Diese Übernahme hätte ein Mega-Deal werden können, wie er nur alle Jahrzehnte vorkommt. Der deutsche E.on-Konzern wollte das spanische Elektrizitätsunternehmen Endesa für letztendlich 42,3 Mrd. Euro übernehmen. Noch nie zuvor hatte ein europäisches Unternehmen ein solch hohes Barangebot für eine Akquisition abgegeben (Flauger, 2006/a: 12).
Am 21.02.2006 präsentierte Dr. Wulf Bernotat, der Vorstandsvorsitzende der E.on AG, in Madrid ein öffentliches Übernahmeangebot für 100% der Anteile an Endesa. Die Offerte, die komplett in bar gezahlt werden sollte, belief sich zu diesem Zeitpunkt mit 27,50 Euro pro Endesa-Aktie auf insgesamt 29,1 Mrd. Euro (E.on, 2006/a: 2).
Jedoch war E.on nicht das einzige Unternehmen, welches Interesse an Endesa zeigte. Bereits am 05.09.2005 hatte der spanische Gasversorger Gas Natural S.A. aus Barcelona ein öffentliches Übernahmeangebot für den Stromanbieter Endesa S. A. aus Madrid lanciert. Diese Übernahme hätte ein Volumen von 22,6 Mrd. Euro gehabt. Das Unternehmen wollte ebenfalls 100% der Endesa Anteile erwerben und bewertete die Aktie mit 21,30 Euro (Gas Natural, 2005: 2).
Durch die Gegenofferte von E.on wurde der ein Jahr andauernde Bieterkampf zwischen Gas Natural und E.on um Endesa ausgelöst. Im Verlauf der Zeit gewann der Konflikt zwischen den Unternehmen an Komplexität. Immer mehr Akteure schalteten sich in den Bieterwettbewerb ein, da sie ihre eigenen Interessen durch den Konflikt gefährdet sahen. Sie unterstützten beabsichtigt oder unbeabsichtigt eine der beiden Energiekonzerne bei ihrer Zielrealisation und veränderten dadurch die ursprüngliche Konfliktsituation.
In der folgenden Konfliktanalyse wird der Verteilungskonflikt um Endesa systematisch in seine unternehmenspolitischen Bestandteile aufgeteilt. Die chronologische Darstellung des Konfliktes ist dadurch nicht immer gewährleistet. Um deutlich zu machen, welcher Akteur zu welchem Zeitpunkt in den Konflikt ein- bzw. ausgetreten ist und um die Reihenfolge der Zielsicherungsmaßnahmen aufzuzeigen, wurde der Konflikt in Abbildung G- 2 im Anhang im Zeitverlauf dargestellt.
Seit einigen Jahren kann man auf dem europäischen Energiemarkt eine Übernahmewelle beobachten (Flauger, 2005/a: 2). Das französische Unternehmen Electricité de France akquirierte den italienischen Versorger Edison, während Suez den belgischen Stromanbieter Electrabel übernahm. Auch der deutsche E.on-Konzern kündete Anfang 2005 an, dass das Unternehmen sein organisches Wachstum durch gezielte Akquisitionen im europäischen Markt ergänzen werde (E.on, 2005/a: 6). Noch im selben Jahr akquirierte E.on u.a. den rumänischen Versorger Electrica Moldova S.A (E.on, 2005/b) und das niederländische Strom- und Gasunternehmen NRE Energie B.V. (E.on, 2005/c). Der spanische Gasversorger Gas Natural zeigte mit dem Erwerb der italienischen Energieunternehmen Nettis, Smedigas und Brancato ebenfalls sein Interesse am externen Wachstum in Europa (Gas Natural, 2004/a).
Eine motivierende Situation für die derzeitigen Übernahmebestrebungen der Energieunternehmen kann in der Liberalisierung des europäischen Energiemarktes gefunden werden. Die Öffnung der Strom- und Gasmärkte wird langfristig dazu führen, dass nur wenige große Energiekonzerne auf dem europäischen Markt bestehen bleiben werden. Um dazuzugehören, müssen die Unternehmen, laut Analysen des Beratungsunternehmens A.T. Kearney, in Zukunft jährlich um 10 bis 14 % wachsen. Bei einem durchschnittlichen Wachstum des Energiemarkts in Europa von ca. 1,5% ist klar, dass diese Raten nur durch externes Wachstum erreicht werden können (Eicker, 2004: 14).
Neben der Vielzahl der erfolgreich durchgeführten Akquisitionen konnte man auf dem Energiemarkt auch eine Reihe von geplanten, aber nicht realisierten Übernahmen feststellen. E.on musste bspw. die Akquisition des britischen Versorgers Scottish Power aufgeben (Spiegel Online, 2005), Gas Natural konnte die beabsichtigte Übernahme der spanischen Iberdrola nicht erfolgreich durchführen (Herden, R. & Schumacher, 2003: 321).
