6. Kapitel
Abschiede Ruhapehu, Clabucet, Piatra-Arsa und Palmerston
Rasant kurvte der gelbe Corolla den Berg zum Universitätsgelände hinauf. Nervös schaute Elena auf die Uhr.
„Keine Angst, Darling, das schaffen wir!“, klang Johns Stimme. Es sollte beruhigend wirken, doch ihr ging diese angelsächsische Ruhe manchmal auf den Wecker. Gewiss war es ein Liebesdienst, sie fünfmal in der Woche zur Universität zu kutschieren, um sie nach drei Stunden wieder abzuholen, leider waren jedoch die Hinfahrten immer mit Stress verbunden. Es war bereits fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn und sie saß noch im Wagen.
„Musstest du unbedingt vorher noch tanken? Hättest du das nicht auch auf dem Rückweg tun können?“
„…“
„Schweigen kann auch Antwort sein.“
„Mein lieber Schatz, du hast noch genau vier Minuten bis Unterrichtsbeginn. Mit deinem Temperament schaffst du das spielend.“
Sie stürmte die Treppen hoch und trat keuchend in den Klassenraum. Vierzehn Augenpaare strahlten sie an, als wollten sie sagen: ‚Prima! Du gefällst uns! So ein bisschen Unpünktlichkeit steht dir gut! Wenigstens bist du nicht ganz so German.‘
„Good morning! How are you today?“
„Thanks! We are fine!“
„Na, na! Ich sehe ein paar verschlafene Gesichter.“
„Einige von uns müssen jobben, das stimmt nicht gerade fröhlich.“
„Tja, tut mir leid! Ich werde versuchen Sie so zu faszinieren, dass jeder von Ihnen munter wird. Bei Ihren mangelhaften grammatikalischen Vorkenntnissen müssen wir uns noch straff in die Riemen legen, wenn wir unser Pensum schaffen wollen!“
Im Land der langen, weißen Wolke, wo man nicht unbedingt mit beiden Beinen auf dem Boden steht, wo man nur maori-isch und engel-isch zu sprechen braucht, hatte das Kultusministerium aus Liebe zu seinen immer entspannten und ewig lächelnden Kiwis beschlossen, diese liebenswerte Spezies nicht überflüssigerweise mit Grammatik zu quälen. So kam es also, dass die Studenten der Massey-University in Palmerston-North Elena nach den ersten Deutschunterrichtstunden fragten: „What is that: a noun? And what is that: a verb? Sorry, we don’t know!“
„Wie? Sie wissen nicht was das ist: ein Hauptwort? Ein Verb? Didn’t you have any grammar in the college?“
„No. We didn’t. Sorry, it’s not our fault.“
„It certainly isn’t. But what are we going to do? Das heißt also, Sie hatten nie einen Grammatikunterricht? Wie wollen Sie eine Zweitsprache erlernen, wenn Sie den Aufbau Ihrer eigenen Sprache nicht kennen?“
Vierzehn unschuldige, hilflose Augenpaare, die sie anstarrten, wussten keine Antwort.
„Wissen Sie, meine Lieben, die Grammatik der eigenen Muttersprache dient als Gerüst für jede andere Sprache, die man dazulernt. So, wie bei den neuseeländischen Häusern: Zuerst wird ein kunstgerechtes Gerüst aus Balken, four-by-two, nach einem genauen Plan aufgestellt, wie ein Käfig, und dann werden die Zwischenräume ausgefüllt, mit weather-boards versehen, gestrichen, überdacht, usw. Dieses Gerüst ist wie die Grammatik der eigenen Muttersprache. Man braucht es, um es immer wieder hervorzuholen, wenn man eine neue Sprache dazulernt. Für jedes weitere Haus verwenden Sie dasselbe Muster, bzw. wird jede weitere Sprache auf einem solchen Mustergerüst aufgebaut. Kapiert?“
„Es leuchtet ein. Aber was tun wir jetzt?“
„Es ist nie zu spät, um etwas zu erlernen. Also nichts wie ran!“
Bevor Elena also mit dem Deutschunterricht überhaupt beginnen konnte, musste sie ihren Studenten erst einmal die Grundbegriffe der Grammatik in englischer Sprache beibringen; gewiss ein Defizit. Doch mit dieser Einsicht stand sie leider alleine da, wenn sie auch die Studenten auf ihrer Seite hatte. Selbst ihre Briefe mit den gesammelten Unterschriften an das Kultusministerium, mit dem Vorschlag, in den Colleges Grammatik einzuführen, blieben erfolglos. Neuseeländer lehnen prinzipiell jede Veränderung ab. Belehrt zu werden, ist ihnen ein Gräuel. Also, was wollte diese German lady überhaupt? Die Dinge liefen doch prima: Ein Bein auf dem Boden, das andere hüpfend nebenher und den Kopf in der langen, weißen Wolke, immer nur lieb und freundlich − so war’s doch immer gewesen. Und was die „Overseaers“ jenseits des großen Wassers tun, ist ihre Sache. Die sind weit weg.
Wen wundert’s also, dass Neuseeland das einzige Land der Welt ist, in dem die Kinder gerne zur Schule gehen? Tja, wer das nicht glaubt, der möge mal schnell nach Neuseeland fliegen und die Kinder auf irgendeinem Schulhof befragen: „Do you like school? Or do you prefer weekends?“ Er wird immer und überall dieselbe Antwort erhalten, und das noch mit verklärtem Blick: „I love school! I hate weekends!“
War das nicht ein für Elena maßgeschneidertes Land, dieses Neuseeland?
