I. Ein Mann mit Vergangenheit
Man nannte das Zeitalter, in dem er lebte und wirkte, das Grand Siècle. Und in der Tat: Es war eine Epoche großer Männer und Frauen, Ereignisse und Katastrophen.
Da schreibt Monsieur Molière seine virtuosen Komödien, Corneille seinen Cid, wirkt Shakespeare in Stratford upon Avon; da schaffen Bildhauer wie Michelangelo und Bernini ihre unvergänglichen Werke, malt Rubens seine wohlgenährten Engel, krempeln Leibniz, Bacon, Newton und Descartes das herkömmliche Denken um und Kopernikus, Kepler, Bruno, Tycho Brahe und Galilei gleich dazu das ganze Universum.
Doch in keinem anderen Jahrhundert bilden Licht und Schatten, Glanz und Elend einen so grellen Kontrast wie gerade in diesem Zeitalter.
Ein Jahr, bevor Vinzenz von Paul in dem verlorenen südfranzösischen Nest Pouy bei Dax als drittes Kind des Kleinbauern Jean de Paul und seiner Frau Bertrande von Moras am 24. April 1581 das Licht der Welt erblickt, erscheint das meistgelesene Buch der Zeit: Jean Bodins Dämonomanie, eine blutrünstige Hetzschrift gegen die Hexen. Bodin ist einer der bedeutendsten Männer des Jahrhunderts, sein Lebenslauf spiegelt die ganze üppige und unberechenbare Vielfalt der Lebensumstände im zu Ende gehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert.
Zunächst war er Karmelitermönch, verließ aber nach kurzer Zeit den geistlichen Stand und wurde Professor des römischen Rechts. Später trat er in den Dienst des Königs, erklomm die Würde eines Kronanwalts und starb schließlich an der Pest. Sein Hexenbuch erreichte bis 1698 elf Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und hatte eine ungeheure Wirkung. Wie eine Epidemie raste der Hexenwahn über Europa hinweg. Daneben blühten schwarze Messen und Teufelsaustreibung, Alchimie und Zauberwesen, Kriege, Mord, Banditentum und Betrug.
Was Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen verschonten, rafften Epidemien und Hungersnot dahin. An den Rudern mächtiger Schiffsflotten saßen Galeerenhäftlinge in schweren Ketten.
Bei ungeduldigen Erben standen Giftmischer und Meuchelmörder hoch im Kurs, es blühte die Prostitution, und im Schatten des Sonnenkönigs trieben sich von rund 17 Millionen Franzosen gleich zwei Millionen als Bettler herum. Die Landbevölkerung ist schmutzig, schlecht gekleidet und heruntergekommen. Sie scheint bisweilen – wie auf den Bildern von Mathieu und Antoine le Nain – in den Urzustand der Wildheit zurückgesunken zu sein.
Das Proletariat des Grand Siècle verfügt über keinerlei Rechte. Es ist auf Gedeih und Verderb ihren Herren, den „großen Hansen“, wie sie Thomas Münzer, der christliche Rebell, ironisch nennt, ausgeliefert.
„Die Adligen“, klagt Richelieu, „erblickten in ihrer Freiheit den Freibrief, schamlos alle Arten verruchter Taten zu verüben, denn sie meinten, unzulässig in ihren Rechten beschnitten zu werden, wenn man versuchte, sie in den gerechten Grenzen von Recht und Billigkeit zu halten.“
Am 26. Oktober 1614, anlässlich der Eröffnung der Generalstände, einer Art Reichstag, sagt der Obmann der Pariser Zünfte, Robert Miron, vor Ludwig XIII: „Die armen Leute arbeiten unablässig, sie schonen weder ihres Körpers noch ihrer Seele, das heißt, sie schonen nicht ihres eigenen Lebens, um das ganze Reich zu ernähren; sie pflügen den Boden, verbessern ihn, legen ihn frei; sie schaffen Nützliches aus dem, was er hervorbringt; es gibt keine Jahreszeit, keinen Monat, keine Woche, keinen Tag, noch Stunde, die nicht unablässige Mühe verlangt. Und von dieser Mühe bleibt ihnen nichts als Schweiß und Elend. Der Erhalt Eurer Majestät, der Erhalt des Klerus, des Adels, des dritten Standes hat ihre Gliedmaßen zum Unterpfand.“
Und in der Tat: Gibt es zwischen den im Namen Jesu geführten Kriegen und vollbrachten Massenmorden eine relativ kurze Periode des Friedens, so können sich die Armen dessen kaum erfreuen.
Was ihnen plündernde Soldaten belassen, raffen unmenschliche Steuer- und Zinsgesetze weg. Die Könige und Herrschaften dürfen alles nehmen, was sie begehren.
Kehrseite des großen Jahrhunderts: Während Abertausende in bitterer Armut und in einfachsten Behausungen leben, verschlingen allein die Prunkbauten des Sonnenkönigs unvorstellbare Summen. Ein Drittel davon entfällt allein auf Versailles mit seinen Gärten und Wasserspielen. Das Schloss, das Fouquet, der im Jahr 1661 gestürzte Minister Ludwigs des XIV., in Vaux errichtet, ist 18 Millionen Livres wert. Für die königlichen Gärten mussten drei Ortschaften vom Erdboden verschwinden. Sie wurden, ohne die Leute zu befragen, geschleift, nachdem sie immerhin aufgekauft worden waren. Der Bauer musste, ohne Rücksicht auf den Ernteertrag, einen Grundzins in Silber und Naturalien entrichten. Rückstände durften rückwirkend neunundzwanzig Jahre lang eingetrieben werden.
