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Kapitel 1
Die Aufgabe der Predigt
Wenn ich auf der Kanzel stehe, schießen mir gelegentlich ganz sonderbare Gedanken durch den Kopf. Sie klingen etwa so: „Was machst du eigentlich hier oben? Woher nimmst du dir das Recht, von der Kanzel her in das Leben anderer Leute eingreifen zu wollen? Warum predigst du überhaupt? Was gehen dich die vielen Leute an?“ Natürlich fange ich mich genauso schnell, wie mich diese Gedanken überfallen haben. Was würde die Gemeinde denken, wenn ich mich plötzlich in Schweigen hüllen und die Kanzel still verlassen würde. Außerdem sind diese verunsichernden Fragen schnell beantwortet. Was mache ich hier oben? Ich predige. Wer gibt mir das Recht zu predigen? Nun, ich fühle mich in die Verkündigungsaufgabe gerufen und weiß mich von ungeistlichen Motiven frei – zumindest fast frei, wie ich mir ehrlicherweise eingestehen muss. Und warum predige ich? Weil die Predigt einen wesentlichen Bestandteil des gemeindlichen Lebens ausmacht und fest in der Heiligen Schrift verankert ist. Außerdem hat man mich eingeladen zu predigen. Ich tue nur, was man von mir erwartet. Kurze Fragen – schnelle Antworten. Vielleicht zu schnell? Wir müssen schon ein wenig genauer darüber nachdenken, was Predigt ist. Nur wer weiß, was er tut, tut das, was er tut, richtig. Was tun wir also, wenn wir predigen?
Die Verkündigung des Evangeliums in aller Welt und die Predigt in der Gemeinde sind keine Sonderpfründlein redefreudiger und mitteilsamer Mitchristen, die sich gerne im Vordergrund sehen und die Verbesserung der Welt betreiben wollen. Sie ist vielmehr der spezielle Auftrag Gottes an seine Gemeinde. Der Missionsauftrag Jesu fordert zur Evangelisation auf.1 Die Praxis der Jünger zeigt, dass sie die Verkündigung als wesentliches Mittel zur Erfüllung dieses Auftrags verstanden haben. Denn der Glaube kommt aus der Predigt, wie Paulus sagt.2 Auch die Weiterführung der zum Glauben Gekommenen ist im Missionsbefehl Jesu mit der Verkündigungsaufgabe verknüpft: „Lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch gesagt habe.“3 Die Predigt spielte deshalb in der Evangelisation, im Gemeindeaufbau und in der Gemeindepflege der ersten Christen eine wichtige Rolle. Sie nahm diesen Stellenwert nicht nur deshalb ein, weil sie aus pragmatischen Gründen sinnvoll und notwendig erschien, sondern weil sie als Auftrag Gottes verstanden wurde. Wenn wir predigen, erfüllen wir deshalb einen göttlichen Auftrag. Die Verkündigung erhält so eine andere Bewertung und Würde, als wenn wir sie bloß als geistliche Rede von religiös Interessierten an religiös Interessierte verstehen würden.
Auch wenn jeder Christ aufgerufen ist, seinen Glauben zu bezeugen und ihn anderen mitzuteilen, ist der Auftrag der Verkündigung nicht jedem Einzelnen in der Gemeinde anvertraut. Jeder darf und soll sich äußern. Die Gottesdienste der ersten Gemeinde lebten geradezu von diesem Grundsatz. „Wenn ihr zusammenkommt, so hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat eine Sprachenrede, hat eine Offenbarung, hat eine Auslegung, alles geschehe zur Erbauung.“4 Trotzdem gibt es die besondere Gabe und Aufgabe der Dienstes am Wort. Sie zeigt sich bei Evangelisten, bei Lehrern oder bei Hirten, die ebenfalls fähig zur Lehre sein sollen.5 Der spezielle Auftrag zur Verkündigung liegt dort vor, wo Gabe und Berufung zueinanderfinden. Heute ist es weithin üblich geworden, ausschließlich gabenorientiert zu denken. Wer die Gaben zur Verkündigung hat, der soll auch predigen dürfen. Dabei wird der Aspekt der Berufung oft viel zu sehr vernachlässigt. Das Recht zum Predigtdienst lässt sich nicht aus attestierter Beredsamkeit ableiten oder mit dem Nachweis einer irgendwie gearteten homiletischen Ausbildung begründen. Für eine Bevollmächtigung zum Dienst reicht das nicht aus. Jeder, der auf der Kanzel steht, sollte wissen, dass er im Namen Gottes dort steht.
Ob eine Berufung zum Verkündigungsdienst vorliegt, ist nicht immer leicht zu erkennen. Vier hilfreiche Kriterien nennt Charles H. Spurgeon.6 Er führt auf: den starken Wunsch zur Verkündigung, die vorhandenen Gaben zur Verkündigung, die göttliche Bestätigung durch bereits entstandene Frucht und die menschliche Bestätigung durch die Gemeinde. Wenn diese vier zusammenkommen, können wir sicherlich von einer göttlichen Berufung sprechen. Die vollzieht sich übrigens immer innerhalb des Rahmens, den die Heilige Schrift selbst steckt. So erwarten wir beispielsweise keine Berufung für einen Menschen, der nicht selbst eine Lebenserneuerung durch Christus erfahren hat und der in diesem Sinne nicht Zeuge Jesu sein kann. Wenn Sie predigen, müssen Sie also zwei Dinge wissen: Sie müssen wissen, dass Gott Sie berufen und dass er Ihnen die notwendigen Gaben gegeben hat. Die Einsicht zu beidem kann reifen und führt Sie in einen spannenden Prozess, in dem Sie zu sich selbst und zu Ihrer Aufgabe finden.
