EIN JAHR IN HONGKONG – IM VORHOF DER HÖLLE
Die belebten Straßen erglänzen im Lichterschein der Nacht. Riesige, an den Hausfassaden befestigte Reklametafeln ragen weit über die Nathan Road, die Hauptverkehrsader Kowloons. Von der Fähre, die zwischen Kowloon und Hongkong Central im Zehnminutentakt verkehrt, der Star Ferry, blicke ich über den Hafen auf die erleuchteten Wolkenkratzer und die Uferstraße auf der anderen Seite. Ich flaniere über die auf Säulen ruhende Hafenpromenade, die sich vor dem futuristisch anmutenden, 1989 erbauten Kulturzentrum am alten Uhrturm hinzieht, und genieße die markante Skyline von Hongkong. Der 367 Meter hohe, gläserne Dreiecksbau der Bank of China hebt sich mit seiner eigenwilligen Architektur von den anderen Wolkenkratzern ab. Zwei Antennen auf dem spitzwinkligen Dach verlängern den Turm und durchstechen den Himmel, ein Zeichen von Stärke und Macht.
Im Herzen Kowloons, in der Nathan Road, liegt das Chungking Mansions, ein siebzehnstöckiges, fünf Blöcke umfassendes Hochhaus aus dem Jahr 1961. Es besteht aus einer Ansammlung von Gästehäusern, Herbergen, Shops, Restaurants und Bistros, kleinen Fabriken, Wechselstuben und Privatwohnungen. Hier leben viertausend Menschen. Seit Jahrzehnten zieht es Rucksackreisende, legale und illegale Immigranten, Händler aus der Dritten Welt, dubiose Geschäftsleute, Ratten und Kakerlaken an. Der Reiseführer „Lonely Planet“ bezeichnet das Leben in diesem Mikrokosmos als die „Vision einer Hölle“, obwohl es viele kleine, saubere Gästehäuser auf den verschiedenen Etagen gibt und auch ordentliche Leute ihre winzigen Appartements hier haben.
Die Sechsmillionenstadt Hongkong kann sich nicht ausbreiten, es fehlt an Platz. So wird in die Vertikale gebaut. Auch in den hügeligen Territorien, dem Hinterland Hongkongs, erheben sich die Wohnsilos in den Himmel, Legebatterien vergleichbar. Sie überragen um ein Vielfaches die älteren ein- und zweistöckigen Häuser, die besser auf die Bedürfnisse des Menschen zugeschnitten sind. Die Mieten sind hoch, viele Menschen leben auf engstem Raum. Etwa einhunderttausend Hongkong-Chinesen wohnen sogar in übereinandergestapelten, zwei Kubikmeter großen Mietkäfigen. Für Hühner treten Tierschützer ein, für Menschen gibt es keinen Schützer. — David und ich wohnen im sechzehnten Stock des Travellers Hostels. Die meisten Reisenden leben in Vier- oder Sechsbettzimmern, die mit zweistöckigen Eisenbetten ausgestattet sind. Außerdem gibt es noch drei Doppelzimmer. Wir haben das größte erwischt. Jeder, der reinkommt, staunt, dass es so etwas Großes im Chunking Mansions überhaupt gibt. Gewöhnlich ist ein Doppelzimmer mit einem Bett ausgefüllt, in das der Bewohner sich setzen muss, ehe er die Tür schließen kann. Wir haben eine Winzigkeit mehr an Platz. Ohne Verrenkung können wir stehen und zweieinhalb Schritte tun. Im Vergleich zu den Mietkäfigen der ärmsten Chinesen leben wir wie in einem Palastzimmer.