Ihre Studenten liebten sie abgöttisch, mit dem Deutsch kamen sie inzwischen auch schon gut voran. Liefen die Dinge nicht prima? Na also! Kürzlich hatte sie ihnen versprochen, für die ganze Gesellschaft Knoblauch-Baguette zuzubereiten und mitzubringen. Sie hatte das wirklich getan! Kauend, mit vollem Munde sprechend, verlief die Unterrichtsstunde in aller Gemütlichkeit. Jeder fühlte sich wohl. Bald gab es Ferien, und da wollten sich Studenten und Lehrerin auf dem Mont-Ruhapehu im Skiurlaub treffen. Skisport kam in Neuseeland gerade groß in Mode. Viele wussten gerade noch, dass man auf diesen Utensilien einen Berg hinuntergleiten konnte; aber wie, das war die Frage. Also wollte Elena ihre Kids auch in dieser Fertigkeit unterweisen.
„Kids?“ Stimmte nicht ganz. Die Alterspalette der ihr Anvertrauten reichte von 17–42. Als sie vorigen Winter gefragt hatte: „Who skis?“, hatte der 37-jährige Andrew als Erster die Hand hochschnellen lassen, er, der sein Hemd immer verführerisch aufgeknöpft trug und eine Kette mit Kreuz auf seiner behaarten Brust baumeln ließ, der immer in der ersten Reihe saß und Elena anhimmelte. Dieser blonde, gut gewachsene Männlichkeitsprotz hatte doch tatsächlich einmal zu ihr gesagt: „I love your voice! I like your blue eyes! I like your black hair!“ Oh! Welcher 58-Jährigen hätte das nicht gut getan? Und weil Elena nur geschmeichelt gelächelt hatte, ging die Anmache weiter. Zwar hatte sie so nebenbei erwähnt, dass sie 21 Jahre älter war, in der Hoffnung, es würde ihn abschrecken. Tat es nicht. Im Gegenteil. Eines Tages war er mit einem Riesenstrauß bei ihr zu Hause aufgekreuzt. John, der alles tolerierende Gentleman, hatte ihn im Hof begrüßt und ins Haus geführt. „Elena, du hast Besuch.“ Da musste Elena deutlicher werden. Half auch nichts. Nun sollte sie mit dieser bunten Gesellschaft Skiurlaub machen …
„Komm doch mit!“, hatte sie Skimuffel John gebeten. „Willst du mich dieser Rasselbande überlassen?“
„Das schaffst du locker.“
„Was soll ich nur mit Andrew machen? Der geht ganz scharf ran!“
„Bei deinem Aussehen und deiner Ausstrahlung kann ich Andrew das nicht übel nehmen.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich weiß, dass du immer nur das tust, was du vor Gott, vor dir und vor mir verantworten kannst.“ Somit brachte er sie in den Wintersportort Ohakune am Fuße des Mount Ruhapehu, quartierte sie in einem Hotel ein und wandte sich heiteren Gemüts wieder dem heimischen Herde zu.
Wie zu erwarten, heftete sich Andrew von früh bis spät an Elenas Fersen, tat so, als könne er nicht Ski laufen. Als sie einmal beide am selben Schlepplift hingen und dem höchsten Punkt der Ruhapehu-Skipisten entgegenschleiften, sagte er:
„Elena, ich habe Sie in Ihrem Konzert bewundert. Ich liebe Ihre Stimme, wenn Sie sprechen, doch wenn Sie singen, könnte ich wegschmelzen. Nun stelle ich fest, dass Sie auch eine hervorragende Skiläuferin sind. Was können Sie eigentlich nicht?“
„Was ich nicht kann? Ich bin keine gute Hausfrau, weil ich immer andere, wichtigere Dinge im Kopf habe. Von wegen Ski laufen: Ich bin mit Skiern an den Füßen aufgewachsen, war in Rumänien jahrelang an Landeswettkämpfen beteiligt, habe 1952 und 1953 Goldmedaillen gewonnen. Und übrigens lebe ich mit dem besten Mann der Welt zusammen, der mich jeden Winter in die Berge fährt und abholt. Vorigen Winter war ich auf der Südinsel in Queenstown. Das ist ein Skiparadies!“
Sie waren oben angekommen, kein Mensch war in der Nähe. Seite an Seite standen sie auf dem höchsten Berg der Nordinsel, blickten fasziniert die endlosen, weißen Hänge entlang und schauten in das weite Land hinab. Ein atemberaubender Anblick!
„Wie wunderschön!“, sagte Elena leise.
„Traumhaft schön! Und mit Ihnen ist es noch schöner.“ Sekundenlang Stille. Dann die zaghafte Bitte: „Elena, darf ich Sie etwas fragen?“
„Wenn die Frage interessant ist, nur zu!“
„Hätten Sie Lust … mit mir … eine Woche … Skiurlaub in Queenstown zu machen?“
Sie hatte sich wohl verhört! Er wollte mit ihr Skiurlaub machen?! Nur so, sie und er allein? Nanu! Oben, auf 2700 m Höhe, wehte ein eisiger Wind. Elena zog ihre...