Die gescheiterten Übernahmeversuche der beiden Energiekonzerne führten dazu, dass sie sich nach neuen Akquisitionsobjekten umsahen. Zunächst identifizierte Gas Natural den Stromversorger Endesa als neuen optimalen Übernahmekandidaten. Einige Monate nach der öffentlichen Offerte von Gas Natural wurde auch E.on auf Endesa aufmerksam. Im Februar 2006 gab der deutsche Energiekonzern seine Gegenofferte für den spanischen Stromversorger bekannt. Endesa stellte demnach die neue optimale Akquisitionsalternative für beide Unternehmen dar.
Aufgrund welcher Zielkriterien und anhand welches Entscheidungskriteriums diese Wahl getroffen wurde, lässt sich anhand der hier verwendeten sekundären Literatur nicht nachvollziehen. Betrachtet man jedoch die mit der Endesa-Übernahme verfolgten Interessen, so werden die Gründe für diese Entscheidung ersichtlich. Bei der Darstellung der Motive sollte beachtet werden, dass neben den bekundeten, marktwertsteigernden auch nicht marktwertsteigernde Interessen für die Unternehmensübernahme verantwortlich gemacht werden können. Obwohl diese Interessen nicht zwangsläufig sichtbar sind, können sie im Hintergrund eine wesentliche Rolle spielen und müssen deshalb ebenfalls berücksichtigt werden.
Wulf Bernotat informierte die Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz über die marktwertsteigernden Motive, die E.on mit der geplanten Endesa-Übernahme verfolgen wollte (E.on, 2006/a: 4ff). Die Wachstumseffekte, die mit der Übernahme verbunden gewesen wären, sind in Tabelle G- 1 im Anhang dargestellt. Durch die Akquisition von Endesa wäre E.on zum weltweit führenden Strom- und Gasunternehmen aufgestiegen (vgl. Abbildung D- 2 in Kapitel D.IV.2.). Des Weiteren hätte der deutsche Energiekonzern mit der Übernahme nach eigenen Angaben auch Synergieeffekte aufgrund von Größenvorteilen erzielen können. Durch gemeinsame Beschaffungsaktivitäten und dem verbesserten Rohstoffeinsatz hätte E.on Kosten einsparen können. Zudem verfolgte das deutsche Unternehmen mit der Übernahme auch finanzielle Interessen. E.on verfügte am Ende des Jahres 2005 über liquide Mittel in Höhe von 15,1 Mrd. Euro, was zu hohen Eigenkapitalkosten führte (E.on, 2005/d: 44). Die mit der Akquisition verbundene Verschuldung hätte die Kapitalkosten von E.on senken können, da die Kosten für Fremdkapital in der Regel niedriger sind als die für Eigenkapital (E.on, 2006/a: 11).
Neben den bekundeten, marktwertsteigernden Interessen waren sicherlich auch nicht marktwertsteigernde Motive für die geplante Übernahme von Bedeutung. Die folgenden Interessen wurden von E.on zwar nicht als Gründe für die Transaktion genannt, dennoch könnten sie die Entscheidung beeinflusst haben.
Zu den nicht marktwertsteigernden Motiven zählen u.a. die Interessen der Manager. Wulf Bernotat, der Vorstandsvorsitzende von E.on, deutete im Jahr 2006 an, den Konzern für insgesamt sieben Jahre leiten zu wollen. In dieser Zeit beabsichtigt er, das deutsche Energieunternehmen zum größten Strom- und Gaskonzern der Welt auszubauen (Wildhagen, 2006: 78). Das sind durchaus sehr ehrgeizige Ziele, wenn man bedenkt, dass Bernotat seit seinem Amtsantritt im Mai 2003 noch keine größere Transaktion erfolgreich abgeschlossen hat. So sind bedeutende Akquisitionsvorhaben, wie die Übernahme von Scottish Power oder Edison, unter der Leitung von Bernotat gescheitert. Hinzu kommt, dass der E.on Chef eine groß angelegte Kooperation mit Gazprom, die für Bernotat in Jahr 2004 schon beschlossene Sache war, letztendlich nicht realisieren konnte. Der russische Staatskonzern favorisierte BASF und erteilte dem Chemieunternehmen den Zuschlag für die Hälfte des begehrten Gasfeldes Juschno Russkoje (Flauger, 2005/b: 13). Diese Niederlagen könnten dazu beigetragen haben, dass sich der Konzernchef sehr intensiv um eine erfolgreiche Akquisition bemühte. Auch die Tatsache, dass im April 2008 sein damaliger Vertrag abläuft und Bernotat um eine Verlängerung bangen musste, könnten den Druck auf ihn erhöht haben (Flauger, 2007/a: 8).
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