Einleitung
Ivan Adamovich und Christoph A. Schaltegger
Die Schulden steigen weltweit an
Wir leben in Zeiten ständig wachsender Verschuldung. Die globalen Schulden von Staaten, Unternehmen und Haushalten betragen heute das Zwei- bis Dreifache der weltweiten Jahresproduktion an Gütern und Dienstleistungen – Tendenz steigend.
So hat insbesondere die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in den letzten Jahren einen für Friedenszeiten neuen Höhepunkt erreicht. Mit über 100 Prozent Verschuldung gemessen am BIP ist man weit entfernt von den 60 Prozent, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU empfiehlt, und auch deutlich über der Schwelle von 90 Prozent, bei der gemäss Carmen Reinhard und Kenneth Rogoff das Wirtschaftswachstum einen Malus erfährt. Betrachtet man die zeitliche Entwicklung der Verschuldung, so deutet diese eher auf einen Sperrklinkeneffekt hin als auf langfristige Tragfähigkeit: Bei jeder Krise hat sich das allgemeine Verschuldungsniveau nochmals erhöht, ohne dass nach der Krise die Zeit für eine nennenswerte Entschuldung genutzt worden wäre.
Die Finanzmarktkrise von 2007/08 brach in den USA wegen fauler Immobilienkredite an private Haushalte aus. Auch Unternehmen hatten eine hohe Schuldenlast, während der Staat mit relativ soliden Finanzen aufwartete. Das Bild hat sich geändert. Die privaten Haushalte sind in Relation zum BIP inzwischen deutlich niedriger verschuldet, der öffentliche Sektor hingegen hat eine Schuldenquote von mittlerweile 105 Prozent des BIP. Und angesichts der Ende 2017 verabschiedeten kräftigen Steuersenkungen ist mit einem weiteren Anstieg der Schuldenquote zu rechnen. Dies bedeutet, dass das Angebot an Obligationen steigt. Sollte die US-Notenbank ihre Bilanzsumme tatsächlich einmal nachhaltig reduzieren, dürfte der Markt auf Dauer nur über höhere Zinsen funktionieren. Ein besonderes Problem sind die steigenden Unternehmensschulden: In den vergangenen zehn Jahren haben sie sich in den USA fast verdoppelt und liegen nun bei 5,3 Billionen US-Dollar. Sie haben damit ein Ausmass erreicht, das in früheren Zyklen mit Rezessionen verbunden war (2001, 2009). Dazu kommt eine ungewöhnlich hohe Konzentration von Fälligkeiten in den kommenden Jahren. Falls die Zinsen steigen, würde es hier wohl zu Refinanzierungsproblemen kommen.
Auch in den anderen grossen Wirtschaftsregionen der Welt lässt die Entwicklung der Verschuldung aufhorchen. Zwar hat sich die öffentliche Verschuldung in der Eurozone in den vergangenen Jahren stabilisiert und liegt noch bei 85 Prozent des BIP, doch vor allem die Entwicklung Italiens gibt Anlass zur Sorge. Dort liegt die Staatsverschuldung inzwischen bei rund 130 Prozent des BIP. In Asien fällt vor allem die Situation in Japan auf: Mit über 230 Prozent des BIP ist das Land globaler Spitzenreiter bei der öffentlichen Verschuldung. Viele Ökonomen fragen sich seit Jahren, wie sich diese Situation einst auflösen wird. In China sticht dagegen der hohe Verschuldungsgrad im Unternehmenssektor heraus. Nachdem die Regierung den Anstieg zuletzt etwas gebremst hatte, scheint man aktuell die Kreditvergabe wieder stärker zu fördern, um eine durch den Handelsstreit mit den USA provozierte Wachstumsverlangsamung abzuwenden. Angesichts der Überkapazitäten, die in vielen Sektoren Chinas bestehen, kann man hier von einer Schuldenblase sprechen, auch wenn eine offene Finanzmarktkrise aufgrund der engen Kontrollmöglichkeiten durch den Staat vorerst als unwahrscheinlich erscheint.
Die Schweiz schneidet bei der öffentlichen Verschuldung international sehr gut ab. Zwar hatte die Schuldenquote während der 1990er-Jahre deutlich zugenommen und 1998 mit 49 Prozent des BIP einen Höchststand erreicht. Seit der Einführung der Schuldenbremse beim Bund 2003 sanken die Schulden jedoch wieder und betrugen 2015 noch 30 Prozent des BIP. Die privaten Haushalte in der Schweiz weisen hingegen eine rekordhohe Verschuldung auf. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 ist diese deutlich gestiegen und betrug Anfang 2017 knapp 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beziehungsweise CHF 100–200 pro Kopf – weltweit ein absoluter Spitzenwert. Die Schulden der Schweizer Privathaushalte bestehen vor allem aus Hypothekarschulden: 95 Prozent aller Kredite sind durch Immobilien gedeckt. Den über CHF 730 Milliarden an Hypothekarschulden – grossmehrheitlich bei Schweizer Banken – stehen derzeit Immobilien im geschätzten Gegenwert von mehr als CHF 1900 Milliarden gegenüber. Relativ zur Wirtschaftsleistung ist die Schweizer Volkswirtschaft (Staat, Unternehmen und Haushalte) damit ähnlich hoch verschuldet wie Italien, die USA oder China.
