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3.
MEINE GESCHICHTE
Der Skipper stellt sich vor
Es ist der erste Abend an Bord unserer Jacht, die noch im Hafen von Portisco/Sardinien liegt. Über uns erstreckt sich der schwarzblaue Nachthimmel. Abermillionen Sterne funkeln in der Dunkelheit. Auch wir sind Teil eines Lichtermeeres aus Kerzen und Bordlichtern, die an unserer und den umliegenden Jachten leuchten. Von den Restaurants am Hafen klingt leise Musik zu uns herüber. Nachdem wir gekocht und gegessen haben, sitzen wir in großer Runde auf dem Achterdeck zusammen. Die Atmosphäre ist freundlich, aber abwartend. Während die Männer es sich gemütlich machen, sitzt Lukas am Heck und übt Knoten. Es fällt ihm nicht leicht. An diesem Abend geht es darum, dass wir uns kennenlernen. Zu diesem Zweck ermuntere ich die Männer, sich gegenseitig vorzustellen. Ich stelle ihnen zwei Fragen: »Wenn du dich als Schiff beschreiben solltest, welches würdest du wählen?« Die zweite Frage lautet einfach: »Wer bist du?«
Ich als Skipper mache dabei den Anfang. Auf diese Weise möchte ich mit Offenheit vorangehen und den Männern die Angst davor nehmen, sich in einer Tiefe und Ehrlichkeit in der Runde vorzustellen, wie sie es sonst vielleicht nicht tun würden. Zudem kann ich so verdeutlichen, dass es nicht in erster Linie um das beruflich oder finanziell Erreichte geht. Dieser Hinweis ist nicht unwichtig. Viele der Männer an Bord stehen beruflich in Führungspositionen oder definieren sich stark über das, was sie im Leben erreicht haben. Auch mir ist das nicht fremd. Während dieser Vorstellungsrunden bin ich jedes Mal erstaunt und erfreut darüber, wie ehrlich die Männer beginnen, aus ihrem Leben zu berichten.
Ich selbst bin in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen, in denen die Arbeit immer im Mittelpunkt stand. Mein Vater wuchs in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein auf. Er lernte zunächst Maurer und hat nebenbei an der Abendschule sein Fachabitur nachgeholt. So konnte er Hoch- und Tiefbau studieren und wurde ein erfolgreicher Architekt. Meine Mutter ist in Königsberg geboren und ihre Eltern hatten in der Nähe einen großen Hof. Sie gehörten zu den wohlhabenden Landwirten der Region. Dann, gegen Ende des Krieges, folgte die Flucht. Für meine Mutter war dies ein traumatisches Erlebnis, geprägt von Schmerz, großen Ängsten und Hunger über viele Jahre hinweg. Am Ende standen der Neuanfang in Eutin unter schwersten Bedingungen und eine Kindheit und Jugend in Armut und Demütigung. Dass meine Mutter diese Zeit dennoch gut überstand, lag an dem tiefen Glauben in ihrer Familie, der sie all die Zeit trug. Diesen Glauben hat sie schon früh in die Herzen von mir und meiner zwei Jahre jüngeren Schwester hineingelegt. Er sollte allerdings schwer geprüft werden.
Mein Kind soll aufs Gymnasium
Schon früh lag ein großer Erwartungsdruck auf meinen Schultern, dem ich nicht gerecht werden konnte. Meine Schulzeit war eine Zeit voller Entmutigungen, Demütigungen und Scheitern. Trotz intensiver Nachhilfe versagte ich und schaffte es nicht, den Erwartungen meiner Eltern zu entsprechen. Der Weg zur Schule fühlte sich täglich an wie der Weg zum Richtplatz. Dunkelheit und Verzweiflung kamen in mein Leben. Ein Leben, das ich so nicht mehr führen wollte. Das Scheitern auf dem Gymnasium war abzusehen und so wechselte ich auf die Realschule. Hier konnte ich wesentlich besser dem Unterricht folgen, wurde aber auch mit einem gänzlich anderen Umgangston konfrontiert. Zudem bestanden die Pausen aus vielen Prügeleien. Der Schulwechsel allein war noch keine Lösung für meine Probleme. Ich bekam starke Akne und in der Folge sank mein Selbstwertgefühl in den Keller, da Mädchen ein großes Thema in meinem Leben waren. Zudem erfüllte mich eine große Zukunftsangst.
Die Frau meines Lebens
Fachgymnasium Lübeck: Gefühlte 600 Mädchen und nur 20 Jungen. Ich war im Paradies. Und dann sah ich sie. Sie war in meiner Klasse. Kirstin. Ich war völlig fasziniert von dieser Frau und in den Bann gezogen. Sie war so cool, wirkte so abgeklärt, sie wusste genau, was sie wollte. Sie hatte scheinbar all das, wonach ich mich sehnte. Und noch etwas wusste ich: Sie war zehn Nummern zu groß für mich. Ich hatte bisher viel Erfahrung und Erfolg auf diesem Gebiet – aber diese Frau – Wahnsinn. Ich wollte sie und keine andere. Doch es gab zwei Probleme: Sie hatte einen Freund, ich hatte eine Freundin. Dennoch gab ich nicht auf, denn sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Tag und Nacht konnte ich nur an sie denken. Sie gehörte zu den »Kiffern« am Schulhof, und genau da lag meine Chance – wie ich meinte. Also fing ich auch mit dem Kiffen an. Von heute auf morgen gehörte ich zu den ganz coolen Jungs. Schule war überhaupt nicht mein Ding. Ich schwänzte mit Kirstin tage- und wochenlang die Schule, saß in Cafés oder bei Ärzten, um mir Atteste für mein Fehlen in der Schule zu besorgen. Mein Leben fand nun nachts statt. Den Kragen der Lederjacke hochgeschlagen, Zigarette zwischen den Lippen, Musik auf voller Lautstärke, den Zündschlüssel gedreht und rauf auf die Autobahn. Rein in die Nacht. Wohin? Keine Ahnung. Ich wollte nur weg. Einfach weg.
