»Panta rhei. Alles fließt.«
Heraklit von Ephesos
Die Welt der biologischen Rhythmen
W ie der Mensch und die Natur, so zeigt auch das Klima der Erde eine ausgeprägte Rhythmik: Vor 60 000 Jahren entstanden im Bereich der heutigen Sahara Klimabedingungen, die diese heutige Wüste grün und fruchtbar werden ließen. Südlich davon hatten sich schon vor 150 000 Jahren Menschen vom heutigen, modernen Typus entwickelt. Im Norden, in Zentraleuropa lag ein dicker Eispanzer über den Alpen. Durch die neuen klimatischen Bedingungen entstand ein Korridor nach Norden, der von kleineren Menschengruppen, Jägern und Sammlern, genutzt wurde, um von ihren wahrscheinlich überbevölkerten Gebieten Abschied zu nehmen und ihr Glück in der neu ergrünten Sahara zu suchen. Damit begann die Geschichte der heutigen Menschheit. Ein Teil wanderte immer weiter nach Norden, besiedelte zunächst Kleinasien, dann das südliche Europa. Der Weg zurück war bald durch eine neue Trockenperiode in der Sahara versperrt. Ein anderer Teil wanderte von Kleinasien weiter nach Zentral- und Südasien. Eine kleine Untergruppe erreichte über Inseln den australischen Kontinent. Erst 40 000 Jahre später sollten Menschen aus dem heutigen Sibirien über die Beringstraße in der letzten großen Kaltperiode der Eiszeit auch Nordamerika und entlang der Küsten später Südamerika erreichen.
Vor einer Höhle im heutigen Geissenklösterle bei Blaubeuren saß eines Tages einer der Vertreter der frühen modernen Menschen und schnitzte an einem Knochen aus der Handschwinge eines Schwanenflügels. Mit großer Sorgfalt bohrte er Löcher an bestimmten Stellen in diesen hohlen Knochen, vorsichtig darauf bedacht, das fragile Material nicht zu zerbrechen. Dann schnitzte er ein Mundstück. Nach einiger Zeit probierte er hineinzublasen und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Diese Schwanenknochenflöte wurde fast 40 000 Jahre später, nämlich 1992, bei Ausgrabungsarbeiten im Geißenklösterle gefunden und wird heute als eines der ersten Musikinstrumente der Menschheit betrachtet. Musikinstrumente lassen sich also zuerst im eiszeitlichen Europa nachweisen, nicht in Afrika. Ein moderner Nachbau, ebenfalls aus Schwanenknochen, ließ sich problemlos spielen, und es stellte sich heraus, dass die frühsteinzeitliche Knochenflöte pentatonisch gestimmt ist. Diese Stimmung verwendet fünf Tonstufen pro Oktave (wie die schwarzen Tasten am Klavier) und hat den großen Vorteil, dass Tonfolgen immer gut klingen. Ich hatte diese Musik aus dem Schulunterricht als frühe griechische Musik in Erinnerung, wurde aber in Ägypten eines Besseren belehrt: Als ich diese Geschichte an der Heliopolis-Universität in Kairo auf Einladung ihres Rektors Dr. Ibrahim Abouleish vor einem interessierten arabischen Publikum erzählte, murmelte die Runde bei der Nennung der Pentatonik sofort verständnisvoll: »Arabic Music«. Später bemerkte ich, dass auch die chinesische Musik, wie wir sie in Europa als Hintergrundmusik in China-Restaurants kennen, zur Pentatonik gehört. Offensichtlich haben bereits die Menschen der Eiszeit diese Musik gekannt und geschätzt und ihre Instrumente danach gestimmt. Was aber auch klar wird, ist die Jahrtausende lange Beziehung des Menschen zu Musik und Rhythmus.
Rhythmus spart Kraft
Bereits in der Studentenzeit interessierte ich mich für Entwicklungspolitik und besuchte am Ende meines Studiums mit einer Studiengruppe Tansania, ein materiell sehr armes Land südlich von Kenia. Wir hatten das Glück, von einer ehemaligen Entwicklungshelferin an besonders interessante Punkte gebracht zu werden, die man als normaler Tourist nie zu sehen bekommen hätte. So wanderten wir zu Fuß durch die Usambara-Berge (das schöne Veilchen gleichen Namens kommt von dort) und besuchten einige, damals noch vollkommen traditionelle Dörfer, deren Hütten noch die ursprüngliche runde Form aufwiesen. Dort beobachteten wir auch zwei junge Frauen, eine davon noch fast ein Kind, die andere eine Mutter mit einem Kleinkind auf dem Rücken, wie sie das Mittagessen zubereiteten. Sie verwendeten dafür zwei große Stößel, mit denen sie in einem großen Holzgefäß durch rhythmisches Stampfen den für die Region typischen weißen Mais zerkleinerten. Faszinierend war dabei die Art und Weise, wie sie diese schwere körperliche Arbeit verrichteten: Sie sangen ein Lied und klatschten zwischendurch in die Hände, wenn der Stößel den oberen Punkt seiner Bahn erreichte. Als sie uns sahen, lachten sie, ohne von ihrer Arbeit abzulassen. Überhaupt hatten wir den Eindruck, dass Arbeit hier im Land immer von Rhythmus und Lachen begleitet war. Die Menschen sangen bei der Arbeit, sie stimmten ihre Körperbewegungen auf den Rhythmus des Gesangs ab und erleichterten sich dadurch die schwere Tätigkeit.
