Das Wiederfinden des Fühlens und das (Wieder-)Finden selbstloser Empfindungen hängt innig miteinander zusammen. Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen, aber man kann es sich schon zu Beginn klarmachen. Abschreckend braucht es nicht zu sein, weil alle Vorstellungen, die man davon vielleicht hat, der Realität gar nicht entsprechen werden, die man findet, wenn man sich auf einen inneren Weg macht. Denn die Seele, die im Verlauf dieses inneren Weges zum Leben erwachen wird, wird ja gar nicht mehr dieselbe sein, die jetzt vielleicht überhaupt nicht selbstloser sein möchte, als sie es im Moment ist – oder die sich schon bei dem Wort ,selbstlos’ nur öde oder abschreckende, unangenehme Vorstellungen machen kann. So, wie diese jetzige Seele das Glück gar nicht mehr wirklich kennt, so kennt sie auch den wahren Zustand nicht, der auch dasjenige in sich trägt, was ,selbstlos’ im positivsten Sinne wirklich bedeutet.
Wenn man nur ein wenig tiefer über diese Fragen nachsinnt, wird man den Zusammenhang leicht selbst empfinden können. Inniges Glück und tiefe Empfindungen hängen immer damit zusammen, dass man von sich selbst loskommt und eintauchen kann ... in das Andere. In die Schönheit eines anderen Menschen, in die Schönheit des Zusammenseins mit ihm. In die Schönheit von allem, was einen umgibt. Um dieses Mysterium geht es – in diesem Vorgang, der einem Wunder gleicht, liegt das Geheimnis dessen, was wir ,Glück’ nennen. Es ist die tiefe Verbindung mit anderem, das tiefe, das wahre, das wirkliche Mitleben mit anderem...
Es ist doch deutlich, dass es hier um die Fähigkeit geht, sich selbst vergessen zu können – das normale Selbstgefühl, das einen so sehr an sich selbst kettet, vergessen zu können, damit das ganze eigene Wesen eintauchen und mitleben kann mit dem, was ... nicht man selbst ist. Das ist nichts Schlimmes, nichts Bedrohliches, nichts Gefährliches – es ist geradezu eine Erlösung. Es ist eine Erlösung von dem öden, stets alles lähmenden, alles erstickenden Selbstgefühl. Es ist eine Erlösung von der Abstraktheit, mit der unser gewöhnliches Bewusstsein immer sich selbst im Mittelpunkt denken, fühlen und wollen muss, so dass wir niemals, niemals mehr so sehr denkend, fühlend und wollend in etwas anderes eintauchen und uns mit etwas anderem verbinden können, wie wir es noch als Kinder konnten. Eine Erlösung ist es, wenn man die Wege kennenlernt, auf denen dies doch wieder möglich wird – die Wege, auf denen man das Wunder wiederfinden darf...
Es besteht bei dem modernen Menschen eine ungeheure Angst, sich zu verlieren – und zugleich auch eine unbewusste Sehnsucht danach. Beides ist in gewisser Weise unberechtigt – oder auch gleichermaßen berechtigt. Denn in der wahren Selbstlosigkeit, die hier gemeint ist, verliert man sich gar nicht. Es ist in diesem Sinne keine Selbstaufgabe. Es ist gerade ein Finden einer wunderbaren Fähigkeit, die zutiefst menschlich ist, zum wahrhaft Menschlichen gehört. Das Mitlebenkönnen, die Fähigkeit zu wirklichem, zu wahrem Mitleid, zu ebensolcher Mitfreude, bedeutet keine Selbstaufgabe. Es bedeutet das Finden einer inneren Substanz, die eintauchen kann und sich nicht verliert, auch wenn sie sich vergessen kann; nicht an sich kleben muss, nicht der Mittelpunkt sein muss. Sie bleibt ein Mittelpunkt, nämlich die Quelle dieses Erlebens – und doch kann auch das Andere Mittelpunkt werden, nämlich das, dem sich diese Quelle zuwendet.
Hingabe im Erleben, im Fühlen, im Handeln, ja auch im Denken, ist etwas völlig anderes als Selbstaufgabe. Es ist gerade eine Vertiefung des wahren Selbst oder Ich. Denn was ist es, was so mitleben, mitfühlen, mitdenken kann, was sich so verbinden kann mit der Mitwelt? Es bleibt das Ich – aber in völlig anderer Weise als vorher.
Es geht nicht um ein Sich-Verlieren im Rausch, in der Ekstase. Das ist in gewisser Weise wirklich eine Selbstaufgabe. Und doch ist es etwas sehr Selbstbezogenes, Egoistisches. Drogen, Alkohol, wilde Feten – all das führt zu einem Verdämmern des normalen Selbsterlebens und also auch zu einem Eintauchen in Anderes. Aber hier ist der Körper sehr stark beteiligt. Das klare Bewusstsein schwindet – und man taucht ein in diejenigen Empfindungen, die nun übrigbleiben oder vielleicht sogar jetzt erst aufsteigen.