Predigen ist eine der schönsten Aufgaben, die es gibt. Das sage ich nicht, weil ich die Last der Verantwortung, das Ringen um die Gemeinde oder die Mühen der Vorbereitung nicht kennen würde. Aber wer in der Verkündigungsarbeit steht, nimmt Teil an der Ausbreitung der frohen Botschaft von der Rettungstat Gottes. Er ist ein Botschafter an Christi statt und ruft den Menschen zu: „Lasst euch versöhnen mit Gott.“7 Der froh machende Grundzug des Evangeliums kommt nicht nur in der evangelistischen Verkündigung, sondern auch in der Gemeindepredigt zum Ausdruck. So versteht sich Paulus beispielsweise den Korinthern gegenüber als „Gehilfe zur Freude“.8 Selbst seine ermahnenden Worte sind ein wesentlicher Bestandteil seiner liebevollen Fürsorge für die Gemeinde. Dass Paulus trotz aller Auseinandersetzungen und Anfeindungen das Wort Gottes freudig verkündigt hat, hören wir als Grundton in allen seinen Briefen heraus.
Die Predigt der Frohen Botschaft erfordert deshalb frohe Prediger. Ich kann jeden verstehen, der unter der Verantwortung des Predigtdienstes manchmal schwer zu tragen hat. Aber wenn er den Verkündigungsauftrag vorwiegend und beständig als Mühe und Belastung empfindet, ist irgendetwas schiefgelaufen. Wer predigt, muss wissen, dass er es mit der besten Botschaft der Welt zu tun hat. Er muss wissen, dass er den Menschen die Liebe Gottes vor Augen malen darf. Er muss, wenn er Sünde, Schuld und Gericht beim Namen nennt, den Blick schon auf die angebotene Gnade gelenkt haben. Er muss zutiefst davon überzeugt sein, dass Gott jeden Menschen zurechtbringen kann und dass der Geist Gottes in der Lage ist, die verworrensten Verhältnisse zu ordnen und innere Heilung zu bewirken. Kurz: Er muss das innere Wesen des Evangeliums verstanden haben und zutiefst von seiner Richtigkeit und Wirksamkeit überzeugt sein! Wenn Sie predigen, bringen Sie den Menschen diese fantastische Nachricht. Die Gemeinde spürt es Ihnen ab, ob Sie auf der Kanzel freudlos Ihre Pflicht erfüllen oder aus der Mitte dieses Evangeliums schöpfen.
Ausgangspunkt unserer Verkündigung ist die Heilige Schrift. Sie ist Gottes bleibendes Wort an seine Gemeinde im Wandel der Zeiten. Unsere persönlichen Ansichten zu Gott und der Welt werden unwillkürlich in unsere Predigt einfließen. Aber sie sind sekundär. Sie müssen sich am Maßstab der Bibel messen lassen und sind nie selbst Grundlage unserer Predigt. Wir sind auch keine biblischen Apostel und Propheten, die das Wort Gottes direkt vom Himmel her empfangen. Wir halten es bereits in unseren Händen. Wir bitten darum, dass Gottes Geist in unserer Predigt kräftig zu Worte kommt. Aber dieser Geist, der die Bibel durchdringt, ersetzt sie nicht, geht nicht über sie hinaus oder an ihr vorbei. Predigt ist deshalb im Kern immer Auslegungspredigt. Sie arbeitet an der Schrift, versucht, sie in ihrem Selbstverständnis zu erfassen und dann der Gemeinde zu entfalten und als Anrede Gottes nahezubringen. Die Predigt ist deshalb das Ergebnis einer intensiven Bemühung um das, was Gott bereits gesagt hat. Daher ist eine gründliche Exegese die Basis aller Verkündigung!
Ich gehe einmal davon aus, dass Sie diesen thesenhaften Aussagen grundsätzlich zustimmen. Die Umsetzung in die Praxis fällt uns aber schwer. Viele Predigten gehen oberflächlich über den Bibeltext hinweg. Sie sind kaum in das Wort eingetaucht. Alles ist auf schnelle und griffige Anwendungen ausgelegt. Der Verkündiger will möglichst auf direktem Weg „zum Eigentlichen“ kommen – zu „seiner“ Botschaft. Wenn uns die Bibel so wichtig ist, wie wir sagen, dürfen wir sie in der Praxis nicht stiefmütterlich behandeln. Auf drei Fallen möchte ich Sie aufmerksam machen, in die wir im Blick auf die Exegese immer wieder gerne hineintappen:
Der erste Feind für eine gründliche Exegese ist unsere vermeintliche Kenntnis des Texts. Wer viel mit dem Wort Gottes umgeht, erarbeitet sich auf die Dauer einen großen Schatz an Bibelwissen und theologischen Einsichten. Diese Vorkenntnisse schwirren wie Fertigbauteile in unseren Köpfen herum, wenn wir an einen neuen und vielleicht doch so vertrauten Predigttext herangehen. Wer macht schon zu Joh 3,16 eine ausführliche Exegese? Diese zentralen Aussagen über die Liebe Gottes, der seinen einzigen Sohn für uns gegeben hat, sind uns so vertraut, dass wir gleich zur Anwendung übergehen können – so glauben wir. Aber genau damit verpassen wir die Chance, dem Bibelwort neu zu begegnen, es tiefer zu verstehen und...