Einleitung (Seite 8)
Schon zu seinen Lebzeiten stand Paul Gerhardt als Dichter in hohem Ansehen, und seine Lieder wurden gerne gesungen. Nach seinem Tode fanden sie Eingang in alle evangelischen Gesangbücher Deutschlands. Im 18. Jahrhundert und erst recht im 19. galt er allenthalben als der größte unter denen, die in Deutschland geistliche Lieder gedichtet haben. Paul Gerhardts Stellung ist auch heute noch die gleiche.
Wie kommt das, warum ist diese Tradition keine äußerliche? Und worin liegen die Ursachen für die Gültigkeit seines Werks, für die hohe Achtung und für die Liebe, die es im deutschen Volke genießt?
Nun, es weht dem einfachen Menschen wie dem, der auf sogenannter höherer geistiger Ebene steht, daraus der Atem edelster menschlicher Gesinnung entgegen, reiner Nächstenliebe, tiefer, unbefangener Frömmigkeit und Gottesfurcht. Und das, was der Dichter ausspricht, sagt er mit einfachen Worten, aber in schönen Sätzen und Versen, sagt es ungekünstelt, aber geformt vom Adel der Kunst. Gerhardt ist einer der Begnadeten, in dessen Werk Schlichtheit des Inhalts und Reife der Form sich vereinigen, der ein großer Dichter wurde, wahrscheinlich ohne sich dessen bewußt zu sein, und der infolgedessen auch nicht den Ehrgeiz hatte, als ein solcher zu glänzen, der nie mehr hervorbringen wollte, als ihm geschenkt wurde, der aber zur rechten Stunde, wenn der Engel sein Herz rührte, zur Feder griff, sich selber Trost zuzusprechen, sich frei zu machen von dem, was seine Seele anfocht – und damit Unzähligen nach ihm Trost und Frieden zu geben.
So wurde Gerhardt zu einem wahrhaft volkstümlichen Dichter, und seine Lieder sind in ihrer Echtheit nur von wenigen der Späteren erreicht oder gar übertroffen worden. Die Volkstümlichkeit ist ihnen geblieben, und sie sind auch heute noch, was man nicht von allen anderen Liedern seines und des nachfolgenden Jahrhunderts sagen kann, in keiner Weise veraltet. Nach 300 Jahren üben sie die gleiche Wirkung aus wie damals.
Doch hier müssen wir eine Einschränkung einflechten. Wieviele von den 134 [139] Liedern kennen wir eigentlich? Nun, die unvergänglichsten von ihnen jedenfalls, jeder Konfirmand müßte, sagen wir: wenigstens sechs oder acht aufzählen können, viele von uns wissen sie von ihrer Schulzeit her noch auswendig, wie vertraut sind uns die Strophen der kostbaren Perlen in der langen Kette wie „Wach auf mein Herz und singe“, „Nun laßt uns gehn und treten“, „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Nun ruhen alle Wälder“ oder gar „Befiehl du deine Wege“ (das sich noch dazu so einfach auswendig lernen läßt, weil die Anfangsworte jeder Strophe zusammen den Psalmenvers ergeben, der dem Lied zu Grunde liegt). Aber wer kennt die übrigen, von denen viele ja auch im Gesangbuch stehen, und wer kennt vollends die, die nicht darin stehen?