Einleitung
Wenn wir als Unternehmerinnen und Unternehmer auf die Vielfalt der Pflanzenwelt blicken, dann werden wir im ersten Moment wohl nur wenig erkennen, wovon unser Betrieb etwas lernen könnte. Zwar fasziniert uns der unschätzbare Reichtum an Formen und Farben, diese überwältigende Zahl unterschiedlichster Arten mit all ihren biologischen Eigenheiten – doch die Flora präsentiert sich uns auf den ersten Blick eher bunt und chaotisch. Wir bewegen uns meist viel zu schnell durch die Welt der Pflanzen, um die Strategien dahinter erkennen zu können. Aber vielleicht ahnen wir, wenn wir durch einen Wald spazieren, dass in diesem Ökosystem nach den Spielregeln der Natur diverse Prozesse ablaufen, die schon vor Millionen von Jahren »erfunden« und seither immer weiter verbessert wurden.
Wer sich etwas mehr Zeit dafür nimmt, kann in den unentwegten Kreisläufen des Lebens, diesen Zyklen aus Keimen, Wachsen, Blühen und Sterben, immerhin gewisse wiederkehrende Muster entdecken, die sich auch im Wirtschaftsleben wiederfinden lassen. Aber insgesamt vermittelt uns das fröhliche Durch- und Nebeneinander in der Natur nicht gerade das Bild eines hocheffizient arbeitenden Systems. Wie der bekannte Förster und Buchautor Peter Wohlleben schreibt5, bildet eine Rotbuche im Laufe ihres Lebens unter großem Aufwand 1,8 Millionen Bucheckern – von denen statistisch betrachtet nur eine einzige zu einem ausgewachsenen Baum wird. Ist diese Verschwendung nicht ein Beweis dafür, wie unwirtschaftlich dieses System arbeitet? Natürlich nicht.
Tatsächlich ist dieses System hocheffizient, denn keine Ressource bleibt hier ungenutzt. Dahinter steckt ein Millionen von Jahren andauernder und niemals abgeschlossener Innovationsprozess – die Evolution –, in dem sich die Pflanzwelt unentwegt weiterentwickelt hat, um die Erschließung von Ressourcen zu optimieren und sich an wechselnde Umgebungen anzupassen. Sollte es da für Unternehmen nicht möglich sein, sich von den Wachstumsstrategien von Pflanzen etwas abzuschauen – ähnlich der Disziplin der Bionik, die gezielt nach Vorbildern in der Natur sucht, um Lösungen für technische Probleme zu finden?
Die CSR-Theorie von J. Philip Grime
Wer nach Pflanzenstrategien Ausschau hält, landet unweigerlich beim prominenten britischen Ökologen J. Philip Grime, einem emeritierten Professor der Universität von Sheffield. Sein 1979 erschienenes Buch »Plant Strategies and Vegetation Processes« ist inzwischen ein viel zitierter Klassiker, dessen Erkenntnisse aber zu meiner Überraschung einer breiteren Öffentlichkeit relativ unbekannt sind. Das gehört in meinen Augen geändert.
Vor Grime wurden die »Wettbewerbsstrategien« von Pflanzen im Wesentlichen auf zwei Ansätze reduziert: stark oder schnell. Entweder setzten sich die grünen Konkurrenten über ihre bessere »Ressourcensicherung« oder durch eine raschere Verbreitung gegenüber ihren Mitbewerbern durch. Für gute Böden – also produktive, nährstoffreiche Habitate – ist das ein relativ gutes Erklärungsmodell. Für schwierige Böden und Umgebungen mit extremen Umweltbedingungen, wo die Belastungsfähigkeit von Gewebe oder der Schutz erworbener Ressourcen ausschlaggebend für das Überleben sein können, funktionierte das Modell allerdings nicht optimal.
Grime ging daher einen Schritt weiter. Aufbauend auf seinen Untersuchungen entwickelte er ein Drei-Strategien-Modell, die CSR-Theorie. »CSR« steht in diesem Fall nicht für »Corporate Social Responsibility«, sondern für drei pflanzliche Grundstrategien:
Competitors: C-Strategen sind echte Wettbewerber, die in entscheidenden Phasen auf rasches Wachstum setzen, um die vorhandenen Ressourcen zu monopolisieren. Wenn Pflanzen ihre Triebe zielstrebig in die Höhe schießen lassen, um Mitbewerbern das dringend benötigte Licht wegzunehmen, wird diese Strategie klar deutlich. Bei Wettbewerbern zählt die Größe, doch dieser Skaleneffekt hat auch einen Haken: Er funktioniert nur in dauerhaft produktiven Nischen wirklich gut. Bäume sind ein gutes Beispiel dafür. Natürlich sichert sich ein Baum mit seinem großen Blätterdach mehr Sonnenstrahlen als ein Strauch. Doch so eine Baumkrone bringt auch einen Wasserverbrauch mit sich, den sich eine Pflanze erst mal leisten können muss. Und aus diesem Grund sind Bäume in trockenen Gegenden vielen Sträuchern unterlegen.
Stress-Tolerators: S-Strategen nutzen den Umstand, dass es in der Natur nicht nur A-Lagen gibt, sondern viel häufiger schwierige Böden, wo sie nur durch eine entsprechende Spezialisierung überleben. Die »Stresstoleranten« haben gelernt, gegen widrige Umweltbedingungen zu bestehen. Sie haben (oft durch eine spezielle Schutzschicht in ihrem Gewebe) gelernt, mit Trockenheit, übermäßiger Feuchtigkeit, Hitze, Kälte oder Pflanzenfressern richtig umzugehen – und entgehen dadurch dem Konkurrenzdruck. Natürlich ist diese Strategie mit eingeschränkten Wachstumsmöglichkeiten verbunden – doch im globalen Maßstab betrachtet ist dieses Konzept sehr erfolgreich und als Geschäftsmodell oft weniger leicht zu erschüttern als kompetitivere Strategien.
