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E-Book

Vorsicht Sexualität!

Sexualität in Psychotherapie, Beratung und Pädagogik - eine integrative Perspektive

AutorJosef Christian Aigner
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783170238084
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Sexualität ist einer der zentralen Aspekte des menschlichen Lebens. Gleichwohl ist sie nach wie vor kaum im Blickfeld der Erziehungs- und Beratungs- sowie der Therapie- und Heilberufe. Selbst in der Psychoanalyse scheint sich das Thema immer mehr zu verflüchtigen oder von den sonstigen Lebenszusammenhängen abgespalten zu werden. Dieses Buch wagt einen neuen, integrativen Blick auf die menschliche Sexualität. Es behandelt Fragen zu Liebe und Sexualität in Geschichte, Gesellschaft und im individuellen Lebenslauf, die vor allem zu einem neuen Bewusstsein über die Zusammenhänge dieser heiklen Themen mit unserem 'nicht-sexuellen' Leben führen sollen.

Prof. Dr. phil. Josef Christian Aigner, Psychologe und Psychoanalytiker, Universitätsprofessor für Psychosoziale Arbeit/Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Innsbruck; Leiter des Instituts für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung.

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Leseprobe

Vorwort


Es ist schon einige Zeit her und war ganz zu Beginn meiner Berufslaufbahn als junger Psychologe in den 1980er Jahren in einer Intervisionssitzung der Beratungsstelle, in der ich damals gearbeitet hatte. In dieser Beratungsstelle wurde auch Ehe- und Familienberatung angeboten. Eines Tages stellte dort eine Kollegin aus der Abteilung Eheberatung den Fall eines sehr schwierigen Paares vor, in dessen Beratungsprozess einfach nichts weiter ging. Ich weiß heute gar nicht mehr, was das eigentliche Problem des Paares war; ich weiß nur mehr, was offenbar das Problem der Beraterin gewesen sein muss: Als ich nämlich mit der Unverdrossenheit eines unerfahrenen Berufsanfängers in dieser Intervisionsgruppe die Kollegin zu diesem Paar, das schon ein halbes Jahr (!) lang zu ihr in Beratung kam, fragte: »Schlafen die beiden eigentlich noch miteinander?«, war zunächst einmal betretene Stille im Raum, bis die Eheberaterin ihren ersten Schock überwunden hatte und gleichermaßen freimütig wie selbst verblüfft eingestand: »Das habe ich sie noch gar nie gefragt!«.

Dies war eine Initialszene für mich, um Fragen der Sexualität in Beratung und Therapie in meiner beruflichen Entwicklung mehr Beachtung zu schenken – in der Praxis beratender und helfender Beziehungen ebenso wie in der Forschung. Wenn jetzt einige Leserinnen und Leser meinen, dass sei halt vor 30 Jahren gewesen und lange her, dann muss ich das insofern gleich zurückweisen, als man irrt anzunehmen, dass so etwas nur in der Vergangenheit vorgekommen sei. Meine Supervisionserfahrung mit Kolleginnen und Kollegen aus dem psychotherapeutischen, ja sogar aus dem psychoanalytischen Bereich, für den man theoriegeschichtlich ja eine genuine Aufmerksamkeit auf das Sexuelle annehmen könnte, ist eine andere: Immer noch oder – aus anderer Perspektive – nach wie vor ist Sexualität und sind sexuelle Details oder Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens von Beratungs- und Therapiefällen ein vielfach ausgespartes Gebiet, das man vergisst, genauer anzuschauen, oder das nach wie vor Peinlichkeit oder zumindest Unbehagen unter Professionellen auslöst.

Warum das alles – und das mehr als 100 Jahre, nachdem der »Lustlümmel aus der Berggasse« (vgl. Roazen 1971, S. 104 f.), nachdem also Sigmund Freud vermeintlich all diese Tabus durch eine wissenschaftliche Herangehensweise versucht hatte einzureißen, freilich gegen den Widerstand seiner in maskuliner Doppelmoralität gefangenen Kollegenschaft aus der hohen Medizin? Was an der Sexualität ist denn so »schwierig«, peinlich, wie manche meinen, so beschämend und ängstigend, dass sie nach wie vor ein prekäres Gebiet professioneller und vielfach auch privater Praxis darstellt?