Wie anders sehen Menschen in Europa, Japan oder den USA aus, wenn sie von der Arbeit kommen! Verdrießlich und traurig, hat man den Eindruck, eilen sie über die Rolltreppen der U-Bahn zu ihren Anschlusszügen – kaum ein Lächeln kommt jemandem über die Lippen. Ich habe mich in Paris, Wien, New York und Tokio bewusst in U-Bahn-Stationen gestellt und die Menschen beim Verlassen der Rolltreppen aus der Tiefe beobachtet, weil ich dieses Phänomen ergründen wollte. Die Frage, die sich mir dabei stellte, war: Was machen wir hier im Norden und im Westen falsch, dass Arbeit kaum jemandem mehr Freude macht?
Vielleicht sollten wir auch über die Gestaltung unserer Arbeit nachdenken und Arbeitsgeräte von Künstlern bauen lassen, nicht nur von Technikern. Ich habe jedenfalls noch nie jemanden an der Computertastatur singen sehen, und auch ich selbst hatte dazu noch nie das Bedürfnis.
Rhythmus hat offensichtlich in der Frühzeit der Menschheit wie auch heute noch in traditionelleren Kulturen einen hohen Stellenwert. Er gestaltet den Tages-, Monats- und Jahresablauf, ja den gesamten Lebensablauf. Rhythmus erleichtert schwere körperliche Arbeit durch Resonanz (von lat. resonare, »wiedertönen«, »wiederklingen«), durch das Mitschwingen mit dem Arbeitsvorgang. Geräte wie die erwähnten Holzstößel werden nicht so sehr als Werkzeug, sondern vielmehr als Musikinstrument verwendet – und Musizieren macht Spaß.
Viele Jahre später hat eine Studentin aus Indien meine Chronobiologie-Vorlesung besucht und kam bald darauf mit einem Film aus ihrer Heimat zu mir: Er zeigte Frauen in Indien, die junge Reispflanzen setzen. Mit den Füßen stehen sie im schlammigen Wasser und beugen sich nach vorn, um die Pflanzen in die Erde zu bringen. Dabei singen sie ein Lied – und wieder war das gleiche Lachen wie in Tansania dabei und die fröhliche Stimmung. Ich fragte, welches Lied die Frauen sangen: Es sei ein spezielles Lied zum Pflanzen von Reis und wird nur für diesen Zweck gesungen. Wenn die Frauen andere Pflanzen setzen, so verwenden sie andere Lieder. Ihre Kultur hat für jede Arbeit das passende Lied. Musik ist ein vollkommen integrierter Bestandteil des menschlichen Lebens.
Der österreichische Folk-Rockmusiker Hubert von Goisern hat vor einigen Jahren eine Kulturtournee durch afrikanische Dörfer und Städte gemacht, und sein Perkussionist, Bernd Bechtloff, erzählte mir nach der Rückkehr von den besonders eindrucksvollen Erlebnissen. Eines davon war die Erfahrung, dass die Zuschauer in den Dörfern nach Konzertbeginn nicht lange auf ihren Plätzen blieben. Mit dem Einsetzen der Musik und den ersten rhythmischen Klängen verließen sie ihre Sitzplätze, schnappten sich irgendein herumliegendes Instrument – und spielten mit. Und das nicht schlecht. Für einen traditionellen Afrikaner wäre ein Verbleiben am Sitzplatz und geduldiges schweigendes Zuhören, wie wir es aus europäischen Konzerten kennen, nicht auszuhalten. Warum sollen nur die Musiker Freude am Musizieren haben, nicht auch die Zuhörer? Gar keine schlechte Frage!
Musiker, die mit afrikanischen Rhythmen in Kontakt gekommen sind, zeigen sich meist überwältigt von der Komplexität und dem Reichtum dieses Aspektes von Afrika. Journalisten des norwegischen Fernsehens, die es satt hatten, immer nur Meldungen über Korruption und Hungersnöte in Afrika zu hören, haben vor einigen Jahren einen Film über die Rhythmen Afrikas gemacht, der den musikalischen Reichtum dieses Kontinents eindrucksvoll darstellt. Das ganze Leben in Afrika ist – oder war zumindest – von Rhythmus und Musik durchtränkt.
Ob ein Lastwagen fahrtüchtig gemacht wird oder Eisenbahnschienen verlegt, ein Fest im Dorf gefeiert oder Schmiedearbeiten durchgeführt werden, Rhythmus ist immer dabei und begleitet bereits das kleine Kind auf dem Rücken der Mutter. Das norwegische Filmteam stellt sehr eindrucksvoll Vergleiche mit der Rhythmusverarmung in Europa her, und ein Musikwissenschaftler, der viele Jahre in Afrika gelebt hat, zeigt den Zusammenhang zwischen Neurosen und muskulären...