Ruderals: R-Strategen sind als Pionierpflanzen darauf spezialisiert, Habitate nach einer Störung bzw. einem Umbruch – wie z. B. einem Waldbrand oder einem Erdrutsch – als Erste neu zu besiedeln. Die »Ruderalen« kommen nicht, um zu bleiben, sondern bilden eher kurzlebige Strukturen und investieren die durch ihre Vorreiterrolle eroberteren Ressourcen rasch in die Produktion von (möglichst viel) Nachwuchs, um das nächste Stück Brachland zu erschließen. Damit sind sie am ehesten mit einem »Seed Investor« zu vergleichen, der ebenfalls auf Tempo und Streuung setzt, um in neuen Märkten – die durch eine Disruption6 des Ökosystems entstehen – Fuß zu fassen.
Kein Vorteil ohne Nachteil
Wer sich mit Pflanzenstrategien befasst, wird rasch sehen, dass es die eine perfekte Erfolgsformel für Wachstum schlichtweg nicht gibt. Vielmehr hängt es immer vom jeweiligen Lebensraum und den damit verbundenen Umwelteinflüssen ab, welches Konzept aufgeht. Die Naturgesetze diktieren der Pflanzenwelt dabei ein strategisches Tauschgeschäft: Eine erhöhte Lebensfähigkeit in der einen Umgebung ist mit verminderten Überlebenschancen in einer anderen verbunden. Oder, anders gesagt: kein Vorteil ohne Nachteil.
Es sind vor allem die Umwelteinflüsse, die entscheidend sind, mit welchen Strategien jemand erfolgreich ist. In der Pflanzenwelt sind dabei zwei Faktoren relevant: zum einen die Produktivität eines Habitats, also die Verfügbarkeit von lebensnotwendigen Ressourcen wie Wasser, Licht und Nährstoffe. Und zum anderen die Störungsanfälligkeit der Umwelt, also die Frequenz und Schwere von Beeinträchtigungen und Zerstörungsfaktoren. Ist die Produktivität hoch und die Störungsanfälligkeit niedrig, haben die Wettbewerber einen Vorteil. Ist die Störungsanfälligkeit hoch, kommen »Ruderale« zum Zug, ist die Produktivität niedrig, die »Stresstoleranten«.
Genau wie Unternehmen müssen sich auch Pflanzen einen Plan zurechtlegen, wie sie ihre »Erträge« investieren: Sie können die gewonnenen Ressourcen für ihr Wachstum verwenden, also zum Beispiel Wurzeln und Triebe entwickeln, um sich in Zukunft noch mehr Ressourcen zu sichern. Sie können ihre »Einkünfte« in Schutzmechanismen und Speichersysteme stecken, um auch unter widrigen Bedingungen den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten, während ihre Mitbewerber eingehen. Oder sie können mehr Mittel für die Regeneration – im Sinne der Ausbildung einer nächsten Generation – aufwenden, um so ihren Fortbestand zu sichern. Pflanzen finden stets die optimale Kombination aus diesen Entwicklungsrichtungen. Und als Meister der Anpassung können sie – je nach Standort und Phase in ihrem Lebenszyklus – ihre strategischen Schwerpunkte auch mal wechseln.
Der Blick auf das Ökosystem
Die Wahl zwischen Wachstum, Absicherung oder Regeneration – das sind strategische Investitionsentscheidungen, die jede/r Unternehmer/-in kennt. Hier die richtige Balance zu finden ist keine leichte Aufgabe – weder in einem Weltkonzern noch in einem Kleinbetrieb. Wer sich mit Pflanzen beschäftigt, hat dabei allerdings einen kleinen Vorteil, nämlich das Wissen darüber, dass die optimale Strategie im höchsten Ausmaß von dem Ökosystem abhängig ist, in dem sich ein Unternehmen befindet.
Diese Erkenntnis gilt heute mehr denn je. Früher wurde die Wirtschaftswelt von riesigen produzierenden Industriekonzernen dominiert, deren Fabrikanlagen ganze Städte oder sogar Landstriche prägten und deren Hunderttausende Beschäftigte ein Leben lang in und für ihren Betrieb arbeiteten. Diese Giganten waren ein Habitat für sich. Konzerne wie Ford produzierten leistbare Autos und sicherten ihren Mitarbeitern dadurch ein Einkommen, mit dem sie sich ein Auto (natürlich wieder von Ford) leisten konnten. Lange galten solche Unternehmen als unsterblich – und unverzichtbar für jede Volkswirtschaft. Doch viele dieser Wirtschaftsriesen sind in den letzten Jahrzehnten von unserem Planeten verschwunden, weil sie nicht in der Lage waren, sich an die Veränderungen ihrer Umwelt anzupassen.
Die Big Player von heute sind in ein viel globaleres Wirtschaftssystem eingebettet, in dem die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Ländern, Märkten und Branchen kontinuierlich zunehmen. Cluster aus flinken Technologie-Start-ups in Biotopen wie dem Silicon Valley treiben heute selbst die größten Konzerne der Welt vor sich her. Denn die Riesen von heute...