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Volksparteien in der Krise? Zur Reform- und Strategiefähigkeit der SPD am Beginn des 21. Jahrhunderts

AutorDennis Buchner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783638730778
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Politik - Politische Systeme - Politisches System Deutschlands, Note: 1,8, Universität Potsdam (Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät), 120 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Volksparteien in Deutschland stecken in einer tiefen Krise - so lautet die fast einhellige Meinung von Journalisten und vielen Politikwissenschaftlern. Dennis Buchner kennt die SPD aus drei Zusammenhängen. In seinem Studium beschäftigte er sich vor allem mit Parteienforschung. Ehrenamtlich ist er für die SPD seit 1998 in zahlreichen Funktionen tätig geworden. Er arbeitete für Abgeordnete und ist seit 2002 für die Bundes-SPD tätig. Er vergleicht Parteien in Europa und beschreibt, wie die SPD ihren Status als Volks-, Mitglieder- und Programmpartei verteidigen will.

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Leseprobe

2. Volksparteien in der Krise?


 

Nach den Landtagswahlen im September 2004 ergab sich für die Parteienforschung folgendes Bild: In Brandenburg und Sachsen erreichten die beiden großen deutschen Parteien CDU und SPD zusammen jeweils nur etwas mehr als 50 Prozent der Stimmen. Gemessen an allen Wahlberechtigten hat sich kaum mehr als ein Viertel der Wähler für diese Parteien ausgesprochen, weil fast die Hälfte der Wähler dem Urnengang fern blieb. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl 1972 gaben 91,1 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, CDU/CSU und SPD erreichten zusammen 90,7 Prozent, ähnlich sah es 1976 aus. Legt man für den Status einer Volkspartei allein ihre Wahlergebnisse zugrunde, so scheint er zumindest für die brandenburgische CDU und die sächsische SPD im Jahr 2004 nicht erreicht. Die Einordnung einer Partei als Volkspartei ist aber nicht nur aufgrund ihrer Wahlergebnisse möglich. Weitere wichtige Kennzeichen einer Volkspartei[1] sind ihre zeitliche Beständigkeit, ihre organisatorische Stärke hinsichtlich hoher Mitgliederzahlen und guter finanzieller Ausstattung, sowie die Möglichkeit, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen und dadurch auch tief in die politischen Milieus gegnerischer Parteien eindringen und dadurch Wahlen gewinnen zu können. Grabow[2] spricht von einer strategischen und einer organisatorischen Seite der Volkspartei. Sie will auf der strategischen Seite Mitglieder und Wähler aus allen gesellschaftlichen Schichten gewinnen und verfügt als Mitgliederpartei über besondere finanzielle und organisatorische Möglichkeiten. Grabow erkennt bei den westdeutschen Parteiorganisationen von SPD und CDU auch heute den Status der Volkspartei an. Sie bilden für ihn eine Mischung aus der von Kirchheimer 1965 beschriebenen „catch all party“[3] und den von vielen Politikwissenschaftlern erforschten Massenparteien.[4] Während SPD und CDU heute Wert darauf legen, ihren Charakter als Volkspartei nicht zu verlieren, galt diese Bezeichnung zunächst keineswegs als Ehrentitel.[5] Vielfach wurde kritisiert, die Volksparteien würden ein „Ende des Parteienstaates“ bedeuten, weil sie gemeinsam eine „Einheitspartei“ bilden, den gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen Arbeit und Kapital negierten und nur eine „Scheinpluralität“ von Parteien vorspiegelten.[6] Kaste und Raschke definieren Volksparteien weniger kritisch als Parteien, die „dem Grundsatz der Wählerstimmenmaximierung absoluten Vorrang vor allen anderen Erwägungen, insbesondere der konsequenten sozialen Interessenpolitik“, einräumen.[7]  Schmollinger und Stöss stehen dem Volkspartei-Begriff ablehnend gegenüber. Sie halten die Bezeichnung „demokratische Massenlegitimationspartei“ für angebracht und weisen auch darauf hin, dass „Volksparteien faktisch keine Volksparteien“ wären, weil sie in jedem Fall über eine Basis in bestimmten Milieus verfügen können.[8] 

 

2.1. Der Wandel von Parteien


 

2.1.1. Eliten- und Massenparteien


 

