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Ostkreuz

Erwachsenwerden in der Wendezeit. Autobiografischer Roman

AutorChristian Mackrodt
VerlagEden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783944296616
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Freiheit, Liebe und Ekstase: Christian Mackrodt erzählt eine Geschichte vom Erwachsenwerden in Zeiten der gesellschaftlichen Umwälzungen. Krischan und seine Freunde wachsen in Ostberlin in der Plattenbausiedlung Marzahn auf. Nach der Wende zieht es die jungen Erwachsenen nach Friedrichshain, wo sie die neu gewonnene Freiheit genießen: Sie leben in den Tag hinein, verbringen die Nächte auf den Tanzflächen Berlins und verlieren sich im Drogenrausch. Arbeiten gehen sie nur dann, wenn gerade das Geld knapp ist. Den fehlenden Halt in seinem Leben sucht Krischan bei der Schülerin Katja: In den Zeiten des Umbruchs erlebt das Paar gemeinsam die erste große Liebe. Authentisch und mitreißend erzählt Christian Mackrodt die Geschichte seiner Jugend vor dem Hintergrund der Wendejahre.

Christian Mackrodt wurde 1975 in Ostberlin geboren. Während er seine DDR-Jugend hauptsächlich mit Sport verbrachte, begeisterte er sich nach der Wende für Graffiti, Punkrock, Literatur und Fahrräder. Christian Mackrodt ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Berlin-Treptow.

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Leseprobe

2.


An einem Freitagnachmittag, ungefähr fünf Wochen später, lief ich in meiner Wohnung umher und wartete auf Milan. Wir hatten uns im alten Vorstadt-Stil lose verabredet, er war zu spät. Ich räumte irgendwas aus der Küche ins Zimmer und ging in die Küche zurück. Die Wohnung bot nicht viel Platz, um sich zu bewegen, aber sitzen wollte ich auch nicht. Am gardinenlosen Küchenfenster blieb ich vor dem kleinen Tisch stehen und sah, wie schon oft zuvor, den Fußballspielern zu. Über den Hinterhof konnte man die linke Hälfte des Sportplatzes auf der anderen Seite der Weserstraße sehen, weil der große Krieg den gegenüberliegenden Seitenflügel mit sich genommen hatte. Die Sonne schien, aber nicht in mein Fenster, das fast reine Nordseite war. Während es draußen schon Frühling wurde, verharrte bei mir, wie in vielen anderen Hinterhofwohnungen des Friedrichshains, der Winter. Kalte Mauern und ein nicht mehr beheizter Ofen verzögerten den Wechsel der Jahreszeiten erheblich. Auf der Straße erkannte ich die anderen Hinterhofbewohner daran, dass sie mindestens eine Jacke zu viel angezogen hatten und ungläubig in den Himmel schauten, wenn sie aus ihren Häusern ins Licht traten. Im Moment versuchte ich, der Kälte mit dicken Socken und jamaikanischer Musik beizukommen. Kohlen hatte ich keine mehr im Keller. Ich räumte das benutzte Geschirr der letzten zwei oder drei Tage in die Spüle und hob den Toaster wieder auf den Tisch. Beim Frühstück hatte ich ihn mir zwischen die Beine gestellt und als Heizung benutzt. Auf Abwaschen hatte ich keine Lust, der Boiler war seit Tagen ausgeschaltet und meine Hände trocken und rissig. Das Spiel verließ, bis auf den Torhüter und zwei recht unbeteiligt wirkende Verteidiger, die linke Seite. Ich fühlte ein Kribbeln im Bauch und lief etwas planlos zurück ins Zimmer. Die Aussicht war hier dieselbe wie in der Küche. Mehr Fenster hatte ich nicht. Ich wechselte die Platte und kratzte mich am Kopf. Das Warten und meine Wohnung machten mich nervös.

