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»Du spürst deine Verpflichtungen gegenüber einem Kind, wenn du es gesehen und im Arm gehalten hast. Jedes menschliche Antlitz ist ein an dich gerichteter Anspruch, du kannst nicht anders, du musst die Einzigartigkeit, den Mut und die Einsamkeit dessen anerkennen. Und nie trifft dies stärker zu als beim Antlitz eines Kindes. Ich betrachte dies als eine Art Vision, die so mystisch ist wie jede andere.«
Marilynne Robinson, Gilead
Was konnte ich jetzt, nach Ronans Diagnose, über meinen Sohn, über mein Muttersein schreiben? Was hatte ich in diesen wenigen Tagen von den anderen Müttern, die Kinder mit Tay-Sachs oder ähnlichen Krankheiten hatten, gelernt? Wie erzieht man ein Kind ohne Zukunft, wenn man weiß, dass man das Kind immer ein bitteres Bisschen mehr verliert? War das überhaupt Erziehung oder war es etwas anderes? Und wenn ja, was? Ich setzte mich an den Schreibtisch, wütend, dass es so wenige Informationen und Hilfsangebote für Eltern wie uns gibt. Eltern, deren größte Sorge nicht etwa ist, ob ihre Kinder in Harvard angenommen werden oder Preise für ihr Klaviervorspiel bekommen, und auch nicht, ob sie produktiv und liebenswürdig oder gut in der Schule sind, sondern wie sie es Tag für Tag bewerkstelligen sollen, das kurze Leben ihres Kindes so erfüllt wie möglich zu gestalten, zwei, drei, maximal sechs Jahre lang, je nachdem, wie schnell die Erkrankung fortschreitet und wie stark medizinisch eingegriffen wird. Was soll ich jetzt lesen?, fragte ich mich, als ich all die Erziehungsratgeber und Babybücher und Entwicklungstabellen in den Müll warf. Die Erziehungsstrategie von Eltern mit todkranken Kindern orientiert sich an der schrecklichen Realität, dass wir unsere Kinder nicht in eine strahlende und verheißungsvolle Zukunft entlassen, sondern in ein frühes Grab. Die Ziele, die wir für unsere Kinder haben, sind einfach und furchtbar und ganz und gar am Alltag ausgerichtet: Würde und maximale Beschwerdefreiheit.
Es war absolut deprimierend. Die Mütter, mit denen ich telefonierte, sprachen ganz offen über die Schrecken, die mir bevorstanden. Doch ich sollte lernen, dass es auch eine gewisse Weisheit mit sich brachte, Ronans Mutter zu sein, ein besonderes Wissen – so erzwungen und unwillkommen es auch war – um die menschliche Erfahrung, zu der die Realität des Todes dazugehört, auch wenn sie in den meisten Erziehungsratgebern und -webseiten nicht auftaucht. Eltern von sterbenden Kindern lernen aus eigenem schweren Erleben, durch das Prisma von höllischer Trauer und Hilflosigkeit und inniger, zugewandter Liebe, was Kindererziehung bedeutet. Diese Frauen hatten nicht nur gelernt, Mutter zu sein. Sie hatten auch gelernt, Mensch zu sein.
Doch Kindererziehung um ihrer selbst willen, der tiefen Menschlichkeit des Aktes an sich, widersprach allem, was in den vielen Zeitschriften stand, die ich als Schwangere und dann als frisch gebackene Mutter verschlungen hatte. Aus der grundlegenden Aufgabe der Kindererziehung »Tu, was du kannst, damit dein Kind am Leben bleibt«, bis ins 19. Jahrhundert wichtigstes Ziel aller Eltern, war diese Herausforderung geworden: »Gib deinem Kind von Anfang an das Rüstzeug (hier ist es und diese Studien hier beweisen, dass die teuren Kinderwagen, Spezialfläschchen, die Kleidung aus Biobaumwolle, die Nachhilfelehrer, beliebten Programme und so weiter die besten sind), damit es in die beste Vorschule, Schule, Highschool, Universität kommt, was dann wiederum den besten Partner, Lebenslauf, Job, Sparvertrag, das beste Leben garantiert.« Diese enormen Anstrengungen basieren auf der unausgesprochenen – und falschen – Annahme, das Schicksal eines Kindes läge ganz in der Hand der Eltern. Mütter und Väter im viktorianischen London hatten da ganz andere Sorgen: simple Dinge wie Sauberkeit und dass sich die Kinder auf den schmutzigen, von Menschen wimmelnden Straßen nicht mit gefährlichen Krankheiten ansteckten. Für viele Eltern in vielen Teilen der Welt sind das auch heute noch sehr reale Probleme.
Erziehungsratschläge sind, das liegt in der Natur der Sache, zukunftsorientiert. Also mied ich die Elternzeitschriften beim Kinderarzt mit ihren Artikeln über die Stimulierung der Sinneswahrnehmung und der sprachlichen Entwicklung des Kindes; über den Umgang mit Schreibabys; die Regeln für Spielverabredungen; von dieser oder jener Promi-Mutter beworbene Konfektionslinien.
Zukunft, Zukunft, Zukunft. Kurz bevor ich anfing, Elternzeitschriften zu boykottieren, stieß ich in einer davon auf diesen »Persönlichkeitstest« für Leute meines Alters, mit meinem Bildungsniveau und in meiner »Lebensphase«:
Was ist heutzutage für Eltern die größte Herausforderung?
