3. DIE REPUTATIONS-SPIRALE
Wie sich die Erwartungen an Unternehmen verschärfen
Klassische Orientierungsrahmen wie Großfamilie, Militär oder Kirche haben sich weitgehend aufgelöst. Für die damit einhergehenden Stabilitätsverluste gibt es Souveränitätsgewinne. Doch die Menschen suchen weiterhin Orientierung und halten sich an konservativen Werten fest – nicht, um sie zu erfüllen, sondern um Menschen und Institutionen zu finden, die sie erfüllen.
Werte pervertieren damit zu einer Anspruchshaltung gegenüber Unternehmen, die diese Werte zu erfüllen haben, um akzeptiert zu sein. Das führt dazu, dass die Bürger zunehmend Verantwortung an Unternehmen delegieren.
Und als wäre das nicht genug, wollen die Menschen dabei eingebunden werden – freiwillig, ohne Verpflichtung, aber als wichtige Meinungsbildner. Willkommen in der neuen Anspruchswelt!
Wer sich mit Managern und Kommunikatoren unterhält, hört oft die Klage, dass das Verteidigen der Reputation immer schwieriger wird. Social Media machen die Meinungsbildung immer schwerer kontrollierbar. Die Ansprüche an das Unternehmen steigen, mitunter ins Abstruse. Die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit beschleunigt sich, was dann eher die Züge einer Vorverurteilung annimmt als einer sorgfältigen Meinungsbildung. Diese Phänomene sind tatsächlich zu beobachten. Allerdings sind es nur die oberflächlichen Effekte. Wesentlich wichtiger sind die dahinterliegenden gesellschaftlichen Entwicklungen, die diese Effekte verursachen. Nur wer die Bewegung dahinter versteht, kann sein Reputationsmanagement darauf ausrichten. Was also passiert gerade?
Die Managementberater der Hay Group, die regelmäßig die begehrtesten Unternehmen küren, bedienen sich sechs Megatrends, um die Attraktivität ihrer Preisträger zu begründen: Globalisierung 2.0, Umweltkrisen, technologische Konvergenz, Individualisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel.7 Dieser Ansatz passt gut in die Zeit, denn Megatrends dienen mittlerweile als Erklärung für nahezu jedes gesellschaftliche Phänomen. Nur: Auch die Megatrends springen zu kurz, denn sie betrachten nur die großen Entwicklungslinien im Hier und Jetzt. Wir müssen jedoch in der Zeit deutlich weiter zurückgehen. Im 18. Jahrhundert entstand die „Disziplinarmacht“, die die Menschen in den Räumen neuer Institutionen einschloss: in Schulen, Kasernen, Krankenhäusern oder Gefängnissen. Die Disziplinarmacht Kirche kannten die Menschen bereits. Diese Epoche der Disziplinarmacht hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgelöst. In Folge dessen rutschten die Einschließungsmilieus in eine Orientierungskrise, denn der bekannte Rahmen – Großfamilie, Militär, Kirche, Gesellschaftsschichten – hat sich in der breiten Öffentlichkeit zu einem Gutteil aufgelöst.
„Das Neue und Aufregende, das den Beginn unseres Jahrhunderts Prägende ist die Tatsache, dass die alten Ordnungskräfte des Lebens durch keine neuen ersetzt wurden. Wir erleben eine Inflation der Wirklichkeiten, die friedliche Koexistenz von Widersprüchen. Die Gesellschaft wechselt ihren Aggregatzustand von fest auf flüchtig“, schreibt der Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart.8 „Kommend aus Untertanenstaat, Adelsherrlichkeit und Gottesgnadentum, weitergereist in Industrialismus und bürgerlichem Kollektivismus, ist die Gesellschaft erneut auf Wanderschaft. Kaum hat man alle Antworten gelernt, wechseln die Fragen. Der Ablösungsprozess, von dem hier die Rede ist, unterscheidet sich dadurch von allem Bisherigen, da kein Revolutionär, Wirtschaftsführer oder Religionsfürst ihn ins Werk gesetzt hat. Die Bürgergesellschaft hat diesmal gegen sich selbst geputscht. Sie beschleunigt und verändert ihr Leben in einem derart atemberaubenden Tempo, dass schon die mittleren Jahrgänge auf ihre eigene Kindheit wie auf eine ferne Epoche schauen. Der US-Philosoph Richard Rorty sprach von einem ‚Prozess der Selbsterschaffung‘. (…)
Wir erleiden einen Stabilitätsverlust und erhalten im Gegenzug Souveränitätsgewinne.“
Mit diesem Währungswechsel – Stabilitätsgewinne werden durch Souveränitätsgewinne abgelöst – kommen wir nicht zurecht.
Damit nicht genug. Die Instabilität wächst. Die Unsicherheit der Menschen wird durch die technologische Entwicklung, die Beschleunigung der Arbeit, unsichere Arbeitsverhältnisse und wachsende Mobilität weiter geschürt. Es entsteht Kontrollverlust. Und das macht Angst. Was nützt der schönste Souveränitätszuwachs, wenn wir uns nach Stabilität sehnen?
