehr oder minder große Anzahl von Arbeitskräften und Maschinen verfügte.
Die Gründe dieses Wandels sind vielfältig und im großen Rahmen der Entstehung einer Massenkommunikationsgesellschaft im 19. Jahrhundert zu sehen. Drei treibende Faktoren sind auszumachen. Erstens die Bevölkerungsentwicklung, einhergehend mit einer zunehmenden Verstädterung: In dem halben Jahrhundert zwischen 1860 und 1910 verdoppelte sich die Einwohnerzahl Deutschlands fast und stieg von rund 36 Millionen auf 65 Millionen. Die Zahl der Großstädte versechsfachte sich zwischen 1870 und 1910 von acht auf 48.
Die Dampfbuchbinderei H. Sperling in Leipzig in einer Darstellung aus dem Jahr 1880.
© Biesalski, Ernst-Peter: Die Mechanisierung der deutschen Buchbinderei 1850–1900. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 36, 1991, S. 66
Zweitens die Bildungsexpansion im Gefolge der Einführung der allgemeinen Schulpflicht: Zwischen 1830 und 1900 stieg der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung von 40 auf 90 Prozent. Neue Leserschichten drängten auf den Markt, der mit einer Massenproduktion, vor allem von Unterhaltungsliteratur, reagierte. Drittens die Industrialisierung und die dadurch ausgelösten technischen Innovationen im Buchwesen: So fand zwischen 1830 und 1880 eine »Revolutionierung der Buchherstellung« statt.[9] Erfindungen bei der Papierherstellung, im Satzbereich, bei der Reproduktion von Abbildungen, in der Drucktechnik und in der Buchbinderei veränderten die Produktionsprozesse und Abläufe grundlegend.
In den Buchbindereien realisierte sich dieser Wandel im Einsatz neuer Maschinen, die nach Vorläufern in England und den USA seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland entwickelt wurden. Vom 17. Jahrhundert bis etwa 1840 war Buchbinden im wörtlichen Sinn ein Hand-Werk ohne technische Hilfsmittel und Maschinen. Einzige Ausnahme war die Stockpresse. Jetzt kamen u.a. die Schneidemaschine (Frankreich, seit 1837), die Falzmaschine (England, seit 1849), die Drahtheftmaschine (Deutschland, seit 1875) und die Fadenheftmaschine (Deutschland, seit 1884) hinzu.[10]
Mit diesen Maschinen konnten die Buchbinder auf die neuen Anforderungen des Markts reagieren. Bis zur Mitte des Jahrhunderts hatten die Verleger vorwiegend ungebunden bzw. broschiert geliefert, und der Kunde musste seinen individuellen Einband selbst in Auftrag geben. Mit der Erfindung der maschinellen Buchbinderei wurde es möglich, die Verlagsauflage oder Teile davon maschinell preiswert aufzubinden und lieferbar bereitzuhalten. Der sogenannte Verlegereinband war...