2. Die richtige Vorauswahl: Nein, es wird nicht jeder angerufen
Peter sitzt am Frühstückstisch und rührt gedankenverloren in seinem Kaffee. Zweimal schon hat Sandra ihm eine Frage gestellt, auf die er nicht reagiert hat. »Was ist los mit dir?«, fragt sie jetzt noch einmal mit erhobener Stimme. »Du warst gestern beim Abendessen schon so geistesabwesend. Was ist passiert? Ist dein erster Tag bei RV nicht positiv verlaufen?« Peter schreckt aus seiner Gedankenwelt auf und sieht sich mit verwirrtem Blick in der sonnendurchfluteten Küche um. »Wie? Was? Ja, doch, der erste Tag ist gut gewesen. Ich muss jetzt übrigens los!«, verabschiedet er sich hastig, stellt die leere Kaffeetasse in das Spülbecken und verlässt fluchtartig das Haus.
Sandra nimmt mit spitzen Fingern die Tasse aus der Spüle und räumt sie in den Geschirrspüler. Hardy, der über seinem Frühstücksei lümmelt, blickt seinem Vater erstaunt nach. »Was hat er denn? Ich hätte erwartet, dass er uns seit gestern Abend die Ohren volllabert, wie toll der erste Tag war, was er schon alles getan hat, aber er hat gar nichts gesagt. Ich glaube, ihm gefällt es dort nicht.« »Es ist viel zu früh, darüber schon eine Meinung zu haben, Hardy. Du weißt doch, dein Vater ist – egal, wo er auftaucht – immer der Star unter den Verkäufern«, beschwichtigt Sandra ihren Sohn. Aber innerlich ist auch sie überzeugt, dass da etwas nicht stimmt. Noch nie hat sie ihren enthusiastischen Ehemann so ruhig erlebt. »Erwirkt fast ein wenig geschockt«, denkt sie, als auch sie sich anschickt, das Haus zu verlassen, um zu ihrer Arbeit aufzubrechen. »Komm, Hardy, Zeit für die Schule, wir fahren los.«
Der Star unter den Verkäufern, der sich an diesem Morgen ganz und gar nicht so fühlt, sitzt verbissen am Steuer seines SUV und wartet, dass der morgendliche Stau sich auflöst. »Verkaufen lernen, ich soll verkaufen lernen«, murmelt er vor sich hin. »Verdammt, was will Roland von mir, ich kann verkaufen, ich habe es hundertmal bewiesen mit meinen Abschlussquoten. Und was soll dieser Unsinn mit dem Herausfinden der Gründe, warum der Kunde mein Angebot annimmt? Es interessiert mich doch gar nicht, warum er es annimmt. Hauptsache, er nimmt es an, und ich bekomme die Provision. Die Interna des Kunden haben in meinen früheren Firmen noch nie jemanden interessiert. Wieso soll ich meine Zeit damit verschwenden, den Kollegen im Unternehmen Fragen zu stellen, wenn ich in dieser Zeit schon Umsatz machen könnte?« Während er diese Gedanken wälzt, kommt auch schon die Thujenhecke auf dem RV-Parkplatz in Sicht. Peter ist an seinem zweiten Arbeitstag in der neuen Firma eingetroffen.
Interviews in den Abteilungen
Er spricht bei Anja, der Assistentin, die er gestern schon kennengelernt hat, vor. Sie begrüßt ihn mit einem strahlenden Lächeln und einer Tasse Kaffee. Zusammen mit dem Cappuccino überreicht sie ihm eine Liste mit Abteilungen, Namen und Funktionen. Dies seien seine Gesprächspartner des heutigen Tages. Peter überfliegt die Liste und wundert sich. Er trifft anscheinend keine Abteilungsleiter, wie er erwartet hat, sondern »normale« Mitarbeiter aus dem Controlling, der Buchhaltung, aus dem Marketing, aus IT und HR und einen Kollegen aus dem Verkauf.
Die buchhalterischen Aspekte der Unternehmen, in denen Peter tätig war, haben ihn noch nie interessiert. »Was sollen die mir schon sagen?«, denkt er sich. »Die sitzen mit ihren Zahlen im Hinterzimmer und wissen eh nichts von der echten Welt des Verkaufens. Und Controller mag ich sowieso nicht, die sind so stetig und gewissenhaft, oft auch kleinkariert im Denken und meist langweilig.« Um es rasch hinter sich zu bringen, beschließt er, mit der Buchhaltung zu beginnen.