Die durchweg sonnigen Tage der vorangegangenen Woche hatten einander wie ein Ei dem anderen geähnelt. In meiner Erinnerung vermischten sie sich miteinander und ­verschwammen zu einem einzigen Tag: Ich schlief bis Anschlag aus, hörte beim Aufstehen chillige Musik, frühstückte täglich härter werdendes Brot mit Erdnussbutter und Käse, trank grünen Tee und ging dann bei Jan vorbei. Dazu musste ich meine vier Treppen runter, über den Hof, rechts aus dem Haus, fünfzig Meter die Weserstraße entlang und noch mal hundert die Neue Bahnhofstraße hoch. Wenn die Putztruppe die Stahltür zum Puff neben meinem Haus aufgelassen hatte, glotzte ich jedes Mal wie von einer fremden Macht gesteuert rein. Der fleckige rote Samt sah bei Tageslicht unappetitlich aus. An der Ecke zur Neuen Bahnhofstraße blieb ich kurz vor der Litfaßsäule stehen und checkte die Tafel mit dem Tagesgericht der Assi­kneipe. Hier gab es immer nur Klassiker: Pferderouladen, Eisbein mit Erbspüree, Brühpolnische mit Kartoffelsalat, Karpfen blau. Für mich als Vegetarier hatten diese Schrecklichkeiten etwas abstoßend Lustiges, wie Splatter-Szenen in den Filmen von Peter Jackson. Dann lief ich die Neue Bahnhofstraße hoch. Von allen Straßen des Friedrichshains war sie wahrscheinlich die hässlichste: vierspurig, mit extrem schmalen Gehwegen, an denen sich lückenlos graue und braune Hausfassaden aneinanderreihten, zugekackt, dicht beparkt und mit ungefähr acht traurigen Bäumen auf dem ganzen Stück zwischen Weserstraße und Boxhagener. Einzig die Eldenaer Straße konnte ihr in puncto Ungastlichkeit das Wasser reichen. Ich ging an dem geschlossenen Spätkauf, dem kleinen Secondhandshop und dem Ökoladen der weißen Rastafrau vorbei, kurz vor der Boxhagener Straße erreichte ich dann Jans Haus. Seine Hofeinfahrt roch immer nach Urin. Wenn es weniger als zwanzig Grad waren, trocknete die Pissepfütze hinter der äußeren Tür erst gar nicht. Schuld war die Dönerbude an der Ecke. Da half es auch nicht, dass Jan in großen Buchstaben »WER HIER HIN PISST KRIEGT AUFS MAUL!!« oberhalb der Briefkästen an die Wand geschrieben hatte. Über den immerhin mit einem Baum bepflanzten, aber sonst nur zum Abstellen von Müllcontainern benutzten Hof kam ich in das Hinterhaus. Ich stieg die zwei Treppen zu Jans Wohnung hinauf und passierte dabei auf halber Strecke sein Außenklo. Es sah hier eher nach einem Club als nach einem Mietshaus aus. Die Wände des Treppenhauses waren unsauber rot gestrichen und mit Plakaten beklebt. Sie kündigten unter anderem die Skata­lites im SO36 an, riefen zum großen Mayday-Rave für den Erhalt des DDR-Jugendradios DT 64 auf und machten Werbung für die Per Anhalter durch die Galaxis-Show von Feeling B im Tränenpalast. Über den Plakaten befanden sich wiederum mehrere Schichten Tags und Spuckis, wobei ich vor allem die »Teetrinken gegen Ausländerfeindlichkeit«-Aufkleber von Grufti-Steffen immer noch lustig fand. An Jans zigfach übersprühter Wohnungstür hing ein vom Mehrfachgebrauch abgenutzter Zettel, der mir mitteilte: »Bin aufm Dach.«

Über das Treppenhaus des kaum mehr bewohnten Seitenflügels gelangte ich auf den Dachboden, der mit Gerümpel aus Ostzeiten vollgestellt war. Von dort brachte mich eine hohe und wacklige Holzleiter schwingend und knarzend aufs Dach, das etwas von einem verschrobenen Schrebergarten hatte. Ausgeblichene bunte Teppiche lagen auf dem brüchigen und welligen Teer, es gab eine Parkbank, einen Couchtisch mit abgesägten Beinen und jede Menge mit Erde gefüllte Farbeimer, in denen Marihuanapflanzen ungestört und ungepflegt vor sich hin wuchsen. Die grauen, gemauerten Schornsteinschächte waren alle mit irgend­welchen bunten Bildern besprüht. Auf einem flatterte eine rot-gelb-grüne Flagge, auf einem anderen stand »Jah Rule«. Zur Neuen Bahnhofstraße hin begrenzte ein kleines, wie aufgesetzt wirkendes Spitzdach die Spielwiese. An seine roten Schindeln konnte man sich prima anlehnen und nach Westen in Richtung Innenstadt blicken. Außerdem dämpfte das Dach den von der Ampelkreuzung nach oben dringenden Autolärm. Jan saß auf einem der Teppiche zwischen seinen Musikinstrumenten und las in einem Buch. Als er mir dabei zusah, wie ich umständlich aus der Luke kletterte und über das schmale, leicht abschüssige Dach des Seitenflügels zu ihm hinlief, verrieten seine Augen sofort, dass er schon was geraucht hatte. Jans Augen waren tiefdunkelblau und ruhig, er selbst drahtig und mittelgroß. Seine Frisur war wie ein Mix aus seiner Vergangenheit als Skinhead und seinem neuen Leben als Kiffer und Freak. Er hatte eine Glatze, ließ sich aber am Hinterkopf einen Büschel Haare wachsen, der lustig abstand. Seine Klamotten spiegelten den gleichen Stilmix wider. Er trug flache Baustellenschuhe aus einem Arbeitsbekleidungsgeschäft, klassische enge Jeans und ein Jamiroquai-T-Shirt mit spacigem Aufdruck. Als ich sein Lager erreicht hatte, mussten wir beide erst mal breit grinsen.