Zu den hohen Pachtgebühren gesellten sich unzählige Abgaben-Verpflichtungen kirchlicher und weltlicher Art. Das schöne Wort Heinrichs IV., das wie ein neuzeitliches Sozialprogramm klingt: in keiner französischen Familie dürfe Sonntags das Huhn im Topf fehlen, war ein Politikerbluff. Fleisch gehörte zu den Privilegien der Stände, Geflügel und Wild blieben dem Adel vorbehalten.
Fische wurden wenig genossen, die Transportschwierigkeiten waren zu groß. Brennholz war teuer, die Straßen schlecht und die Flussfahrtrinnen durch privilegierte Mühlenbesitzer beengt.
Die Salzknappheit führte zu einer geradezu inquisitorischen Eintreibung der Salzsteuer. So komisch es für uns heute klingen mag: Man fahndete nach Leuten, die zwecks Würzung ihrer Speisen Süßwasser mit Meereswasser mischten, um sie wegen Salzsteuer-Hinterziehung zu bestrafen.
Entsprechende Hausdurchsuchungen aufgrund von Denunziationen waren an der Tagesordnung. Fast ein Drittel der Sträflinge des Landes kam wegen Salzdelikten hinter Gitter. Die Salzsteuer wurde erst durch die große Revolution abgeschafft.
Nicht anders verhielt es sich auch mit der Getränkesteuer. Der Feudalherr bestimmte die Weinlesezeit, wodurch nicht selten die Ernte verdarb und der Verlust sehr hoch ausfiel. Ungerechte Sonderrechte der Reichen sorgten dafür, dass der Gewinn dessen, der den Weingarten eigentlich bearbeitete, in bescheidensten Grenzen blieb. Das in Weingärten grassierende Wild – Delikatesse am Tisch der Adeligen – durfte nicht getötet, nur mit Steinwürfen verscheucht werden. Gegen durchgaloppierende Jagdherren und ihr Gefolge gab es nicht einmal diese Abschreckungsmöglichkeit. Da konnte man in ohnmächtiger Wut höchstens die Fäuste ballen.
Wir verweilten etwas ausführlicher bei der Schilderung der sozialen und gesellschaftlichen Zustände der Zeit, da auch Vinzenz von Paul aus diesem „triste milieu“ des Jahrhunderts stammte. Anders gesagt: Er war ein Kind des zeitgenössischen Proletariats.
Diese Tatsache – von seinen bürgerlichen Biografen äußerst unscharf gelassen – bestimmte seine Grundhaltung und sein späteres soziales Engagement ganz entscheidend. Sein stiller Trotz, seine stille Abneigung gegen „die da oben“, sein Proletarierbewusstsein kommen in vielerlei Gestalten und durchs ganze Leben hindurch zum Vorschein. Der etwas unterspielend-ironische Satz: „Ich bin nur ein Schweinehirt und der Sohn eines armen Dörflers“, gehörte zu seinen Standard-Redewendungen.
Um wegen des Wörtchens „von“ in seinem Namen keinerlei adelige Assoziationen aufkommen zu lassen, zog er es mit seinem Familiennamen zusammen und unterschrieb hinfort mit „Vincent Depaul“. Er bevorzugte außerdem die schlichte Bezeichnung „Monsieur Vincent“.
„In meiner Heimat“, schreibt er später, „nährt man sich von einem kleinen Samenkorn, man nennt es Hirse, die man in einem Topf kocht. Zur Essenszeit wird sie in ein Gefäß geschüttet, alle Hausbewohner setzen sich um es herum, nehmen ihre Mahlzeit ein und gehen dann an die Arbeit zurück.“
Immer wieder wird in ihm dieses Proletarier-Bewusstsein – später durch einen vertieften Glauben geformt und bestätigt – durchbrechen. So sagt er in einer seiner später berühmt gewordenen Ansprachen: „O Herr, gib Du den Geist Deines Priestertums, den die Apostel und ihre Nachfolger, die ersten Priester, besaßen. Gib uns den wahren, großen und göttlichen Geist dieses geweihten Standes, den Du in arme Fischer, Handwerker und arme Leute jener Zeit gesenkt und ihnen aus Deiner Gnade heraus übertragen hast. Denn, Herr, auch wir sind nur geringe Leute, arme Arbeiter und Bauern.“
Oder: „Ich darf einen armen Bauern oder eine arme Frau nicht nach ihrem Äußeren oder nach der Tragweite ihres Geistes beurteilen. Oft genug haben sie überhaupt kein ‚Gesicht‘, noch weniger den Geist denkender Menschen. Sie sind grob und erdhaft. Aber drehen Sie die Medaille um, dann werden Sie im Lichte des Glaubens sehen, dass der Sohn Gottes, der arm sein wollte, uns in diesen Armen entgegentritt. Auch er hatte in seiner Passion kaum noch ein menschliches Gesicht. Er galt bei den Heiden für toll, bei den Juden als Stein des...