Vielleicht ist es – und damit wären wir schon bei einem der Motive, dieses Buch zu schreiben – gerade die verbreitete Un- oder Halbwissenheit, die viele Fachkräfte des pädagogischen und psychosozialen Sektors zum Thema Sexualität nach wie vor haben. Dies ist kein unkollegialer Angriff gegen irgendjemanden. Es ist eigentlich kein Wunder, dass Kolleginnen und Kollegen unsicher und unwissend sind, bei all den Aus- und auch Fortbildungsdefiziten, die auf diesem Gebiet feststellbar sind. Diese Defizite kann ein Buch wie dieses nicht kompensieren und wahrscheinlich auch kein einzelnes anderes. Es geht mir deshalb weniger um die Vermittlung von Detailwissen zu den verschiedensten sexualmedizinischen und/oder sexualpsychologischen Feinheiten, mit denen man mehrere Bände füllen könnte. Es geht mir vielmehr um eine emotionale Öffnung dahingehend, wie bedeutsam und eigentlich ganz und gar unübersehbar Sexualität im Zusammenhang mit Beratung und Psychotherapie ist, wenn man nur ein wenig sensibilisiert dafür ist und keine Angst hat, dass das etwas ganz besonders Schwieriges ist, das eines speziellen Expertentums bedarf.

Das Anliegen des Buchs ist also eine grundlegende Einstimmung in Fragen der Sexualwissenschaft, Sexualberatung und Sexualtherapie. Es erhebt keinen Anspruch auf vollständige oder systematische Darstellung dessen, was in Sexualberatung und -therapie vorkommen kann. Ich beschränke mich dabei auch im Wesentlichen auf heterosexuell liebende Menschen und heterosexuelle Paare (so weit dies als primäre Lebensform gewählt wurde); dies nicht, um andere Lebens- und Liebensformen damit zu diskriminieren, sondern weil dies die Hauptklientel in den offenen Sexualberatungsstellen und bei niedergelassenen Sexualtherapeuten ist. Ja man könnte andersherum fast sagen, dass es für bestimmte Randgruppen in der Gesellschaft, die hohe Aufmerksamkeit und mediale Präsenz entfalten – etwa Transgender oder Menschen mit einem Bedarf an operativen Eingriffen und Personenstandsänderung –, sowie für Menschen mit schwul-lesbischer Liebensart wegen deren wachsamer Vertretung und guter politischer Organisiertheit ohnehin ein kleines, aber gut organisiertes Angebot gibt. Es scheint fast, als ob für die alltägliche Heterosexualität und ihre Probleme dagegen wenig Aufmerksamkeit besteht. Ja es wäre wohl sogar eher schambesetzt und schwierig zuzugeben, dass wir dafür im Bereich der medizinischen und psychosozialen Versorgung wenig Angebot und Fachexpertise bereitstellen können. Es bedarf also gleich zuallererst schon allein dazu Mut, zuzugeben, dass wir den alltäglichen Formen sexuellen und partnerschaftlichen Unglücks oft recht hilflos gegenüberstehen. Um dies zu ändern, bedarf es vor allem einer neuen Sichtweise auf Sexualität als einer umfassenden, nicht aus dem Zusammenhang heraus isolierbaren Lebenserfahrung – und das auch in Bereichen, wo wir sie nicht vermuten. Es bedarf eines bestimmten Wissens und Bewusstseins über diese Zusammenhänge, das nicht auf »erbsenzählende« Orgasmus-Statistiken und auf die oberflächliche Kenntnis sexueller Vorlieben, die in Zeitschriften ab und an zu finden sind, beschränkt ist.