»Na, was gibt’s heute in der Kneipe zum Mittag?«

»Tote Oma, mit Sauerkraut und Salzkartoffeln.«

Jan fing an zu kichern.

»Und, wie geht’s?«, fragte ich ihn.

Er kicherte sich aus, bevor er mir antwortete.

»Na ja, is super Wetter, die Arbeit is fern, ick würde sagen, es geht gut.«

Ich setzte mich hin und fragte nach einer kurzen Pause weiter:

»Haste heute was vor?«

»Nee. Du?«

»Nee.«

»Na super!«

Er fing wieder an zu kichern. Seine Augen blitzten vor Freude über die viele freie Zeit.

»Ich werde erst mal ein Pfeifchen rauchen, um ein bisschen aufzuholen«, sagte ich dann mehr zu mir selbst. Jan reichte mir, ohne zu zögern, die kleine Blechdose mit den Rauchutensilien.

»Alter, das ist das Beste, was du an so ’nem Tag wie heute machen kannst. Ich hoffe nur, du hast deine Essensmarken nicht vergessen.«

Jetzt mussten wir beide kichern, weil wir uns an das eklige ostdeutsche Schulessen erinnerten und froh waren, dass sowohl der Osten als auch die Schule für uns der Vergangenheit angehörten. Für mich war es immer noch aufregend und irgendwie neu, an einem Wochentag keinerlei fremdbestimmter Beschäftigung nachzugehen und stattdessen rumzuhängen. Es hatte etwas von Freiheit und Schuld gleichzeitig, wie Schule schwänzen, nur in einer anderen, endgültigeren Dimension. Meistens mochte ich dieses Gefühl, denn ich glaubte an die Schönheit des Lebens und die Versprechen der Zukunft. Jan bestärkte mich in diesem Glauben. Er kannte sich mit der Freiheit schon ganz gut aus und half mir, gelegentliche Zweifel zu zerstreuen.

In den Mittagsstunden rauchten wir uns unter freiem Himmel und der schon angenehm wärmenden Sonne in ein schweres Marok-High. Die kleine Maiskolbenpfeife mit dem Strohhalm als Mundstück und das Feuerzeug gingen zwischen uns hin und her. Das Haschisch kribbelte in meiner Nase und brachte mich zum Niesen. Seine Wirkung setzte etwas zeitverzögert ein. Es kam langsam von unten aus dem Bauch, kroch in die Lunge und den Hals und spülte zum Schluss in den Kopf. Wir ließen den ersten Kick vorübergehen, dann machten wir Musik. Jan spielte Didgeridoo und ich Djembe oder Gitarre. Unsere Sessions, in denen wir uns ausgehend von einem einfachen Grundrhythmus treiben ließen, dauerten eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Jan schlug diesen Grundrhythmus in der Regel mit zwei Klanghölzern. Die sich im ­Dialog entwickelnde primitive Musik half unseren Gedanken dabei, klar zu werden, und ließ uns davonfliegen. Hatten wir ein Thema ausgereizt oder den Draht zueinander verloren, fanden wir mühelos ein mehr oder weniger schlüssiges Ende. Im Anschluss saßen oder lagen wir stumm auf dem Dach in der Sonne und horchten nach innen. Als wir sanft gelandet waren, redeten wir eine Weile über die...

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