Das führt zu einem unerwarteten Problem, das Wolf Lotter in brand eins sehr gut schildert:9 „Die Moderne hat viele ihrer Ziele so gründlich erreicht, ihre Arbeit derart gut gemacht, dass nur noch wenig zu tun bleibt. Viele klassische Ziele sind erreicht oder wenigstens so weit in Sicht, dass ihre Bedeutung kaum noch jemandem auffällt. Der Lebensstandard, die Lebenserwartung, die Möglichkeiten, die der Einzelne im Westen vorfindet, sie alle haben sich so weit verbessert, dass sich kaum jemand für sie begeistern mag. (…) Was man als Existenzkrise erlebt, hat – von einer Handvoll noch nicht besiegter, tödlicher Krankheiten abgesehen – den Namen eigentlich nicht verdient. (…) Das ist gut. Und gleichsam schlecht, denn erreichte Ziele, denen keine weiteren folgen, führen unweigerlich zu Unzufriedenheit. Überspitzt gesagt: Unser Problem ist, dass wir kaum noch Probleme haben. In einer Welt, in der die Existenz jeden Tag bedroht wird, in der Defizite, Mangel und Not normal sind, ist es nicht schwer, sich auf gemeinsame Ziele zu verständigen. Das ist der Grund, warum Menschen, die Kriege, Hungersnöte oder andere Extremsituationen erlebten, sich oft an ein positiv empfundenes ‚Zusammengehörigkeitsgefühl‘ erinnern, an etwas Sinnstiftendes, das genau betrachtet in nichts anderem bestand, als sich mit anderen einen Notstand zu teilen. Kaum jemand aber beklagt sich in solchen Zeiten über zu viel Komplexität und Unübersichtlichkeit. Das Ziel, den Tag zu überleben, satt zu werden, gesund und unversehrt zu bleiben, gibt dem Leben Sinn.
Kaum aber bessert sich die Lage, verschwinden die Bedrohungen, schlagen die Gefühle auch schon mal um. Man begibt sich auf Sinnsuche, genauer: auf die Suche nach neuen Zielen. Wenn das nur so einfach wäre.“
Wenn sich aber schon der gesellschaftliche Rahmen verflüchtigt, mühen wir uns, zumindest eins festzuhalten: unsere Werte. Die Deutschen werden immer deutscher. Konservativ, pünktlich, organisiert. Diese typisch deutschen Werte sind im Aufwind. Ebenso Ehrlichkeit, Anstand und Höflichkeit. Selbstvertrauen und Selbstständigkeit, die noch 1981 oben standen, verlieren hingegen kräftig an Bedeutung10 „Konvention statt Emanzipation“ ist das Motto. „Die Menschen suchen Sicherheit, Beständigkeit und Verlässlichkeit und orientieren sich wieder mehr an bürgerlichkonservativen Werten wie derzeit in England, Frankreich und Polen oder Dänemark“, sagt der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski. „Die Tendenz geht zu einem ausbalancierten Wertesystem, in dem neo und konservativ, trendy und retro keine Gegensätze sind.“ Willkommen beim Hochseilakt im persönlichen Wertesystem!
Dadurch, dass sich die Disziplinarmächte sukzessive auflösen, wachsen die gesellschaftlichen Fliehkräfte. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird immer instabiler. Also greifen wir zum Rettungsanker. Wir definieren Gemeinschaft neu. Es ist nicht mehr die gefügte Gemeinschaft, die geradezu körperlich erlebbar ist. Wir finden uns in Gemeinschaften zusammen, die über gemeinsame Werte und Ziele verbunden sind. Wir definieren uns über die Zugehörigkeit zu einer kritischen Gruppe, wo wir oftmals direkt oder indirekt Ängste kultivieren. Psychologen sprechen mittlerweile von einer modernen Psychose: Die Menschen suchen sich etwas, was ihnen Angst macht. Denn nur dann können sie sich beweisen, dass sie Herausforderungen meistern können. Oft genug sind es jedoch nur virtuelle Gemeinschaften. Ein sehr gutes Beispiel sind Gesundheitsarmbänder, die Sportlichkeit und Vitalfunktionen überwachen. Unsere Gesellschaft ist so gesund wie noch nie, aber wir fürchten uns vor dem Degenerieren unseres eigenen Körpers. Die Daten teilen wir mit der Community, suchen uns Ansporn und Bestätigung. Heimatgefühl und Geborgenheit entstehen hier allerdings nur unter erschwerten Bedingungen.
Benchmarking mit der Community ist zu wenig. Es geht um subtile Prozesse des Sich-zugehörig-Fühlens, sei es durch geteilte Werte, durch miterlebte Erfolge oder durch das Mitgestalten einer Bewegung – auch wenn der eigene Beitrag objektiv betrachtet nur klein ist. Meinung verleiht Status, Lautstärke steht für Relevanz. Unternehmen sind damit mit einer vollkommen neuen Anreizstruktur konfrontiert, wenn sie ihre Reputation aufbauen und verteidigen.
Dass Unternehmen in den Augen der Zielgruppe „alles richtig machen“, ist die Minimalanforderung. Die Menschen wollen gehört und ernst genommen werden. Sie suchen Unternehmen, die „ihre Werte“ teilen, mit denen sie sich identifizieren können, die ihnen einen verlässlichen Rahmen geben. Idealerweise schaffen Unternehmen Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl, denn aus Sicht der Menschen ist die Lage klar: Sie solidarisieren sich mit dem Unternehmen – oder dagegen.
“Brands don’t have target markets. They have target moments.” OgilvyOne
Das derzeitige Wertesystem mutiert dabei zu einer gesellschaftlich akzeptierten Anspruchshaltung, was die anderen bitte zu liefern haben. So bewerten die Bürger „Vertrauen“ sehr positiv. Nicht weil sie das Vertrauen, das sie anderen entgegenbringen, besonders hoch bewerten. Sondern weil sie...