Dieser kursorische Überblick zeigt, dass die Verschuldungssituation zwar je nach betrachteter Region unterschiedlich ist, die Risiken in Bezug auf die langfristige Tragfähigkeit der Schuldenlast aber trotz der Tiefzinsphase seit 2008 nicht abgenommen haben – im Gegenteil. Insofern ist der Ausblick in vielen Ländern getrübt und es stellt sich die Frage der Resilienz von Haushalten, Unternehmen und Staaten, dies umso mehr, als die Alterung der Bevölkerung in den meisten Volkswirtschaften auch noch zu stark ansteigenden Finanzierungslasten für die Renten- und Gesundheitssysteme führen wird.
Kredit ist das Schmiermittel für die Wirtschaft
Trotz aller Skepsis gegenüber der steigenden Verschuldung darf nicht vergessen werden, dass Schulden nicht per se etwas Schlechtes sein müssen. Schulden bedeuten immer gleichzeitig Kredit. Und ohne Kredite sind moderne Volkswirtschaften nicht denkbar. Auf ihnen basieren Fortschritt und Entwicklung der modernen Wohlstandsgesellschaften. So wurden zum Beispiel während der industriellen Revolution viele der grossen Investitionen in die Infrastruktur über Kredite finanziert – man denke nur an die Gründung der Schweizerischen Kreditanstalt zur Finanzierung des damals noch privaten Eisenbahnbaus in der Schweiz. In der Ökonomie ist es unbestritten, dass das Kreditwesen durch Fristentransformation die Wohlfahrt und damit die Freiheitsgrade von Menschen in einer Volkswirtschaft steigern kann. Das gilt nicht zuletzt auch für die öffentlichen Haushalte, deren Ausgaben und Einnahmen im Zeitverlauf Schwankungen unterworfen sind, die sie mit kurzfristigen Schulden meist innerhalb eines Haushaltsjahrs oder eines Konjunkturzyklus ausgleichen können. Zudem gilt Staatsverschuldung im Sinn der goldenen Regel auch längerfristig als gerechtfertigt, sofern sie der Finanzierung wichtiger Zukunftsaufgaben dient. Investitionen zum Ausbau der Infrastruktur oder Bildungsausgaben kommen auch den folgenden Generationen zugute. Deshalb scheint es geboten, sie auch an der Finanzierung durch Schulden im Sinn vorgezogener Steuern zu beteiligen.
Durch Aufnahme längerfristiger Kredite kann der Staat kurz- und mittelfristig seinen finanziellen Spielraum erhöhen. Entsprechend kommt die moderne Staatsfinanzierung ohne Kreditwesen nicht aus, ebenso wie die moderne Wirtschaft ohne Finanzsektor und die Unternehmensführung ohne Kreditfinanzierung heute nicht vorstellbar sind. Doch zu viel Kredit kann in die Schuldenfalle führen. Diese wird dann besonders gravierend und gefährlich, wenn sie ganze Gesellschaften erfasst. Solche Schuldenkrisen haben in der Menschheitsgeschichte immer wieder verheerende Schäden angerichtet, ganz gleich, ob sie aus dem privaten oder, mehr noch, aus dem öffentlichen Bereich kamen. Heute stellen sich die Wirtschaftswissenschaften deshalb nicht die Frage, ob Staaten Schulden machen sollen, sondern vor allem, wie viel Schulden sie machen sollten und wofür sie das geliehene Geld ausgeben. Die Antwort hängt wesentlich davon ab, ob der Staat die Verschuldung zur Finanzierung seiner Ausgaben nutzen kann, ohne die zukünftige Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit zu beschädigen. Wo liegen also die Ursachen, wo die Grenzen übermässiger Verschuldung? Ab wann bedroht die Verschuldung unsere Freiheit? Und was kann dagegen unternommen werden?
Wenn der Kredit zur Schuld wird
Schulden sind weder per se positiv noch grundsätzlich negativ zu bewerten. Sie sind die Grundlage für eine moderne Finanzierung von Staaten und Unternehmen. Doch es scheint, dass insbesondere die Staatsschulden Risiken bergen: Wie die Politische Ökonomie uns lehrt, neigt die parlamentarische Demokratie zu exzessiven Staatsausgaben. Die Idee, den Staatskonsum über gute und schlechte Zeiten hinweg zu glätten, leidet unter dieser politischen Dimension. In schlechten Zeiten werden die Staatsausgaben erhöht, doch in guten Zeiten werden sie nicht wieder zurückgenommen. Schulden sind dabei nicht das Problem, sondern nur Ausdruck des «deficit bias». Probleme tauchen dann auf, wenn die Märkte nicht mehr an die Zahlungsfähigkeit oder Zahlungswilligkeit der Steuerbasis für das gegebene Ausgabenniveau glauben. Die Nebenwirkungen sind anschliessend beträchtlich: Es führt zu einem Einbruch von Konsum, Investitionen und Output, zur Kapitalflucht, zur Arbeitslosigkeit und, damit verbunden, zur Abwanderung von Humankapital. Das Gegenmittel für diese Art von Problem liegt in klugen Rahmenbedingungen. Nobelpreisträger James Buchanan meinte nicht zu Unrecht: «Good games depend on good rules more than they depend on good players.»
Dieses Buch ist aus einem interdisziplinären, mehrtägigen Workshop der Progress Foundation zum Thema «Schulden und Freiheit» entstanden und setzt sich mit verschiedenen Aspekten der Verschuldung auseinander. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung steht dabei die Verschuldung von Staaten vielfach im Mittelpunkt, auch wenn sich viele Gedanken durchaus auf die Verschuldung allgemein übertragen lassen und einige Beiträge sich dem Thema von anderen Seiten her...