Sich lauschend in der Welt bewegen
Die Geräusch- und Klangwelt am Schreibtisch
Am Schreibtisch sitzend, schließe ich die Augen und lausche. Eher von fern nehme ich das Ticken eines Weckers wahr. Beim genaueren Hinhören bemerke ich einen regelmäßigen Wechsel im Klang des Tickens: hoch und tief und hoch und tief usw. Im tiefen Ticken höre ich ein zweites kurzes Nachruckeln, wie ein leises, kaum wahrnehmbares Echo. Während ich dem Ticken des Weckers zuhöre, gewinnt allmählich ein Rauschen meine Aufmerksamkeit. Unter die Lüftungsgeräusche der Computer-Festplatte mischt sich das Rauschen der Heizung. Beides ist voneinander kaum zu unterscheiden. Ich lausche diesem Klangteppich von rhythmischem Ticken und Rauschen. Ein immerwährendes Weiterklingen, hin und wieder ergänzt von den Geräuschen eines vorbeifahrenden Autos und dem plötzlich alles übertönenden Neun-Uhr-Läuten der Kirchturmglocken.
Musik entsteht, wenn wir »ganz Ohr« werden und um des Lauschens willen lauschen. Ein einfaches akustisches Ereignis kann sich durch aufmerksames Hinhören in Musik verwandeln – wie im obigen Beispiel das Ticken des Weckers. Bei intensivem Hinhören sind dabei im Sekundentakt mehrere Geräusche zu entdecken. Deren regelmäßiger Rhythmus »Ticken–Stille–Ticken–Stille« kann beim Hörer eine Empfindung von Spannung, vielleicht aber auch von Langeweile erzeugen.
Wer aufmerksam in die Lebenswelt hineinlauscht, kann immer wieder diese kleinen Musikstücke des Zufalls entdecken. Vielleicht korrespondiert die Klang- und Geräuschwolke des Müllautos mit dem Gesang der Amsel. Vielleicht füllt sich die Stille einer Winternacht mit dem Knister-Rhythmus einer Kerze. Solche kleinen musikalischen Miniaturen entstehen alltäglich für diejenigen, die aus der puren Lust am Lauschen hinhören. Gleichzeitig können im Radio gesendete Musikstücke unbemerkte Geräuschkulisse bleiben. Sie fließen zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, ohne dass dabei im Hörer Musik entsteht.
Unsere schöpferische Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit ermöglicht es uns, in akustischen Ereignissen Musik zu entdecken. Wir erschaffen im Prozess des Hörens aktiv Musik. Nach diesem Verständnis entsteht Musikalität aus der menschlichen Fähigkeit, empfindsam, neugierig und ausdauernd zu lauschen. Wir entwickeln Musikalität in einer individuellen Art und Weise, wenn wir uns bewusst und gern lauschend in der Welt bewegen.
Mit der eigenen Musikalität auf Tuchfühlung gehen
Die folgenden Experimente sind als Impulse für Sie gedacht, bewusst die Ohren zu öffnen. Sie finden Anregungen,
in die Sie umgebende Geräusch- und Klangwelt hineinzuhorchen,
Ihre persönlichen Klangspuren wahrzunehmen, die Sie alltäglich ausstreuen,
der Musikwelt, die Sie umgibt, Aufmerksamkeit zu schenken.
Dabei können Sie sich als Lauscherin (wieder-)entdecken und Ihre individuelle Musikalität herausfordern. Nicht zuletzt können Sie dies als eine Möglichkeit nutzen, Ihr persönliches Selbstbild als Klangforscherin und Musikkünstlerin weiterzuentwickeln.
Der Geräusch- und Klangwelt lauschen
Fünf-Minuten-Lauschen
Schließen Sie für fünf Minuten die Augen und öffnen Sie die Ohren: einfach hinhören, Geräusche und Klänge sammeln. Lassen Sie sich von Ihren Ohren leiten. Werden Sie aufmerksam dafür, was Sie als Hörerin fasziniert. Was gewinnt leicht Ihre Aufmerksamkeit, was lässt Sie aufhorchen? Vielleicht ist dies ein vertrautes Geräusch, eine unerwartete Klangfolge oder ein für Sie klar erkennbarer Rhythmus.
Lauschen Sie dem, was Sie interessiert. Lauschen Sie täglich.
Interessante Lauschorte entdecken
Erstellen Sie eine Liste mit Orten, an denen Sie leicht Muße und entspannte Aufmerksamkeit entwickeln können (allein am Küchentisch, bei der Busfahrt zur Arbeit, zur Happy Hour im Café an der Ecke usw.). Nehmen Sie sich vor, diese Orte nach und nach zu besuchen und dort nichts anderes zu tun, als entspannt hinzuhören und aufmerksam zu lauschen (z. B. montagnachmittags nach der Arbeit, vor dem Wochenendeinkauf, in kleinen Pausen beim Aufräumen).