In dieser Zeit lernten Kirstin und ich uns besser kennen und lieben. Ich war unsterblich verliebt. Das hatte ich noch nicht erlebt. Es folgten viele tiefe Gespräche und immer wieder Tränen bei Kirstin, die ich überhaupt nicht deuten konnte. Doch jede Trauer wurde von uns mit Drogen bekämpft. Wir betäubten all das, was da unter unserer coolen Oberfläche brodelte. Und der Weg, den ich eingeschlagen hatte, war hier noch nicht zu Ende. Aus Schuleschwänzen und Drogen wurde nun Ernst. Ich zog nachts los und knackte Autos auf. Es ging um die Radios. Es ging lange gut, doch dann tauchte plötzlich die Kriminalpolizei auf. Ich war gerade dabei, eines der geklauten Radios in mein erstes eigenes Auto zu bauen, als ich die Beamten bemerkte. Sie wollten das Radio mitnehmen. Alles klar, kein Problem. Kaum waren die Beamten gegangen, habe ich die heiße Ware im Wald versteckt. Dann eilte ich nach Hause.
Wir wissen, was du getan hast
Doch auf das, was mich dort erwartete, war ich nicht gefasst. Meine Eltern saßen in der Eingangshalle auf dem Boden. Beide weinten. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen. Mein Vater stand auf und kam auf mich zu. Bevor ich etwas sagen konnte, sagte er: »Dirk, wir wissen, was du getan hast. Die Kripo war hier. Es gab eine Hausdurchsuchung, das volle Programm!« Mir war es, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Erst jetzt begriff ich, wie ernst die Lage war. Es gab nichts mehr zu vertuschen. Ich hatte das Vertrauen meiner Eltern missbraucht, die Freiheiten, die sie mir großzügig gewährten, ausgenutzt. Ich erwartete alles: Vorwürfe, einen handfesten Streit, einen Rauswurf – nur das nicht, was dann geschah. Mein Vater kam auf mich zu, nahm mich in den Arm und sagte: »Dirk, es bricht mir das Herz, zu hören, was du getan hast. Aber du bist unser Sohn und wir gehen da mit dir durch. Koste es, was es wolle!«
Das Verhör bei der Polizei war hart. Es wurde Druck gemacht. Doch mein Vater ging dazwischen – zu Recht – und kämpfte um mich wie ein Löwe. Mein Vater musste zusehen, wie ich polizeilich erfasst wurde und man meine Fingerabdrücke nahm. Er war dabei, als Fotos von mir mit Nummer vor der Brust gemacht wurden. Ich war ein Krimineller. Was für eine Wendung in meinem Leben.
Lange hatten meine Eltern auf ihr erstes Kind warten müssen. Dann endlich kam es zur Schwangerschaft und zur Geburt eines gesunden Jungen. Die Freude meiner Eltern war übergroß! Ich war der sehnlichst erwartete und heiß geliebte Sohn. Und nun war dieser Sohn straffällig geworden. Die folgenden Wochen waren schwer für meine Eltern. Es wurde getratscht, sie wurden geschnitten und mein Vater musste sich allerlei Vorwürfe anhören. Man tuschelte hinter seinem Rücken: »Ja, ja, gerade die Kinder der Reichen haben es nötig, zu stehlen.« Es war mir eine Lehre – zumindest was meine kriminellen Machenschaften betraf.
Der Christ
Er sah seltsam aus mit seiner Brille und dem langen Mantel. Und dann organisierte er noch Abendveranstaltungen zum Thema »Gott und Glaube«. Peinlicher ging es kaum und wir ließen ihn das spüren. Auch wenn wir keine Autos mehr knackten – wir waren immer noch die Coolen, die Anführer, diejenigen, die wussten, wie der Hase läuft. Und nun kam da so ein Betbruder und dachte, er könnte uns was erzählen. Das konnte er dann aber doch. Allerdings nicht zu seinem Glauben. Er gehörte zu den hochgebildeten, den schulischen Überfliegern und ich war gemeinsam mit Kirstin gerade sitzen geblieben, da wir zu viel schwänzten. Nun hatte man uns in verschiedene Klassen gesetzt, damit wir einander nicht mehr so stark ablenken konnten. Doch auch das blieb ohne Erfolg. Der Christ suchte eine Unterkunft und meine Eltern gaben sehr viel Geld für Nachhilfe aus. Also schlossen wir eine Vereinbarung: Er durfte umsonst bei mir wohnen und gab mir im Gegenzug Nachhilfe. Ich hatte ja keine Ahnung, wen ich mir da ins Haus holte.
Er sprach oft von seinem Glauben und Gott. Ich hingegen kannte nur eine Mission: Drogen für alle. Ich war erfolgreicher Drogenmissionar, denn hierfür war ich Feuer und Flamme. Also entwickelte ich einen gewissen Ehrgeiz, auch ihn auf den Trip zu bringen. Aber ich scheiterte. Offen ließ er mich wissen, dass er kein Interesse habe. Er hätte etwas Besseres. Ich konnte es nicht glauben. Er blieb ein Rätsel für mich. Mir war aufgefallen, dass er abends häufig von anderen Leuten abgeholt wurde. Später brachten sie ihn wieder zurück. Sehr geheimnisvoll. Was machte er da?...