1. Migration ins Abseits
„Wie seid ihr eigentlich zu so vielen Kindern gekommen,“ hatten uns Menschen gefragt.
Wir hatten dankbar angenommen, was uns geschenkt worden war und es nie bereut. Wenn wir von der Vorsehung für würdig befunden wurden, das Leben weiterzugeben, wollten wir selber auch nicht kleinlich sein. Wo Platz gewesen war für vier, war auch Platz für fünf, wo fünf waren, konnten sechs leben und so fort. Wir hatten unsere Bestimmung im irdischen Dasein gefunden.
Aber dann hatte das Schicksal uns einen Weg geführt, den wir gehen mussten, auch wenn wir nicht wollten. Wir hatten anzunehmen, was auf uns zukam und danach war ich alleine mit sieben Kindern im Alter von zwei bis vierzehn Jahren und der Frage, wie weiter.
Die Erinnerungen daran lagen in meinem Gedächtnis herum wie ein Haufen Baumaterial auf einem Bauplatz, alles noch durcheinander. Es musste erst Ordnung hineinkommen, sollte daraus ein Haus werden. Ordnung schaffen und zusammenzubringen, was auseinanderfiel, war ohnehin für mich ein Dauerauftrag des Lebens gewesen.
Anfangs hatten uns noch Angebote erreicht zu helfen. Es war um die Trauer-Arbeit gegangen; es gab sogar vorgedruckte Leitlinien. Was tun mit ihnen? Schmerzliche Erinnerungen aufarbeiten oder den Ofen damit anfeuern? Dann rief eine ältere Dame an von einer gemeinnützigen Institution, sie hätte von uns gehört und bot Unterstützung. Das klang nobel. Allerdings entwickelte sie gleich ein ganzes Konzept am Telefon.
Als Mann würde man nicht im Stande sein, sich um sieben Kinder zu kümmern, also wäre meine Sache der volle Einstieg in den Beruf, um die finanzielle Basis zu schaffen für die Anstellung einer kompetenten Erzieherin und Haushälterin. Es gäbe seriöse Agenturen zu dem Zweck und man würde einen Beitrag leisten. Das Auflegen des Hörers geschah etwas heftig.
Später kam von anderer Seite die Rückmeldung, warum ich so unkooperativ wäre. Aber wussten sie in ihren Amtsstuben nicht, wie es auf dem Arbeitsmarkt aussah, wenn man schon jenseits der Lebensmitte war? Und kompetente Frauen ‒ hatten die nicht Gehaltserwartungen, die jedes Budget sprengten und außerdem gerade immer dann ihre freie Zeit, wenn kleine Kinder mit großem Kummer mitten in der Nacht getröstet werden wollten?
Die einzige Kompetenz, die mir bekannt war, erstreckte sich über 24 Stunden rund um die Uhr und das jahrein jahraus. Und mein Bild von Frauen umfasste viel mehr, als dass ich sie in unserer innersten Privatphäre hätte jobben sehen wollen.
Das Angebot war wenig hilfreich. Was getan werden musste, war meine eigene Aufgabe, auch wenn ich sie niemals mit dieser bedingungslosen Liebe erfüllen konnte wie die, von der ich sie übernommen hatte.
Die Situation wurde nicht besser dadurch, dass wir umziehen wollten, aber keine Wohnung fanden. Wohnungssuche für sieben Kinder war simpel ausgedrückt ein Kopfschmerz. Wer hatte schon sieben Kinder? Wohnungen wurden heutzutage gebaut für Singles. Doch meldete sich ein Herr mit sonorer Stimme am Telefon, er hätte genau das Richtige für uns.
Wie sich herausstellte, war es ein Stück Beton in einer größeren Betonanhäufung mit einer handtuchbreiten Grünfläche zu einem Mietpreis vom Doppelten meines Einkommens. Als ich ablehnte, wurde er laut und ausfallend: Es gäbe doch schließlich Sozialämter! Man musste nur genügend Druck machen, dann würden sie schon helfen bei der Finanzierung! Der Handel kam nicht zustande.
Schlussendlich ergab sich doch etwas Passendes. Es war ein Schmuckstück von einem Haus an zentraler Lage. Alles wurde abgemacht auf Treu und Glauben und der Umzug in die Wege geleitet. Der Möbelwagen stand schon bereit, als die Sache doch platzte. Eigner war eine Erbengemeinschaft und eine Partei hatte in letzter Minute quergeschossen über einen Anwalt. Da nützte alle Sympathie der anderen für uns nichts.
Zum Glück gab es wohlgesonnene Menschen, die zwar unser Problem nicht lösen konnten, doch jeder für sich ein Stück davon. Bei den einen ließ sich ein Teil des Hausrates unterstellen, andere wollten liebgewordene Gegenstände für uns aufbewahren, bis wir sie wieder abholten. Einige der Mädchen hatten ein vorläufiges Unterkommen in Familien ihrer Kameradinnen und eine der Patentanten wollte gleich mehrere bei sich aufnehmen.
