ALLES IST MITEINANDER VERBUNDEN
»Das Kind sieht alles im Lichte der ›Neuheit‹. (…) Aber das Genie ist doch nichts anderes als die freiwillig wiedergefundene Kindheit.«
CHARLES BAUDELAIRE,
Der Maler des modernen Lebens
»Tanze nie ohne eine Geschichte im Kopf.«
RUDOLF NUREJEW
Paris Fashion Week, vor der Show der Frühling/Sommer-Kollektion 2014
»Sprich mich jetzt bloß nicht an, Ian, ich habe alle Hände voll zu tun.«
Ich schreibe dies unter einem Kleiderständer sitzend, an dem Garderobe im Wert von gut hunderttausend Euro hängt. Auf einer Seite steckt Vivienne Westwood in Beanie-Mütze und ausgefranster Strickjacke glitzernde Applikationen auf Strickwaren und weicht meinen Fragen aus, auf der anderen Seite schwankt ein größtenteils unbekleidetes Model auf Plateau-High Heels. Wir befinden uns irgendwo im 2. Arrondissement. Es ist drei Uhr nachts.
Einige Fakten, die Sie über Vivienne Westwood wissen müssen: Sie ist unermüdlich. Selbst jetzt, kurz vor Morgengrauen, ist sie noch auf den Beinen und arbeitet so hart und intensiv wie eine fünfzig Jahre Jüngere. Sie sieht fantastisch aus: »Eine Haut wie Porzellan«, genau wie ihre Freundin Tracy Emin sie mir beschrieben hat. Sie ernährt sich scheinbar nur von Äpfeln und Tee. Sie ist unglaublich intelligent. Man darf sich nicht von ihrer albernen Northerner-Masche blenden lassen, ihr Verstand ist messerscharf und sie setzt ihre Argumente so präzise ein wie die Stecknadeln, die sie am Ärmel trägt. Sie ist ein wenig schwerhörig, wobei ich vermute, dass es sich um eine Art taktische Taubheit handelt, die sie vor dem Lärm ihrer Umgebung schützt. Das Wichtigste, was ich über Vivienne gelernt habe, ist jedoch: Sie hat sich das Kind in ihr bewahrt, trotz aller Widrigkeiten. Staunend. Fragend. Offen. Patzig. Lebhaft. Bisweilen mit Lust am Verkleiden. Manchmal unhöflich. Dann wieder herzerwärmend loyal und liebevoll. Meist wohlerzogen. Ab und zu explodiert sie auch.
Mit dreiundsiebzig, so könnte man meinen, sei das nicht gerade die feine Art, ja sogar höchst unpassend für eine Dame of the British Empire, Chefin eines globalen Modelabels und eine der bekanntesten Engländerinnen der Welt. Auch nicht sehr grande couturière hier in Paris für eine Frau, die sich selbstgefällig auf ihren Lorbeeren ausruhen könnte, »die Coco Chanel unserer Zeit«. Eine Frau, die in Fernost bekannter ist als die Queen oder Madonna und die bis heute noch jeden Tag mit dem Fahrrad die Londoner Battersea Brigde Road entlang zur Arbeit fährt.
Wenn Sie der oben genannten Meinung sind, dann werden Sie an dieser Geschichte wohl kaum Gefallen finden. Auch wenn Sie Mode mehr oder weniger für Firlefanz halten oder glauben, eine über Siebzigjährige hätte weniger, nicht mehr Recht darauf als eine Jüngere, die Welt vor zukünftigen Gefahren zu warnen oder die Vergangenheit zu kritisieren, können Sie dieses Buch getrost beiseitelegen. Wie Vivienne neulich zu mir sagte, würde das »eine Menge Bäume retten«.
Wenn Sie dagegen über ein paar Runden dieser Punk-Großmutter zusehen möchten, die immer noch im Ring steht und für das kämpft, was ihr richtig und schön erscheint, während viele ihrer Altersgenossen sich mit einem Lehnstuhl und ihren Erinnerungen begnügen, dann bleiben Sie bei ihr. Sie könnten genauso geblendet und von unerwarteten Einblicken in einen einzigartigen Verstand überrascht werden wie ich während meines Jahres mit Vivienne Westwood. Meinem Jahr des magischen Blingbling. Denn in dieser Geschichte geht es um viel, viel mehr als nur um Mode, obwohl diese ihren Grundstoff bildet.
»Schau, Ian, ich meine ja nur, dass du jetzt nicht mit mir reden sollst, weil ich mich konzentrieren muss. Geh und hol dir einen Drink. Die sind für alle verfügbar, ich nicht.«
Noch etwas, was Sie über Vivienne wissen müssen: Sie kann sehr lustig sein.
