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E-Book

'Wagner und kein Ende'

Betrachtungen und Studien

AutorEgon Voss
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl407 Seiten
ISBN9783795785604
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, die Wagnerforschung habe eben erst begonnen. Das hat zunächst mit der so außergewöhnlichen Fülle des überlieferten Materials zu tun. Dabei scheint der Strom der immer noch hinzukommenden Dokumente einstweilen gar nicht abreißen zu wollen. Entsprechend ist sehr vieles unerforscht und ungeklärt. Dass ein Ende nicht abzusehen ist, liegt weiterhin im besonderen Wesen der Kunst Richard Wagners begründet. Die Idee des Gesamtkunstwerks stellt uns vor das Problem, wie und mit welcher Methode diesem Phänomen beizukommen sei: wohl nur mit einem Verfahren, das ähnlich übergreifend ist wie Wagners eigenes. Schließlich gilt es, noch eine andere spezifische Eigenheit der Wagnerschen Kunst zu betrachte: ihre Vieldeutigkeit. Zwar zeichnet es alle große Kunst aus, dass sie verschiedene Deutungsmöglichkeiten zulässt, doch im Wagnerschen Werk ist dies zum Prinzip erhoben. Es kann also gar kein Ende des Deutens geben. Die hier vorgelegten Aufsätze aus 25 Jahren Beschäftigung mit Richard Wagner sind Versuche, diese Herausforderungen in die Tat umzusetzen. Als leitender Faden kann dabei das Bemühen gelten, Ergebnisse der Forschung so zu vermitteln, das sie in die künstlerische Praxis zu wirken und auch den Wagnerliebhaber und interessierten Laien zu erreichen vermögen.

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Leseprobe

Die Feen

Eine Oper für Wagners Familie

Die Feen sind zwar bereits Wagners dritte Oper und sein viertes Bühnenwerk überhaupt, jedoch das erste seiner dramatischen Werke, das ganz zum Abschluß kam. Vom Leubald, seinem dramatischen Erstling, vollendete Wagner nur den Text, die geplante Musik dazu – vermutlich eine Schauspielmusik – scheint gar nicht begonnen worden zu sein; eine 1830 angefangene Schäferoper, von der man nicht einmal den Titel kennt, wurde abgebrochen und die im Herbst 1832 begonnene Oper Die Hochzeit nach der Komposition der ersten Nummer aufgegeben. Daß Werke abgebrochen und liegengelassen werden, ist nichts Ungewöhnliches, scheint im vorliegenden Falle jedoch eine besondere Bewandtnis zu haben. Sicherlich brach Wagner die Arbeiten auch deshalb ab, weil er das Interesse daran verloren hatte. Es erscheint jedoch auch möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, daß er die Lust an diesen Stücken deshalb verlor, weil ihm Rückhalt und Zustimmung fehlten, nämlich das Wohlwollen und das Einverständnis seiner Familie. Daß der Leubald bei seiner Familie nicht auf Beifall stieß, weiß man aus Wagners autobiographischen Schriften. Wie sich Mutter, Onkel und ältere Geschwister zur Schäferoper verhielten, ist nicht bekannt. Mit der Hochzeit aber stieß Wagner geradezu auf Ablehnung. Weil Sujet und Textbuch seiner Schwester Rosalie, der Haupternährerin und Wortführerin der Familie, mißfielen, brach Wagner die bereits begonnene Komposition nicht nur binnen weniger Wochen ab, sondern vernichtete auch das Textbuch spurlos. Dieser radikale Akt war selbstverständlich eine Demonstration. Er drückt Wagners enge Bindung an die Familie sehr anschaulich aus, und die im unmittelbaren Zusammenhang damit erfolgte Wahl des Sujets der Feen für die nächste Oper scheint nichts anderes gewesen zu sein als der Versuch, endlich mit einem Bühnenwerk das Einverständnis der Familie zu erringen. Wie insbesondere die späteren Bemühungen einiger Familienmitglieder um die Aufführung der Oper in Leipzig zeigen, waren die Feen tatsächlich die erste Oper Wagners, die von der Familie akzeptiert wurde1.