Seit 1903 haben sich mehrere Generationen von Politologen damit beschäftigt, Parteien zu klassifizieren. Die SPD ist seit den Anfängen von Ostrogorski (1903, „La démocratie et l’organisation des partis politiques“) und Michels (1911, „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“) dabei eine Art Musterpartei, weil sie viele Veränderungen durchlebt hat, fast immer selbst ein wichtiges Untersuchungsobjekt war und in alle wichtigen Klassifizierungen hineinpasst. Ostrogorski hatte sich auf amerikanische und britische Parteien fokussiert, generell aber an den Parteien kritisiert, dass durch sie Entscheidungen aus den gewählten Parlamenten in die Apparate der Parteien hinaus verlagert würden, Parteien also insgesamt das demokratische Prinzip unterliefen. Auch der zweite frühe Parteienforscher war ein Kritiker der Parteien: Der Sozialdemokrat Robert Michels übertrug seine Untersuchung der SPD auf alle Parteien. Er kritisierte, dass sie von hauptamtlichen Funktionären beherrscht würden, die vor allem an Wahlsiegen und weniger an der Durchsetzung politischer Ziele interessiert seien. Aufgrund der Entfernung zwischen Parteieliten und einfachen Mitgliedern sind Demokratie und Parteiorganisation für Michels unvereinbar gewesen. Für ihn tritt bei Massenparteien zwangsläufig die Zentralisierung der Macht bei der Parteiführung auf, weil Führung und Mitglieder unterschiedliche Interessen hätten und die Parteispitze ihre Interessen durchsetze. Schon Michels sah eine Konzentration der Parteiführung auf die Wähler, nicht auf die eigenen Mitglieder.[9] Duverger untersuchte die Klassenparteien (cadre parties) des 19. Jahrhunderts, deren Politik sehr von den Gegensätzen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten geprägt war.[10] Er arbeitete den Unterschied zu Massenparteien heraus und ordnete die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien den mitgliederstarken „Sektionsparteien“ zu, bei denen er eine demokratisch-zentralistische Struktur feststellte. Darüber hinaus unterschied er Komitee-, Zellen- und Milizparteien mit unterschiedlichen Strukturen. Neumann[11] entwickelte dieses Modell weiter fort. Seine Massenparteien (mass integration party) unterschieden sich auf der Politikebene kaum von den Kaderparteien, weil jeweils bestimmte, gegeneinander stehende Gesellschaftsentwürfe durchgesetzt werden sollten. Insbesondere den Arbeiterparteien gelang es aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Menschen zu mobilisieren, so der Durchsetzung ihrer politischen Ziele Nachdruck zu verleihen und sich als Massenpartei zu etablieren.

 

2.1.2. Kirchheimers Allerweltspartei (Volkspartei)


 

Kirchheimer hat 1965 in seiner Untersuchung die Parteien nicht mehr generell kritisiert, sondern versucht, durch Vergleiche einen neuen Typus von Parteien herauszuarbeiten. Er kann dabei als Begründer des Volkspartei-Begriffs gelten.[12] Er gebrauchte den Begriff der „catch all-party“ oder „Allerweltspartei“, die sich weitgehend ohne politische Ideologien darum bemühe, Wählerstimmen zu werben, sich dazu erfolgreichen Konkurrenzparteien anpasse und deshalb ihre Fähigkeit verliere, gesellschaftliche Interessen durchzusetzen. Als letzte wichtige Funktion bliebe ihr laut Kirchheimer nur die Rekrutierung von Kandidaten. Ein Blick auf die Definition der Allerweltspartei von Kirchheimer lohnt, weil sich unschwer feststellen lässt, dass die beiden großen Parteien in Deutschland, Christdemokraten und Sozialdemokraten, auch heute noch deren Merkmale erfüllen.

 

Kirchheimer stellte als Kennzeichen für Allerweltsparteien heraus, dass nur große Parteien als solche erfolgreich sein könnten. Sie würden sich als „Phänomen des Wettbewerbs“[13] entwickeln, weil sie aus den jeweiligen Fehlern des Gegners lernten und Erfolgreiches kopierten. Schon Kirchheimer erkannte die Schwächung der alten gesellschaftlichen Klassen, an denen sich die Gesellschaft nicht mehr orientiere. Deshalb würden sich die Parteien immer weiter annähern und ideologische Komponenten beiseite schieben. Das Mitglied verliere an Bedeutung, die Parteispitze dagegen werde gestärkt. Wahlpropaganda solle nunmehr nicht mehr die eigene Klasse, sondern die ganze Bevölkerung erreichen. Parteien und Interessenverbünde seien zwar voneinander unabhängiger geworden, die Kontakte zu den Interessengruppen spielten aber nach wie vor eine wichtige Rolle. Vierzig Jahre nachdem Kirchheimer seine Theorie aufgeschrieben hat, ist sie nicht nur immer noch aktuell, sondern viele Tendenzen, darunter die Annäherung der Parteien, bzw. ihrer Programmatik, die Entideologisierung oder die Stärkung der Parteispitze, sind in den vergangenen Jahren eher noch einmal stärker geworden. Versteht man die Volkspartei[14] also im Sinne Kirchheimers, kann von Krise derselben kaum eine Rede sein. Auch Puhle argumentiert, dass es noch heute Volksparteien gibt, „but Kirchheimer`s term has taken so much patina over the years that it no longer seems to be adequate in itself to the purpose of characterizing present-day tendencies of party change.“[15] Er weist aber auch darauf hin, dass es eher einen Trend zur “catch-all-party plus” als zur “catch-all-party minus”[16] gebe, der Charakter von Volksparteien sich also sogar verstärke.

 

Sartori legte seinen Forschungsschwerpunkt auf die Prozesse der Regierungsbildung und die Bedeutung von Parteien. Er unterschied nach Fragmentierung des Systems, Polarisierung innerhalb des Parteiensystems und innerer Dynamik von Parteien.[17] Inzwischen hat die Politikwissenschaft  den Volksparteibegriff weiterentwickelt, wenngleich Raschke feststellt: „Seit den 80er, verstärkt in den 90er Jahren gab es eine wissenschaftliche Debatte über die Frage, ob ein neuer Parteityp die Volksparteien abgelöst habe. Tatsächlich setzen sich die Trends, die zur Volkspartei geführt haben, nur fort. Ein Qualitätssprung zu einem anderen Typus ist bislang nicht erkennbar.“[18] Alle späteren Klassifizierungen großer Parteien bauen entsprechend auf dem Charakter von Volksparteien auf.

 

2.1.3. Das Konzept der Kartellparteien


 

Nach den Elitenparteien des 19. Jahrhunderts, den...

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