II. Wieder und auf immer in Wittenberg
Wir hatten den Weg Luthers bis zu seiner Romreise verfolgt, die er von Erfurt aus angetreten hatte. Im September 1511 nun wird Luther zusammen mit seinem Mitbruder Johannes Lang wieder nach Wittenberg versetzt, das mit seinen ca. 2.000 Einwohnern ein dreckiger, hässlicher Ort am Rande des Reiches war. Dieser Ort war aber Hauptstadt von Kursachsen unter dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen (1486 –1525). In dessen Stiftskirche gab es eine große Reliquiensammlung mit rund 19.000 Stücken, verbunden mit entsprechend zu bezahlenden Ablasswerten. Friedrich baute später auch die Schlosskirche.
Luther, der bis zu seinem Tod hier hauptsächlich leben und wirken sollte, wurde bald Subprior, Studienleiter und Prediger des Wittenberger Augustinerklosters. Er bezog ein heizbares Arbeitszimmer in einem turmähnlichen Anbau des Klosters. Im Oktober 1512 legte er in einer Promotionsfeier in der Schlosskirche den Doktoreid ab. Darüber berichtete er später:
„Was für eine Pracht war die Promotion der Magister mit den Fackeln, die ihnen voran getragen wurden! Ich glaube nicht, dass dem eine weltliche Feier gleich kam. So ward auch bei der Doktorpromotion höchstes Gepränge entfaltet …“
Die Promotion gab ihm die Berechtigung, Theologie zu lehren und die Schrift auszulegen. Ihm wurden die Doktorinsignien verliehen: Bibel, Barett, goldener Ring. Nach seiner Antrittsvorlesung gab es unter seinem Promotor Andreas Bodenstein, genannt Karstadt, eine Disputation. Luthers spätere häufigste Selbstaussage wurde „geschworener Doktor der Heiligen Schrift“ oder „berufener Doktor der Theologie“. Über dreißig Jahre lang hat Luther dann Vorlesungen über biblische Texte gehalten. Sie machen den größten Teil seiner Veröffentlichungen aus. Partei nimmt Luther 1514 für Reuchlin, der sich im Streit mit Kölner Dominikanern gegen die Vernichtung der nicht-biblischen jüdischen Literatur gewendet hatte. Mit seinem Ordensoberen Staupitz führt er einen umfangreichen Briefwechsel. Und noch 1523 schreibt er ihm:
„Aber auch wenn wir Euch nicht mehr angenehm und wohlgefällig sind, ziemt es uns doch nicht, Euch undankbar zu vergessen, durch welchen das Licht des Evangeliums zum ersten Male aus der Finsternis empor leuchtete in unsrem Herzen. Ich habe meine ganze Sache von Doktor Staupitz; der hat mir dazu verholfen.“ (Fausel 1, 52)
Luther konnte dankbar sein: gegenüber den Eltern, gegenüber den Mitbrüdern, gegenüber Staupitz und anderen, auch wenn einige ihm in seiner weiteren Entwicklung nicht folgen konnten.
Durch den Rat der Stadt Wittenberg wird Luther zum Prediger der Stadtkirche berufen. 1515 wird er vom Orden für drei Jahre zum Distriktvikar über zehn Konvente der Augustiner gewählt. Dazu gehörten organisatorische und seelsorgerliche Aufgaben.
Eine Visitationsreise führte Luther in die Augustinerklöster nach Dresden, Erfurt, Neustadt, Gotha, Langensalza, Eisleben, Nordhausen und Magdeburg. Er kannte also bestens das Leben in den Klöstern mit seinen Problemen. Und er kannte durch seine Reisen die ländlichen und städtischen Lebenswelten.
Wichtig für Luther wird die Berufung von Georg Spalatin (1484 –1545) in die Kanzlei des Kurfürsten, zuständig für Universitäts- und Kirchenangelegenheiten sowie Geheimsekretär und Berater des Kurfürsten. In den kommenden Jahren gibt es viele Briefe von Luther an Spalatin und umgekehrt. Luther wird ein großer Briefeschreiber. Stunden verbringt er mit dem Beantworten von Briefen und mit der Abfassung von Briefen an verschiedene Adressaten. Briefe waren das Hauptkommunikationsmittel dieser Zeit, auf ganz verschiedene Weise durch reitende Boten befördert.
Vom Sommer 1516 bis Februar 1517 hält Luther eine erste Predigtreihe über die Zehn Gebote. Predigen wird in der Folgezeit für ihn eine wichtige Aufgabe. Das Verkündigen setzt eine methodisch angeleitete Exegese des Predigttextes voraus und es stellt sich ihm die Frage, mit welchen sprachlichen Mitteln die Hörerschaft zu erreichen ist. So sehr Luther das hebräische oder griechische Original zum inhaltlichen Fundament der Predigt macht, so entwickelt er gleichzeitig die Kunst, die Hörenden in einer lebendigen deutschen Alltagssprache abzuholen, um ihnen die Botschaft verständlich und für ihr Leben bedeutsam und verpflichtend zu machen. Wie man das alles leisten kann, zeigen die rund 2.000 erhaltenen Predigten von Luther, die etwa ein Drittel seines Schrifttums ausmachen.
Was sagt Luther selbst über seine Zeit im Augustinerkloster?