Das Größte aber war, dass wir für den anstehenden Winter ein Ferienhaus nutzen durften hochoben in den Bergen, das wir schon von früher kannten. Wir hatten dort glückliche Zeiten erlebt, als die Familie noch heil gewesen war, und uns nützlich gemacht, indem wir Brennholz schlugen für den offenen Kamin oder das Dach reparierten, wenn im Winter die Schneelast die Ziegel eingedrückt hatte. Das war die Option, die uns am meisten zusagte, und als alles geregelt war, zogen wir um in die Berge.
Im Flachland war alles noch grün gewesen. Als die Strasse zu steigen anfing, wurde es weiß und als wir oben waren, lag mehr als ein halber Meter Schnee. Die Zufahrt zu unserem neuen Domizil war ein Stück weit geräumt, so dass es überhaupt zu erreichen war. Die Kleinen mussten allerdings beim Fahrzeug warten, sonst hätten sie bis an den Bauch im Schnee gesteckt.
Beim Haus waren alte Skier und Seile zu finden, aus denen sich ein provisorischer Lastschlitten machen ließ. Wir luden unsere Habseligkeiten und die Vorräte auf und ächzten mit der guten Hilfe der älteren Töchter los zum Haus. Eines von den Kleinen fiel in eine Schneewehe, war halb verschwunden und wurde wieder ausgegraben.
Im Haus war es das Erste, ein großes Feuer in Gang zubringen im offenen Kamin, der im Raum eine zentrale Lage einnahm. Ein Vorrat von Holzkloben ganzer Stämme und knorriger Wurzeln war aufgeschichtet und es ging nicht lange, bis sich die Wärme wohlig verbreitete.
Die Töchter kümmerten sich derweilen um unseren Jüngsten, der sich einen Katarrh eingefangen und Ohrenweh hatte. Sie setzten ihn in den Schaukelstuhl, vergruben ihn in Polster, stülpten ihm Ohrenwärmer über und rückten ihn ans Feuer. Später bekam er noch einen Zwiebelwickel auf die Ohren und die Entzündung war weg ein für allemal.
Alle fanden, das Leben wäre gar nicht so schlecht hier oben und begaben sich in die Kochecke, um Gemüse zu schnippeln für den nahrhaften Eintopf, der dampfend auf den rustikalen Tisch kam, um den herum wir saßen und es uns schmecken ließen nach unserer Reise ins Abseits.
Der Ordnung halber rief ich am nächsten Tag beim Einwohnermeldeamt der ehemaligen Wohngemeinde an. Unser alter Wohnsitz wäre passé und den neuen anzumelden etwas schwierig, was tun? Am anderen Ende der Leitung wurde tief durchgeatmet: Ob wir nicht wüssten, dass wir uns ohne ordentliche Anmeldung außerhalb der Legalität bewegten? Wir sollten einen „richtigen“ Wohnsitz nachweisen! Für den Moment erschien uns der Wohnsitz zwar richtig genug, aber ob sie denn einen noch richtigeren wüssten? Pause bei der Gegenseite. Sie waren überfordert mit der Frage. Wohnungssuche gehörte nicht zu ihrem Ressort. Jedoch sollten wir so schnell wie möglich zur gesetzlichen Normalität zurückkehren! Das konnte versprochen werden.
Und was überhaupt mit der Schule wäre? Da war so weit alles in Ordnung und geregelt. Ich hatte mit den Lehrern gesprochen. Sie fanden unsere Aktion zwar nicht optimal, aber woher eine passende Wohnung nehmen, hatten sie natürlich auch nicht gewusst. So teilten sie den Unterrichtsstoff für die nächsten Monate mit verbunden mit der Hoffnung, er würde einigermaßen vermittelt werden. Auch das ließ sich versprechen.
Es betraf ohnehin nur die mittlere Fraktion der Familie; die älteren Töchter hatten ein Generalabonnement, die landesweit gültige BahnCard der Schweizer Bahnen, mit der sie die 200 km zur Schule fahren und dort bei Bekannten bleiben wollten, um am Wochenende wieder bei uns zu sein.
Sie fanden das machbar und blieben unter der Woche weg. Die Bahn- und Busverbindungen waren so, dass sie am Freitagabend erst in der Dunkelheit zurück sein konnten. Dann lauschten wir draußen vor der Haustüre in die Nacht hinaus auf das Knirschen von Schritten im Schnee.
Endlich waren sie da mit von der Kälte geröteten Gesichtern und umweht von einem Hauch frischer Gebirgsluft, kamen herein an Wärme und Licht und konnten sich gleich an den Tisch setzen, auf dem Töpfe und Pfannen etwas Gutes zum Essen versprachen. Wir waren wieder eine große Familie, bis auf die Eine, die Unersetzliche, die die Mitte unseres Lebens gewesen war und uns jetzt aus anderen Sphären begleitete.
„Also, was dran wäre, sind die Grundrechenarten, kriegen Sie das hin?“, hatte der Lehrer gesagt. Ich war zuversichtlich, hatte bei unseren Vorräten eine Kiste mit Orangen und stellte mir vor, damit das richtig Arbeitsmaterial zur Hand zu haben zum Thema Plus und Minus, Malnehmen und Teilen.
„He! Moment mal – wohin des Weges?“, waren die, für die das alles gedacht war, gerade soeben noch zu fassen zu kriegen in voller Schneemontur, „Wir haben Schule! Das war...