Unser Zimmer ist keine zehn Quadratmeter groß. In einer Ecke steht ein Eisenschrank mit imitierter Holzmaserung, unsere Bücher stehen in aus Pappkartons zusammengesetzten Bücherregalen neben einem ausgedienten Computer, den David aufgetrieben hat. Der Tisch ist etwa acht Din-A4-Seiten klein. Ein wackeliger Bürostuhl ergänzt das Mobiliar. Wir haben sogar eine leicht lädierte Stehlampe auftreiben können. Der cremefarbene Lampenschirm taucht das Zimmer in weiches Licht und ersetzt die kalte Neonbeleuchtung. Die weiß gekachelten Wände – wir kommen uns vor wie in einer Metzgerei – haben wir mit Landkarten zugepflastert: Ein großer Teil der weiten Welt hängt im Zimmer: China, Hongkong und die „New Territories“. Davids Fahrrad liegt unter dem Bett, mein „Flöhchen“ steht an der Wand und dient als Ablage. Zwei Besucher finden spielend Platz, notfalls drei, dann wird es eng.
In diesem Zimmerchen standen einmal drei doppelstöckige Betten. Sechs Rucksackreisende mussten sich mit ihrem Gepäck einrichten. Vor elf Jahren hatte ich eine vergleichbare Unterkunft ein paar Straßen entfernt. Zehn Personen hausten dort auf engstem Raum. Ich wusste nicht, wohin ich den Rucksack stellen sollte. Das Travellers Hostel existierte damals auch schon. In der großen, quadratischen Eingangshalle herrschte ein großes Durcheinander. Eine Matratze lag neben der anderen, um die Gäste aufzunehmen, die in den umliegenden Herbergen keinen Platz mehr gefunden hatten. Heute ist der große Eingangsraum des Travellers Hostels frei. Gegenüber der Rezeption hängt die Pinnwand, Bänke stehen an den Wänden und laden die Gäste zum Hinsetzen und Plauschen ein. Ein Getränkeautomat und ein Bügelbrett stehen um die Ecke. Die Wände sind weiß gekachelt, die Herberge ist sauber, denn die Polizei und das Gesundheitsamt sorgten vor zwei Jahren dafür, dass die schlimmsten Missstände beseitigt wurden. Ein Gästehaus nach dem anderen musste schließen, es sei denn, die Besitzer fingen an, diese zu renovieren und zu putzen. Viele taten es und erhöhten die Preise. In einigen Schlafräumen ist es immer noch eng. Aber da ein bisschen mehr auf die Hygiene geachtet werden muss, geht es etwas menschenwürdiger zu.
Die Küche im Travellers Hostel ist ein schmaler Schlauch, die Wände sind, wie üblich, gekachelt. Auf der Steinanrichte steht ein zweiflammiger Gasherd, an der Stirnseite befindet sich die ewig verstopfte Spüle, unter der Anrichte stapeln sich Töpfe und Pfannen auf Regalbrettern. Teller und Besteck muss jeder mitbringen, wäscht sie nach der Mahlzeit ab und nimmt sie mit ins Zimmer. Schmutzige Töpfe und Pfannen dagegen lässt manch einer frech stehen.
Der Kühlschrank ist vollgestopft mit Plastiktüten voll Lebensmitteln der Kochlustigen. Anfangs gab es zwei Kühlschränke, einer war defekt: Die Tür sprang andauernd auf. Eine Ratte kam des Öfteren zu Besuch, huschte durchs Fenster und an den Wänden entlang und einmal sprang sie aus dem Kühlschrank heraus. Mae von den Philippinen, die Managerin, entsorgte ihn. Sie versucht ihr Bestes, die Küche und den kleinen Vorraum sauber zu halten. Der quadratische Tisch in dem Vorraum ist längst nicht groß genug für die drei Dutzend Leute, die sich ihre Mahlzeiten selbst zubereiten und dort essen wollen.