Das Buch trägt – neben der Darstellung eigener Erfahrungen aus Beratung und Therapie – somit zusammen, was ich selbst als hilfreich und brauchbar zur Arbeit mit und zum Verständnis von sexuellen Problemen erfahren habe, um es weiterzugeben. Für manche Leser wird das eine oder andere deshalb nicht unbekannt sein, aber es sollte in einem neuen Kontext zur Anwendung auf unsere praktische Arbeit erscheinen. Es soll auch kein »wissenschaftliches«, aber ein wissenschaftlich fundiertes Fachbuch sein, das sich der Lesbarkeit halber mit Dauerzitationen zurückhält, aber dennoch auf einen breiten Literaturschatz verweist, der im Falle detaillierteren Interesses oder Bedarfs nachgeschlagen werden kann. Es soll deutlich machen, dass Sexualität so vielfältig in unser Leben verstrickt ist, dass wir bei ihrer Erforschung immer ein breites Spektrum von Äußerungsformen im Auge haben müssen, um nicht der Gefahr zu erliegen, Sexualität tatsächlich in entfremdender Form aus den großen Lebenszusammenhängen herauszureißen und zu isolieren. Das Buch soll Bekanntes mit Neuem und Verschüttetem (davon gibt es bei der Sexualität sehr viel) und Kritisches mit Originellem vermengen, um neugierig zu machen und zum Tätigwerden zu ermuntern. Es soll somit tatsächlich ein Mutmach-Buch sein, um einmal einen neuen, in seiner Breite vielleicht ungewohnten Blick auf diese zutiefst menschlichen Eigenheiten und ihre so oft vom Scheitern bedrohten Äußerungsformen zu wagen – einen Blick, der auch ermutigt, dieses »schwierige« Thema offensiv in die Beratungs- oder psychotherapeutische Arbeit mit aufzunehmen.

Es soll aber kein Lehrbuch zu bestimmten sexuellen Störungen und ihrer Behandlung sein, wovon es wenige, aber einige gibt, die sehr lehrreich sind und nicht ergänzt werden müssen (vgl. Beier und Loewit 2004; Sigusch 1996; Hauch [Hrsg.] 2006). In ihnen kann alles Wesentliche systematisch nachgeschlagen werden. So erspare ich mir auch detailliertere diagnostische Beschreibungen, Darstellungen und Unterscheidungen (nach ICD-10 oder DSM-IV), die anderswo und dort vollständig nachgelesen werden können. Das Buch soll also Mut machen, aber warum Mut? Mut setzt Überwindung von Angst voraus. Angst kann deshalb entstehen, weil wir nirgendwo sonst so verletzlich sind wie in Fragen der Sexualität und der Liebe. Das spüren auch die Menschen in den Helferberufen. Deshalb soll dieses Buch Mut machen, indem es Bewusstsein und Kenntnis über Zusammenhänge schafft, wie Sexualität im Lebenslauf organisiert ist, wie sie basale menschliche Grundbedürfnisse berührt und wie sie gesellschaftlich mit geprägt wird. Damit wird sie zu etwas »ganz Normalem« oder – wie wir es auch nennen werden – scheinbar »Nichtsexuellem«, von alltäglichen Wünschen und Ängsten Geprägtem, das in jedem Beratungsprozess und in jeder Therapie ganz ohne besondere »sexualtherapeutische Tricks« erreicht werden kann. Das Buch soll somit einige Wissens- und Bewusstseins-Voraussetzungen für ein breites Verständnis liefern, das notwendig ist, wenn wir Sexualität verstehen wollen.

Es wird, wenn wir in diesem Feld kompetent handeln wollen, Mut brauchen. Mut zuzuhören und nichts wegzuwischen, wenn etwas am Rande auftaucht, als ob es nicht wirklich dazugehörte; Mut hinzuschauen, worüber manche lieber diskret hinweggehen; Mut zuzugreifen, wenn entsprechende Fälle auf Beraterinnen und Therapeuten zukommen und sie nicht gleich mit »Da gibt es einen Spezialisten« wieder wegzuschicken. Und damit wird es auch zu einem Buch gegen die Angst, mit sexuellen Problemen käme etwas besonders Schwieriges auf uns zu, das wir besser weitervermitteln sollten! Mit sexuellen Problemen kommt vielmehr etwas zutiefst Menschliches, Alltägliches und manchmal hoch Hilfsbedürftiges auf uns zu, das man nur um den Preis...

Blick ins Buch

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