Die Vernichtung des Textbuches der Hochzeit erfolgte um die Jahreswende 1832/33. Mit der Arbeit am Textbuch der Feen dürfte Wagner ziemlich gleichzeitig begonnen haben; am 14. März 1833 jedenfalls schrieb er an seinen Freund Theodor Apel, er habe bereits mit der Komposition der Oper begonnen2. Da die Wahl des neuen Sujets nicht frei, aus eigenem Antrieb erfolgte, sondern unmißverständlich eine Konsequenz der Kritik der Schwester war, muß man annehmen, daß Wagner das neue Textbuch der Schwester zeigte, bevor er mit der Vertonung begann. Da Wagner aber Leipzig vermutlich Ende Januar verließ – am 17. Februar traf er in Würzburg ein –, kann man davon ausgehen, daß das Textbuch zu den Feen zu dieser Zeit fertig vorlag. Auch Wagners eigene Darstellung in seiner Autobiographie Mein Leben legt diese Vermutung nahe3. Wie es scheint, erhielt das neue Textbuch die volle Zustimmung der Schwester; denn kaum in Würzburg angelangt, wo er sich für rund ein Jahr bei seinem Bruder Albert aufhielt, begann Wagner mit der Komposition, die er, beginnend am 20. Februar 1833, kontinuierlich ausführte und am 7. Dezember 1833 in der Skizze, am 6. Januar 1834 in der Partitur beendete4.

Die Wahl eines Stücks von Carlo Gozzi als Vorlage für die neue Oper dürfte kein Zufall gewesen sein. Vermutlich war bereits diese Entscheidung eine Verbeugung vor der Familie. Wagners Onkel Adolf, selbst Schriftsteller und Literat, war nach allem, was man weiß, ein Verehrer Gozzis; er hatte selbst ein Stück Gozzis ins Deutsche übersetzt, Il corvo („Der Rabe“), das 1804 im Druck erschienen war. Dieses Stück scheint bei der Entstehung von Wagners Feen eine Rolle gespielt zu haben. Die Vorlage zu Wagners Oper hat den Titel La donna serpente – „Die Frau eine Schlange“ oder „Die Frau als Schlange“– und dementsprechend wird die weibliche Hauptfigur (bei Wagner Ada) im Verlauf der Handlung in eine Schlange verwandelt. Wagner übernahm zwar das Motiv der Verwandlung, nicht aber die Art, in der sie geschieht; in den Feen wird Ada zu Stein. Eben dieses Motiv, daß ein Mensch in einen Stein verwandelt wird, findet sich – und zwar unter nahezu denselben Voraussetzungen wie in den Feen – in Gozzis Il corvo. Wagner übernahm es höchstwahrscheinlich von dorther, und man geht gewiß nicht fehl in der Annahme, daß diese Anlehnung an das vom Onkel übersetzte Stück eine ganz bewußte Verneigung vor der Familie war.