26. September 2013, zwei Uhr morgens, und noch liegen zweiundsechzig Stunden vor uns. Zweiundsechzig Stunden, bis die neue Vivienne Westwood-Kollektion in Paris zum ersten Mal präsentiert wird. Die Gold Label-Kollektion ist die Flaggschiff-Linie der Vivienne Westwood Group und ihre beiden jährlichen Präsentationen in Paris (Frühling/Sommer, Herbst/Winter) bilden für Vivienne die Höhepunkte des Designerjahres. Obwohl sie noch weitere Kollektionen führt – Red Label, eine junge Linie, Red Carpet (nomen est omen), Anglomania (eine nach ihren Ideen und klassischen Entwürfen in Lizenz gefertigte Casual Wear) sowie die Männerlinie MAN, die jeweils in Mailand und bei Shows in Fernost und anderswo gezeigt werden –, sind die Pariser Eröffnungsschauen von zentraler Bedeutung für Vivienne. Dasselbe gilt für all die anderen Modehäuser, die jedes Jahr um diese Zeit die Hotels rund um die Place Vendôme füllen. Chanel, Dior, Prada, Comme des Garçons – in dieser Woche zeigen alle ihre Kollektionen. Vivienne zeigt nur teilweise eine »Couture«-Kollektion, ihre Show läuft in der Prêt-à-porter-Woche. Diese Identität stiftenden, Trends setzenden High-End-Kollektionen werden noch immer in Paris vorgestellt, obwohl sich in den letzten Jahrzehnten auch andere Städte als Modemetropolen etabliert haben, etwa New York, London, Mailand oder Hongkong. Die meisten Kollektionen sind ein Verlustgeschäft, obwohl Vivienne mir stolz erzählt hat, dass ihr Gold Label sehr wahrscheinlich durch Sonderbestellungen Profit abwerfen wird. Die Pariser Fashion Week ist der Höhepunkt des Modekalenders. Alle paar Stunden endet eine Show und eine andere öffnet ihre Pforten. Die Bürgersteige sind überfüllt mit streichholzdünnen Frauen, die in hohem Tempo auf High Heels daherstöckeln und gleichzeitig mit dem Handy telefonieren. Im Ernst: Stellen Sie sich ihnen bloß nicht in den Weg! Es herrscht ein wahrer Tumult von Fashionistas und Fachpresseleuten, ein Hochglanzaufgebot von Käuferinnen und Models, Fotografen und Schnorrern. Auf diesem Ereignis liegt der Fokus monatelanger Arbeit in Vivienne Westwoods Londoner Studio sowie in den italienischen Schneidereien und Schuhfabriken. Die diesjährige Kollektion hat Vivienne Westwood »Everything is Connected« getauft – »Alles ist miteinander verbunden«. Bisher hatte ich Paris nur besucht, um gut zu essen oder eine Freundin zu beeindrucken. Diesmal habe ich für beides nicht den Hauch einer Chance, dafür werde ich mit einer einzigartigen Erfahrung belohnt.
Vivienne und die lange erwartete Running Order.
Photo by Daniel Picado
In den letzten Jahrzehnten seit dem Beginn von Viviennes Tätigkeit als Designerin hat sich die Art, wie Mode vermarktet wird, grundlegend gewandelt. Ihre Entwicklung folgt einer seismischen Verschiebung dessen, was Mode ist und was sie für westliche Wirtschaftssysteme bedeutet. Früher war die Zielgruppe der Kollektionen ein außerordentlich privilegierter Kreis von Damen der Gesellschaft, die Garderobe für Galas, offizielle diplomatische Anlässe, Pferderennen und Teapartys benötigten. Was sie trugen, galt als Vorbild und wirkte durch die Verbreitung über Zeitschriften, Schnittmuster und Plagiate relativ schnell stilbildend. Die großen Häuser statteten nur wenige, auserlesene Kundinnen mit maßgeschneiderten Kleidern aus, deren unglaubliche Preise widerspiegelten, wie viele hoch qualifizierte Fachkräfte an ihrer Herstellung beteiligt waren. Heute wird eine Couture-Kollektion mit bedeutendem Verlust verkauft, trotz der atemberaubenden Preise. Ein einziges Vivienne Westwood-Outfit vom Laufsteg kann leicht zwischen 2500 und 7500 Euro kosten, ja, manche Kreationen sind auch schon für das Zehnfache verkauft worden. Dennoch ist dies nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kosten für Entwurf und Marketing, denn es handelt sich um Kunstwerke, in denen Tausende Arbeitsstunden von Dutzenden geschickten Händen stecken. Die Fashion Week hat nichts mit Vernunft zu tun. Sie dient – zunehmend über das Internet – der Vorgabe von Trends für Konfektionsbekleidung und Accessoires. Es geht darum, die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums und der Presse für das Modehaus oder den Designer und dessen Image zu wecken. Die Pariser Kollektionen symbolisieren in gewisser Weise Mode in ihrer reinsten Form: Mode als Kunstform. Mode, die ihre Zeit widerspiegelt. Mode, so sieht es Vivienne inzwischen, die sogar die Welt verändern kann.
Diese Kollektionen sind ein Publikumsmagnet, sowohl direkt vor Ort als auch im Internet, wobei die Menge der Zuschauer in keinem Verhältnis zur Anzahl derjenigen steht, die die gezeigten Modelle wirklich tragen werden. Während der Fashion Week verwandelt sich Paris in das Epizentrum eines einzigartigen Phänomens unserer Zeit: der neuen, globalen Faszination für Mode, einer neuen Sprache, die, hauptsächlich online, Design und Marketing, Berühmtheit, Kunst, Sinnlichkeit und Politik in einer Art und Weise miteinander verknüpft, die in der Kulturgeschichte Ihresgleichen sucht. Die Wurzeln dieses Phänomens reichen jedoch bis zu Viviennes frühen Arbeiten zurück, in denen sie Mode, Musik, Starkult und Zeitgeist vereinte. Deswegen halte ich Mode nicht nur für einen Spleen reicher Zicken, wobei sie das durchaus sein kann. Zugleich hat sie sich jedoch zu einem wichtigen Zweig der globalen Wirtschaft und einem bedeutenden Identität stiftenden Faktor des heutigen Europa entwickelt. Paris während der Fashion Week steht metaphorisch für eine bestimmte Richtung, in die sich die Weltwirtschaft entwickelt. Es ist eine Messe in großem Maßstab, aber auch ein Marketingevent für den Stil der Alten Welt, in dem Mode, Musik und ein neues Selbstbild ineinander verschmelzen. Im Vordergrund stehen aber...