~ Internet- und Handygebrauch überwachen
~ Freunde der Kinder mit einem laxeren Elternhaus
~ Den Kindern helfen, mit den vielen Tests und dem Druck in der Schule fertigzuwerden
~ Kinder werden heutzutage zu früh erwachsen!
Und hier einige mögliche Optionen für Eltern eines Kindes mit Tay-Sachs oder einer anderen unheilbaren Krankheit:
~ Beim Aufwachen am Morgen die nächste Phase der Krankheit fürchten (Lähmung, Erblindung, Taubheit, Spastik, Krampfanfälle, Tod)
~ Erkennen, wer deine wahren Freunde sind und wie unangenehm den Leuten Krankheit ist
~ KRANKENVERSICHERUNG
~ Kinder mit Tay-Sachs werden nie erwachsen!
Allerdings war mein Alltag mit Ronan in den Monaten nach der Diagnose, nachdem der erste Schock gewichen war, sehr friedlich. Ein normaler Tag bestand aus Schmusen, Füttern, Nickerchen; Ronan hatte Wassertherapie und Akupunktur und wenn er schlief, arbeitete ich. Abends gab es sein Babyessen (Erbsen!), Baden-Flasche-Bett und dann Abendessen für die Erwachsenen (aus dem Schnellimbiss). Gar nicht so untypisch für eine Familie, die den Spagat zwischen einem vollen Terminkalender und dem typischen Babytag probiert. Wir wollten das Beste für unser Kind, gaben ihm frische Lebensmittel zu essen, putzten ihm die Zähne, achteten darauf, dass es sauber und warm angezogen und gut ausgeruht war und … gesund?
Das nicht. Der furchtbare Haken an dieser Heimidylle einer privilegierten Mittelklassefamilie war nämlich der: Wie sehr Rick und ich uns auch bemühten – Ronan würde nur für den Moment etwas davon haben. Wir sagten ihm, dass wir ihn lieb hatten, auch wenn er die Worte nicht verstand. Ich ermunterte ihn zu tun, was er konnte, obwohl er kein Ego und keinen Ehrgeiz hatte. Babys sind keine Investitionen, die Zinsen abwerfen, sie sind keine Aktien oder Wertpapiere oder diversifizierten Portfolios, die man »in diesen Krisenzeiten« neu ordnen müsste. Sie sind Menschen und wie alle Menschen können und werden sie irgendwann sterben.
Früher hatte ich das anders gesehen. Während der Schwangerschaft und in Ronans ersten neun Lebensmonaten hatte ich mir ehrgeizige Ziele gesteckt, die, so hoffte ich, seine Entwicklung entscheidend voranbringen würden: Ich wollte verschiedene Sprachen mit ihm sprechen (Sprachentwicklung); ihn in den Arm nehmen, wenn er weinte (Bindung ist im ersten Lebensjahr besonders wichtig); für seine gesunde Gehirnentwicklung ausschließlich stillen (dazu ergriff ich außergewöhnliche und oft teure und schmerzhafte Maßnahmen). Wie sein Vater würde er in Rekordzeit Kreuzworträtsel lösen können. Wie ich wäre er ein experimentierfreudiger Esser und waghalsiger Sportler. Er wäre witzig und doch besonnen, loyal, fair und klug. Ich würde ihm Skifahren beibringen und Lesen und wie man mit einem Mini-Budget reist. Vielleicht würde er irgendetwas Weltbewegendes erfinden, Raumschiffe bauen oder als Modedesigner Kleidung aus recyceltem Abfall herstellen. Er wäre großzügig und gut aussehend. Die Frauen oder auch Männer würden sich um ihn reißen. Wunderkindträume waren mir beileibe nicht fremd.
Doch egal, was ich für Ronan tat – ob Biokost oder nicht, Stoff- oder Wegwerfwindeln, Attachment Parenting oder Schlaftraining, Muttermilch oder Flaschennahrung –, all diese Entscheidungen, die mir in seinen ersten Lebensmonaten so wichtig waren, er würde sterben. Und damit Schluss. Oder etwa nicht? Bei meinen Grübeleien in den frühen Morgen- und späten Abendstunden wurde mir irgendwann klar: Das Leben meines Sohnes würde zwar zu Ende gehen, aber das, was ich von ihm lernen konnte, war so magisch und mythisch wie eine Schöpfungsgeschichte. Wenn man sich das ganze Leben seines Kindes auf dessen Tod vorbereitet und damit lebt, dann braucht es eine besondere Entschlossenheit, eine besondere Denkweise, eine ganz andere Spezies.
Welche Kreatur symbolisiert diese moderne Liebesgeschichte, an der Ronan und Rick und ich und andere teilhatten, deren Wurzeln aber so uralt und rätselhaft waren wie das Tay-Sachs-Gen selbst? Was steht für uns, für uns Eltern, die wir lernen, mit Absauggeräten, Kathetern und Magensonden zu hantieren, Sauerstoffgeräte zu bedienen, uns bei der Versicherung durch schräge Telefonmenüs zu kämpfen und mit Vorurteilen umzugehen, damit sich unsere Kinder wohlfühlen, geliebt werden und so lange wie möglich auf der Welt bleiben? Wer sind diese Mütter, die in Supermärkten auf alle möglichen dreisten Fragen antworten (»Was hat denn Ihr Baby?« oder »Wie können Sie Ihr Kind so herumschleppen, man sieht doch, dass es völlig...