Vor Kurzem waren Gisela, Chemielehrerin an einer Berufsschule, und Christa, Englischlehrerin an einem Gymnasium, hier. Sie verbrachten ihre Osterferien in Hongkong und Südchina. „Hier bleiben wir nicht!“, hatte Christa gesagt, gewöhnt an Sauberkeit, Ordnung und gehobenen Komfort – ihre erste Reaktion auf diese Budget-Unterkunft. Sie blieben doch, denn das Travellers Hostel im Chungking Mansions ist die preiswerteste Bleibe im teuren Hongkong. Es besticht durch die ideale Lage im Zentrum der Stadt. Gisela und Christa fingen an, die Treffen und Gespräche mit den anderen Gästen der Herberge zu genießen, sie setzten sich zu uns und erkundigten sich wissbegierig nach unseren Erlebnissen. Vor allen Dingen Gisela war fasziniert von unserem Lebenstil. Sie selbst hatte abenteuerliche Reisen über das Touristikunternehmen Rotel-Tours gemacht und war im „rollenden Hotel“, den speziell ausgestatteten Allradbussen von Rotel Tours, durch Tunesien gerollt.
Die meisten Rucksackreisenden bleiben nur ein paar Tage in Hongkong, fahren dann nach China oder fliegen nach Bangkok, Manila, Taipeh oder nach Hause zurück. Einige Gäste des Hostels sind länger unterwegs, Aussteiger wie wir, deren Zukunft nicht vorprogrammiert ist, die das Karriere- und Sicherheitsdenken aufgegeben haben und die immer wieder neu entscheiden müssen, wo sie ihre Brötchen verdienen, damit die Reise weitergehen kann.Viele Engländer bleiben länger in der Stadt. Anstandslos bekommen sie für den Aufenthalt in der britischen Kronkolonie ein Visum für ein ganzes Jahr. Sie dürfen hier arbeiten und suchen sich einen Job. David ist mit seinem britischen Pass aus dem Schneider. Schnell bekommt er die ersten Englischkurse über eine Agentur vermittelt und unterrichtet morgens Kinder in Schulen und abends Erwachsene in den Räumen der Agentur.
Ich stecke in der Klemme. Deutsche bekommen ein Visum für nur vier Wochen. Alle Naselang muss ich nach Shenzen ausreisen, um mir an der Grenze ein neues Visum zu besorgen. Wie lange würde das gutgehen?
An Bremer Instituten unterrichtete ich Anfang der Neunzigerjahre als Dozentin Deutsch als Fremdsprache. Jetzt suche ich nach einer Dozentenstelle in Hongkong. Ich kontaktiere das Goetheinstitut mit einem abschlägigen Bescheid, erkunde die Lage an einer Schweizer Schule und finde schließlich eine Anstellung an einem Fremdspracheninstitut in Hongkong Central. William, der junge Manager gibt mir schnell den ersten Kurs, obwohl er um meine Situation weiß: „Alle vier Wochen läuft mein Visum ab. Ich muss nach Shenzen fahren und mir ein neues besorgen!“ „Macht nichts“, sagt er, „ich helfe dir, wenn die Beamten Schwierigkeiten machen!“ Aber er unternimmt nichts! Unternehmer müssen eine empfindliche Strafe zahlen, wenn sie ausländische Arbeitskräfte ohne Arbeitsvisum einstellen. Wenn er bloß nicht auffliegt!.
Nach drei Monaten macht der Zoll Ärger. Was ich in Hongkong wolle, wie lange ich bliebe, wollen die Beamten wissen. „Beim nächsten Mal lassen wir Sie nicht mehr einreisen!“ Sie drücken den Stempel in meinen Pass und für vier Wochen habe ich wieder Luft. Wenn sie wüssten, dass ich bereits illegal arbeite und mittlerweile drei Kurse. betreue!
David und ich gehen zum Ausländeramt, um eine längere Aufenthaltsgenehmigung für mich zu beantragen. Die Einreise- und Ausreisestempel in Pässen, Briefe von Freunden und Fotos beweisen, dass wir schon einige Jahre zusammenleben, und siehe da: Der Beamte bewilligt mir eine Aufenthaltsgenehmigung bis zum Ende des Jahres 1995. Eine Sorge weniger! Die Arbeit aber bleibt...