Im Rausch geht es gerade nicht darum, sich in zarter, inniger Weise mit dem Wesen eines anderen Menschen zu verbinden, ihm mit seiner ganzen Seele vielleicht zuzuhören, ihn in allen Nuancen wahrzunehmen und sein Erleben mitzuempfinden, zu teilen, tiefer zu verstehen, als es gewöhnlich je möglich wäre. Im Rausch geht es vor allem um ein Sich-Fühlen. Durch die Ablähmung des klaren Bewusstseins kann die Illusion entstehen, dass man ganz in die übrige Welt eintaucht, und das kann auch geschehen, aber man nimmt sich und sein Leibeserleben und sein gewöhnliches seelisches Leben immer mit. Es bleibt trotz allem ein tiefer Selbstbezug – und gerade dieses gesteigerte Selbst- und Lust-Erleben wird ja im Rausch überwiegend gesucht, nichts anderes. Die Illusion, dass man auch dem Anderen näher ist, entsteht nur dadurch, dass im Rausch alles Erleben intensiver wird, dass auch verschiedene Hemmungen fallen und so weiter. Dennoch nimmt man immer sich mit. Das Erleben im Rausch ist vielleicht intensiver, aber es ist nie feiner als im gewöhnlichen Leben, es ist oft sogar gröber.
Im Rausch findet man vielleicht zu hemmungsloser Ekstase, zu wildem Tanz, zu wildem Sex und anderen sehr intensiven, sehr körperbetonten Erlebnissen – aber man wird im Rausch nie zu dem wirklichen, tiefen Wesen des anderen Menschen oder der übrigen Welt finden.
Das tiefe Sich-Verbinden mit dem anderen Menschen und allem anderen, was einen umgibt, führt immer nur durch das Geheimnis der Sanftheit. Es ist ein Geheimnis der gesteigerten Reinheit. Das gewöhnliche Leben darf nicht im Rausch überwunden werden. Es muss durch eine ganz bewusste Vertiefung der Empfindung und der Zartheit der Empfindungen überwunden werden.
Wer den Rausch sucht, sucht im Grunde noch ganz das Selbsterleben. Das Geheimnis der sich vertiefenden Sanftheit des Erlebens und der dadurch möglichen Vertiefung des Erlebens überhaupt sucht nur der, der bereits deutlich ahnen kann, dass hier das wahre Geheimnis liegt – und auch das wahre Glück, das wirkliche Wunder.
Aber diese Sehnsucht brauchen wir – und in gewisser Weise hat diese Sehnsucht auch jede Seele. Sie muss sie in sich nur finden. Sie muss nur finden, dass nicht nur dasjenige in ihr lebt, was den Rausch sucht, das so einfache Steigern des Erlebens, das aber die Seele selbst ganz unverwandelt lässt, allenfalls stärker in den Körper hineinstößt – sondern dass auch das in ihr lebt, was sich wirklich verwandeln möchte, um fähig zu werden, tiefer, reiner und gleichsam heiliger zu empfinden. Dieses Etwas lebt in jeder Seele – und es weiß, dass in dieser Verwandlung das wirkliche Wunder gefunden werden kann. Es weiß, dass die Heiligung der Empfindungskräfte und Empfindungsfähigkeit kein langweiliger Weg ist, sondern dass auf diesem Weg gerade jene Unendlichkeit einer immer intensiveren Verbindung mit allem gefunden werden wird, die auf keinem anderen Weg möglich ist.
Wirklich verwandelt sich das Erleben erst dann, wenn sich die Seele selbst verwandelt. Und der reinste Teil der Seele, der wir in Wirklichkeit mehr sind als jeder andere Teil, weiß dies alles auch. Und deswegen hat er eine Sehnsucht danach. Es ist der Kern unserer Seele. Im Innersten unserer Seele haben wir diese Sehnsucht – die Sehnsucht nach innerer Entwicklung und Verwandlung.
Dem innersten Teil unserer Seele ist gerade ein Leben ohne innere Entwicklung etwas Langweiliges, etwas, was niemals der Sinn des Lebens sein könnte. Dieser Teil unserer Seele weiß, dass selbst ein Leben mit rauschhaften Erlebnissen Tag für Tag niemals ein Leben aufwiegen könnte, in dem die Seele den Weg einer inneren Entwicklung betritt...
Was nützt ein Leben voller sexueller und anderer Orgien, wenn man nie das tiefe Glück erleben kann, für Momente einem an einem Sommertag vorbeigaukelnden Schmetterling zuzusehen und so tief die Schönheit dieses Augenblickes zu erleben, dass man dafür überhaupt keine Worte hat...
Orgien sind leiblich – sie können niemals der Seele eine wirkliche Erfüllung geben. Die innige Verbindung mit diesem Schmetterling und seiner Schönheit aber, überhaupt der Schönheit des ganzen Augenblicks, ist etwas, was die Seele erlebt. Sie kann es aber nur, wenn sie sich dazu fähig macht; wenn sie sich wieder Fähigkeiten erringt, durch die sie so fein und innig wahrnehmen kann, dass sich ihr die realen Wunder wieder neu real offenbaren...
Und dann, wenn sie dieses Erleben gewinnt, weil sie in ein neues Erleben hineinwächst, dann wird auch das, was vorher in Orgien gesucht wurde, zu einem viel tieferen und immer tieferen Erleben, das immer mehr...