Entdecken Sie die typischen Geräusche und Klänge an diesen Orten (Naturgeräusche und -klänge, Menschenstimmen, Material- und Maschinen-Sounds). Vielleicht nehmen Sie wahr, dass mehrere Klänge aufeinander folgen und dadurch wiederkehrende Rhythmen entstehen.
In Geräusche und Klänge hineinhorchen
Welche Geräusche oder Klänge sind in Ihrer Umgebung zurzeit am häufigsten zu hören (Blätterrascheln im Wind, Wasserplätschern, Taubengurren, Rasenmäher o. Ä.)? Widmen Sie diesen Ihre Aufmerksamkeit und entdecken Sie deren »Innenleben«. Sie könnten sich beispielsweise auf die Klangfarben konzentrieren. Klingen diese für Ihre Ohren eher weich, hart, hell, dumpf, warm oder kalt? Vielleicht entdecken Sie auch Übergänge zwischen diesen verschiedenen Klangqualitäten, etwa von hart nach weich, von hell nach dunkel usw. Oder Sie schenken den Klangdauern und Rhythmen Ihre Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich entdecken Sie Elemente, die länger bzw. kürzer klingen. Vielleicht folgen die einzelnen Klangereignisse mit kurzen Abständen aufeinander, vielleicht gibt es längere Pausen dazwischen. Es könnte sein, dass Sie eine regelmäßige Abfolge von Klängen wahrnehmen. Vielleicht erklingt alles für Sie eher zufällig aneinandergereiht. Oder Sie konzentrieren sich auf Lautstärken und Dynamik. Vielleicht erkennen Sie sehr ausgeprägte Kontraste von lauten und leisen Anteilen. Es könnte auch sein, dass die Lautstärke kontinuierlich zu- oder abnimmt, kurz »aufschäumt«, unvermittelt abbricht. Eventuell tönt ein einzelnes Element heraus, oder alles bleibt konstant in derselben Lautstärke.
Die eigenen Klangspuren wahrnehmen
Die Musik des Gehens wahrnehmen
Hören Sie auf Ihre Füße und nehmen Sie den Klang Ihrer Schritte wahr: auf Asphalt, Wald und Wiese, auf Parkett-, Laminat-, Steinfußböden usw. Hören Sie hin und lassen Sie sich überraschen, welche Geräusch- und Klangspuren Sie alltäglich setzen.
Die Koch- und Küchenmusik entdecken
Hören Sie sich selbst zu beim Zubereiten einer warmen Mahlzeit. Entdecken Sie die Aneinanderreihung von Klängen und die Rhythmen Ihrer Handlungen. Erforschen Sie die speziellen Klänge der benutzten Materialien. Interessieren Sie sich für Ihre eigenen Koch-Klangspuren.
Sie kochen nicht gern? Wie wäre es mit demselben Experiment beispielsweise beim Zeitunglesen, Radfahren, Pflanzengießen, Holzhacken oder Schwimmen?
Musikinstrumenten und Musikstücken lauschen
Rasselklängen zuhören
Lassen Sie eine Rassel zwischen beiden Händen hin- und herwandern. Lauschen Sie den dabei entstehenden Geräuschen. Umschließen Sie die Rassel mit beiden Händen und entdecken Sie die Veränderungen der Klänge. Erforschen Sie die Klangvielfalt der Rassel: laute, leise, helle, dunkle, warme, kalte, weich fließende, hart pulsierende Geräusche und Klangfarben.
Der momentanen Lieblingsmusik zuhören
Hören Sie einem Musikstück zu, das Sie momentan begleitet. Tauchen Sie ein in seine Klangwelt. Folgen Sie dem Spiel eines einzigen Musikinstrumentes oder dem Klang einer Singstimme, folgen Sie den Rhythmen. Lauschen Sie diesem Musikstück beispielsweise im Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, sonntagmorgens, kurz nach Mitternacht usw. Erinnern Sie sich zu einem späteren Zeitpunkt an diese Musik – hören Sie diese innerlich.
Die individuelle Musikalität der Kinder erkennen
So, wie Sie sich selbst als Hörerin erleben können, ist es auch möglich, die Kinder, mit denen Sie arbeiten, als Lauschkünstler wahrzunehmen und kennenzulernen. Die folgenden Impulse lenken Ihre Aufmerksamkeit auf das individuelle Hören der Kinder, auf ihre Art und Weise,
die sie umgebende Geräusch- und Klangwelt wahrzunehmen,
die eigenen Klangspuren zu entdecken,
in die Musikwelt hineinzuhorchen, die sie umgibt.
Und nicht zuletzt können Sie dies als eine Möglichkeit nutzen, Ihr Wissen vom Kind als Musikkünstler zu vertiefen.
Ein Kind inmitten der Geräusch- und Klangwelt
Das lauschende Kind entdecken
Beobachten Sie ein Kind Ihrer Gruppe in...