„Es ist wahr, ich bin ein frommer Mönch gewesen und habe meinen Orden so streng gehalten, dass ich sagen darf: Ist je ein Mönch in den Himmel gekommen durch Möncherei, so wollte ich auch hinein gekommen sein. Das werden mir alle meine Klostergesellen, die mich gekannt haben, bezeugen. Denn ich hätte mich, wenn es noch länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“ (Fausel 1, 42)
Und ganz persönlich bekannte er 1531:
„Als Mönch habe ich nicht viel Begierde gespürt. Pollutionen hatte ich aus leiblicher Nötigung. Die Weiber schaute ich nicht einmal an, wenn sie beichteten; ich wollte nicht einmal die Gesichter derer, die ich hörte, kennen lernen.“ (Fausel 1, 43)
Und 1533:
„So war ich im Mönchtum ein Wollender und Laufender, aber ich kam je länger je weiter davon. Darum, was ich jetzt habe, habe ich nicht von jenem Laufen, sondern von Gott.“ (Fausel 1, 45)
Luther führte in den Jahren vor 1517 ein asketisches Leben als Mönch und ein produktives Leben als Professor an der Universität und als Prediger in den Gemeindekirchen. Einen Bekanntheitsgrad über seinen Orden und über die Stadt Wittenberg hinaus hatte er in dieser Zeit nicht. Luthers Haupttätigkeit in den Jahren vor 1517 waren nun Vorlesungen über den Psalter, über den Römer-, den Galater- und den Hebräerbrief.
Auch Luthers Auslegungen der alt- und neutestamentlichen Schriften hatten wie die Predigten nicht nur den Zweck, zu exegetisch richtigen Ergebnissen zu kommen, sondern zugleich waren sie ein Teil seiner eigenen Suche, auf persönliche Glaubensfragen eine Antwort zu finden. Sie fand er mit zunehmender eigener verantwortlicher Auslegung von Bibeltexten nicht mehr in mittelalterlicher Dogmatik und in päpstlichen Dekreten. Für ihn wurden die Bibel und ihre Auslegung das Zentrum seines Interesses, verbunden mit dem Ziel, die Inhalte des christlichen Glaubens durch methodisch reflektierte Schriftauslegung zu gewinnen. Die traditionelle mittelalterliche Schulphilosophie und das kirchlich-päpstliche Lehrsystem interessierten ihn bald nur noch als dunkle schrift- und wahrheitswidrige Folie. Neben einer textkritischen Auslegung der lateinischen, griechischen und hebräischen Urtexte übte er sich ein in ein meditatives Versenken in die Texte, um den Kern ihrer Aussagen in den eigenen Glaubensfundus einzubringen. Philologische Wissenschaft und das Meditieren der Inhalte der Texte mit dem Ziel eines Erkenntnisgewinns verschränken sich bei Luther zu einer dialektischen Einheit im eigenen Glauben.
Was Luther in seinen exegetisch-meditativen Arbeiten am Tisch seiner Mönchszelle in diesen Jahren vor 1517 trieb, war die Rückkehr zur urchristlichen Botschaft Jesu und seiner Apostel. Im Zuge der Auslegung des Römerbriefes, bei der er sich begleitend mit der Theologie Augustins befasste, kam er auf Römer 1, 17: „Denn darin wird die Gerechtigkeit offenbart, die vor Gott gilt. Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Was da bei ihm und mit ihm geschah, hat Luther später so beschrieben:
„Die Worte ‚gerecht‘ und ‚Gerechtigkeit Gottes‘ wirkten auf mein Gewissen wie ein Blitz: Hörte ich sie, so entsetzte ich mich: Ist Gott gerecht, so muss er strafen. Aber als ich einmal in diesem Turme und Gemache über die Worte (Röm. 1, 17): ‚Der Gerechte wird seines Glaubens leben‘ und ‚Gerechtigkeit Gottes‘ nachsann, dachte ich alsbald: Wenn wir aus dem Glauben als Gerechte leben sollen, und wenn die Gerechtigkeit Gottes jedem, der glaubt, zu Heil gereichen soll, so wird sie nicht unser Verdienst, sondern die Barmherzigkeit Gottes sein. So wurde mein Geist aufgerichtet. Denn die Gerechtigkeit Gottes besteht darin, dass wir durch Christus gerechtfertigt und erlöst werden. Nun wandelten sich jene Worte in liebliche Worte. In diesem Turm hat mir der Heilige Geist die Schrift geoffenbart.“ (s. Al 1, 107 ff.)
Dieser Text spiegelt die biografische Tatsache wider, dass Luther sich sieben Jahre lang bemüht hat, auf seine kritischen und suchenden Fragen unter ständigen Anfechtungen Antworten zu finden, die sich nicht einer philosophischen oder dogmatischen Spekulation verdankten, sondern ihr Fundament in bibischen Zeugnissen und in ihren kerygmatischen Inhalten haben. Es galt zu finden, was zu verkündigen war. Er interpretierte nun nicht mehr philosophisch-theologische Spitzenliteratur des Mittelalters noch kirchlichpäpstliche Lehre. Dieser Rückbezug auf die biblische Verkündigung über Gott, sein Wesen und Tun und über seinen Sohn Jesus Christus, in dem sich Gott seinen Namen gegeben hat und in dem er...