Wagner verwendete in den Feen zum Teil die gleichen Personennamen wie in der Hochzeit. Dadurch zeigte er der Familie unmißverständlich und deutlich an, daß er das ältere Stück aufgegegen hatte. Wichtiger jedoch ist noch, welche der Namen er übernahm, und wie die Beziehungen der Personen zueinander sind, die diese Namen tragen. Die Namen Lora und Harald dürften mehr zufällig aus dem einen ins andere Textbuch gelangt sein. Die Übernahme von Ada und Arindal hingegen geschah gewiß bewußt und sieht wie die Demonstration eines Sinneswandels aus. Ada und Arindal sind auch in der Hochzeit die Namen eines Paares; der Charakter der Beziehung zwischen den zwei Menschen ist jedoch ein völlig anderer. In der Hochzeit sind Ada und Arindal ein Brautpaar, das gerade im Begriff ist, seine Hochzeit zu feiern. Nach allem, was man über das Stück weiß, dessen Textbuch Wagner, wie erwähnt, vernichtete, wird eine konventionelle Ehe geschlossen. Ada, die Tochter aus einer mächtigen Familie, heiratet einen treuen Gefolgsmann ihres Vaters, nämlich Arindal. Nichts läßt darauf schließen, daß es sich um eine Liebesheirat handelt, um die Erfüllung einer leidenschaftlichen Beziehung. Zu vermuten ist vielmehr, daß diese Heirat eine Sache gleichsam von Staatsräson ist. Wesentlich erscheint, daß die Beziehung zwischen Ada und Arindal in der Hochzeit nur periphere Bedeutung hat, die normal-legale Beziehung spielt nur eine Rolle am Rande. Im Zentrum steht das Gegenteil: die Störung und Zerstörung der legalen Beziehung durch das buchstäbliche Eindringen eines Dritten, Kadolt, der sich am Abend vor der Hochzeitsnacht der Braut mit Gewalt zu bemächtigen versucht. Ada wehrt sich zwar erfolgreich gegen Verführung und Vergewaltigung, indem sie den Eindringling aus ihrem Turmzimmer über den Balkon in die Tiefe stürzt, so daß – was das Brautpaar anbetrifft – zumindest äußerlich nicht gegen die Sitte verstoßen wird; innerlich jedoch tritt Ada unmißverständlich in eine enge Beziehung zu Kadolt, dem Eindringling: bei der Totenfeier für ihn sinkt sie tot neben seinem Leichnam zusammen.

Diese Geschichte ist alles andere als eine Verherrlichung der Institution der Ehe und des bürgerlichen Lebens. Es hat daher den Anschein, als habe Wagner die Namen Ada und Arindal für die Protagonisten der Feen allein deshalb übernommen, um die Institution der Ehe, der in der Hochzeit so übel mitgespielt wurde, zu rehabilitieren. In den Feen sind Ada und Arindal ein Paar, dessen Beziehung von Beginn an legal verläuft und weder durch einen anderen Mann noch eine andere Frau auch nur andeutungsweise in Frage gestellt wird. Die Feen sind nichts anderes als die Umkehrung der Hochzeit, nämlich eine exemplarische Verherrlichung der Ehe. Alles, was geschieht, dient der Demonstration, daß nichts, weder unerfüllbare Bedingungen noch das Eingreifen von Zaubermächten, die Liebe eines einmal füreinander bestimmten Paares zerstören oder auch nur beeinträchtigen kann. Die Liebe siegt, bezeichnenderweise die Liebe eines Ehepaares, das bereits acht Jahre verheiratet ist und zwei Kinder hat.

So konventionell sich das Textbuch in dieser Hinsicht gibt und so nahe es damit der Tradition jener Stücke ist, in denen zwei Menschen über viele Hindernisse und feindliche Verhältnisse hinweg am Ende doch ein glückliches Paar werden, so unübersehbar ist ein – freilich nicht minder bürgerlicher – emanzipatorischer Zug des Werks. Die Sphären, denen Ada und Arindal entstammen, repräsentieren unterschiedliche Gesellschaftsschichten: Der Bereich der Feen entspricht der Aristokratie, derjenige der Menschen dem Bürgertum, und selbstverständlich plädiert das Stück im Sinne der Ideale der französischen Revolution für die Überwindung der durch die Aristokratie gesetzten Grenzen. Es besteht kein Zweifel, daß nicht Ada es ist, die aus purer Grausamkeit ihrem geliebten Arindal Bedingungen auferlegt, die dieser nicht erfüllen kann. Vielmehr ist es das Feenreich, also die Aristokratie, die mit allen Mitteln zu verhindern sucht, daß sich Adas Liebe durchsetzt und ihre Beziehung zu dem ,bürgerliche‘ Arindal Bestand hat. Es wäre falsch anzunehmen, es gehe bei den...

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