Bruno aus der Buchhaltung begrüßt ihn herzlich. Peter fühlt sich in diesem zahlenorientierten Universum gar nicht wohl. Ihm fällt keine intelligente Frage ein. »Was macht ihr denn hier so, ihr stellt Rechnungen, schreibt Mahnungen, richtig?«, fragt er schließlich mit unsicherer Stimme. Bruno lacht. »Klar machen wir das alles, Rechnungen, Controlling, Mahnungen. Wenn es dich interessiert, kann ich dir das alles erklären.« Bruno schweigt und wartet auf weitere Fragen von Peter. Es kommen keine. Peter ist ungeduldig und außerhalb seiner Komfortzone. Er denkt: »Ich könnte doch in der Zeit, die ich hier bei diesem Zahlenfuzzi verbringen muss, schon wieder fünf Akquisetelefonate erledigt haben.« Bruno räuspert sich und sagt: »Vielleicht möchtest du wissen, was wir anders machen?«
Peter will das definitiv nicht wissen, aber er nickt höflich. Bruno legt los. »Klar erstellen wir Rechnungen wie jede Firma, wir versenden auch Mahnungen. Aber wir achten darauf, dass der Kunde ein positives Erlebnis hat, wenn er von uns eine Rechnung erhält.«
»Deswegen legen wir der ersten Rechnung, die ein Kunde postalisch von uns bekommt, einen Glückstee bei. Den kleben wir auf die Rechnung. Gleichzeitig fragen wir, ob wir die folgenden Rechnungen elektronisch senden dürfen.« Peter stiert Bruno verständnislos an. Glückstee auf der Rechnung? Und warum muss er als Verkäufer das wissen? Der Vormittag nimmt für ihn surreale Ausmaße an. »Das wundert dich vielleicht, Peter«, sagt Bruno, der diese Reaktionen der neuen Verkäufer schon kennt. »Aber hier bei RV wissen wir, dass es auch im Geschäftsleben nun einmal um Emotionen und Beziehungen geht, und versuchen, das in allen Abteilungen zu berücksichtigen. Aus diesem Grunde versehen wir auch Mahnungen immer mit einem Smiley, um bei deren Erhalt zumindest ein kleines Lächeln auf das Gesicht unserer Kunden zu zaubern. Denn in unserer Firma steht der Kunde im Mittelpunkt! Wir gehen nie davon aus, dass der Kunde etwas böse meint, sondern dass er etwas tut oder nicht tut, weil er gerade in einer bestimmten Situation lebt. Und für diese müssen wir uns erst einmal interessieren, vor allem für den Menschen, der sich am Telefon gerade über eine angeblich falsche Rechnung beschwert. Es geht nicht darum, ob wir Fehler machen, jedes Unternehmen tut das. Es geht darum, wie wir mit ihnen umgehen und wie interessiert wir bei all dem am Kunden sind.«
Peter denkt: »Aha, schon wieder dieses wahre Interesse, was haben die denn alle damit?« Er bedankt sich bei Bruno für dessen Ausführungen und lenkt seine Schritte in Richtung Controlling. Herbert begrüßt ihn und bestätigt durch sein Äußeres alle Klischees, die Peter mit Controllern verbindet. »Jetzt mal Action«, denkt Peter. »Ich habe ja schon was gelernt.« Er lächelt Herbert strahlend an und fragt: »Was macht ihr hier im Controlling denn anders?« Herbert ergeht sich in langen Tiraden, während Peters Gedanken abschweifen. Oft hört er »Interesse am Kunden haben« in Herberts Ausführungen. »Ach, der auch«, denkt er und verabschiedet sich so bald wie möglich.
So ein Junior-Verkäufer verkauft ganz nebenbei
Sein nächster Gesprächspartner ist Dirk, ein Junior-Verkäufer. »Was soll ich von dem schon erfahren, ich bin ja schon viel länger im Verkauf«, denkt Peter arrogant und geringschätzig. Dieser zweite Vormittag bei RV bringt alle seine weniger guten Eigenschaften zum Vorschein. Mit seinem erprobten verkäuferischen Siegerlächeln betritt er selbstbewusst das Büro von Dirk. Dieser begrüßt ihn freundlich und äußerst selbstsicher. Da ist keine Spur von einem »Junior« zu bemerken. Dirk trägt elegante enge schwarze Jeans, ein weißes Hemd und einen schicken Blazer. Peter fühlt sich in seinem konservativen Anzug und der dezent rosa gemusterten Krawatte plötzlich overdressed. Wieder einmal hatte Sandra recht, als sie ihm am Morgen sagte, dass solch eine Krawatte für den zweiten Tag »too much« sei und sie die Mitarbeiter in dieser Firma modisch eher lässig angehaucht einschätzen würde. Für Peter ist diese Krawatte ein Powertool im Verkauf, weil sie seiner Meinung nach bei jedem Kunden Vertrauen schafft.
Nun sitzt er dem wirklich lässig gekleideten Dirk gegenüber. Peter ergreift sofort die Initiative und stellt die logische Frage: »Was macht ihr hier bei RV anders im Verkauf?« Dirk lächelt und sagt dann langsam: »Es geht bei uns vorrangig darum, sich für den Menschen zu interessieren und ihn erst einmal zu verstehen.« Bevor er weiter ausholen kann, klingelt Dirks Telefon. Ein Kunde ruft an. Peter freut sich: »Perfekt, jetzt höre ich mir mal an, wie der das macht.« »Grüß dich, Thomas.« Peter staunt, Dirk ist per Du mit dem Kunden? Und er fragt ihn, wie sein Urlaub auf Sardinien verlaufen ist und wie es Sonja geht? »Woher weiß der das?«, fragt sich Peter, denn Dirk hat ja keine Notizen konsultiert, seine Fragen kamen ganz automatisch. Als ob sich Freunde unterhielten. Peter ist irritiert. Und ist es noch mehr, als er Dirk sagen hört, wie sehr es ihn freut, dass diese Sonja ihre Hüft-OP gut überstanden habe. Noch...