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E-Book

Wahrhaftig sein

7 Schritte zur Lebenskunst

AutorMartin Kämpchen
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783843608220
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Das eigene Leben zu leben ist Zielpunkt aller Wünsche und alles andere als selbstverständlich. Die Sehnsucht nach einem authentischen, wahrhaftigen Leben ist ebenso verbreitet wie die Klage, ein entfremdetes, fremdbestimmtes Leben führen zu müssen. Martin Kämpchen, Grenzgänger zwischen christlichem Glauben und indischer Philosophie, erschließt sieben Schritte der Lebenskunst. Dabei schöpft er aus dem christlichen Glauben ebenso wie aus seinen Erfahrungen des indischen Lebens. Durch das Leben in zwei Kulturen entstehen für europäische Leserinnen und Leser erfrischend neue Perspektiven.

Dr. Martin Kämpchen, geb. 1948 in Boppard (Rhein), lebt und arbeitet im westbengalischen Shantiniketan. Er studierte Germanistik und Religionswissenschaft und wirkt seit 1973 als Schriftsteller und Übersetzer (Ramakrishna, Tagore) in Indien. Er setzt sich für den interkulturellen und interreligiösen Dialog ein und arbeitet in indischen Dörfern.

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Leseprobe

1

Einfachheit


Einfachheit beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Zuerst schuf Gott Licht, das er vom Dunkeln schied; dann schied er das Wasser von der Erde. Danach schuf er das Himmelsgewölbe, das heißt den Raum, in dem die Schöpfung enthalten ist, und die Sterne. Er schuf die Pflanzen auf der Erde und die Tiere im Wasser und der Luft und auf der Erde. So ist die Schöpfung Tag für Tag herangewachsen und hat sich organisch von Schöpfungstat zu Schöpfungstat entfaltet. Danach heißt es: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut« (Genesis 1,31).

Der stärkste Eindruck, den diese Geschichte hinterlässt, ist der einer übergreifenden Ordnung. Sie ist nicht arithme­trisch oder geometrisch, sie baut also nicht mit Zahlen und geraden Linien oder Winkeln auf. Diese Ordnung entsteht, indem wie aus einem Samenkorn zuerst die Elemente entstehen, also Feuer (Licht) und Wasser und Erde. Luft ist nicht eigens erwähnt, sie erhält aber eine sakramentale Bedeutung, wenn es im zweiten Kapitel der Genesis heißt, dass Gott dem Menschen seinen »Odem« einhaucht.

Aus diesen Elementen entstehen als Nächstes die Pflanzen, die von dem Licht und der Erde ihre Nahrung empfangen, und die Tiere, die sich von den Pflanzen ernähren. Ebenso werden die Tiere geschaffen, die im Wasser und vom Wasser leben. Zuletzt entsteht der Mensch, der inmitten der Elemente, der Pflanzen und Tiere seinen Lebensraum findet. Diese Ordnung ist eine organische – eines entwickelt sich aus dem anderen; es ist keine additive Ordnung, bei der eines zum anderen gehäuft wird, ohne dass sich die Teile zu einem Ganzen verbinden. Diese organische Ordnung hat zur Folge, dass die einzelnen Teile der Schöpfung aufeinander angewiesen sind, dass also die Basis die darauf aufbauende Schöpfung am Leben erhält und dass umgekehrt die lebendige Schöpfung zur Basis – den Elemen­ten – zurückkehrt. Dieser Kreislauf von Geben und Empfangen, dieses Sich-Auseinanderfalten und Wieder-Zurückkehren der Schöpfung beschreibt das einfachste Ordnungsprinzip – es ist die Ordnung der Einfachheit.

Der indische Schöpfungsmythos erzählt von einer ähnlichen Einfachheit des Gebens und Empfangens, allerdings ist sie noch eindeutiger. Aus dem Nabel des Schöpfergottes Brahma wächst die Welt hervor, wie ein Lotos, der seine zahllosen Blütenblätter nacheinander entfaltet. Am Ende eines Zeitalters, nachdem die Energie des kreativen Impulses aufgebraucht ist, löst Gott Shiva die Welt wieder auf. Shiva nennt man den Zerstörergott, doch eigentlich zerstört er nicht, sondern er faltet die kraftlose Schöpfungsmaterie wieder zusammen, sie wird zum Ungestalteten oder – in der Sprache der Genesis – zu den »Urwassern«. Als ungestaltet-undifferenzierte Potenz regeneriert sich die Schöpfung, bis sie sich zum Beginn eines neuen Zeitalters wieder aus der Potenz in die Manifestation entfaltet.

Schöpfungsmythen und Wiederherstellung der Einfachheit

Was haben die Schöpfungsmythen mit dem Thema der Einfachheit zu tun? Die alttestamentarische wie die Hindu-Schöpfungsmythe schildern anschaulich, wie eine einfache Lebensweise in unserem Alltag aussehen kann. Wir entwickeln aus uns selbst heraus, was wir zum Leben notwendig haben: Wir haben einen Körper, den wir gegen Hitze und Kälte schützen müssen – also brauchen wir Kleider. Wir haben ein angeborenes Schamgefühl – also bedecken wir unsere Blößen. Wir brauchen Nahrung, um unseren Hunger, Wasser, um unseren Durst zu stillen. Wir brauchen Häuser, um uns gegen das Wetter zu schützen. Wir brauchen auch Bilder an der Wand und Schönheit in unserem Lebensumkreis, weil wir ein angeborenes ästhetisches Empfinden besitzen. Ähnlich haben unsere emotionalen, intellektuellen und seelischen Kräfte natürliche Bedürfnisse, die wir befriedigen sollen.

So kann sich der Mensch aus seinen echten, natürlichen Bedürfnissen heraus eine einfache Lebensweise schaffen. Eines baut organisch und notwendig auf dem anderen auf. Wer diese Art, Einfachheit zu verstehen, verinnerlicht hat, kann entscheiden, was nicht notwendig ist und darum auch nicht zum einfachen Leben gehört. Nicht zur Einfachheit gehören Dinge, die von außen hinzukommen, die sich zum Leben addieren, ohne zu ihm zu gehören und ins wesentliche Leben integriert werden können.

Als Gott der Schöpfer um sich blickte und sah, dass alles gut war, hatten Natur und Menschen gerade so viel, wie sie zum würdigen und erfüllten Leben brauchten. Als sich nach dem Hindu-Mythos die Schöpfung aus dem Nabel Brahmas vollständig entfaltet hatte, befand sich die Schöpfung im Gleichgewicht: Jedes Geschöpf besaß so viel zum Leben wie notwendig und nahm keinen anderen Geschöpfen deren Lebenskraft weg. Das sehe ich als den vollkommenen Zustand der Einfachheit an.

Wie können wir im praktischen Leben eine solche Einfachheit herstellen – oder wieder herstellen? Die von außen hinzugekommenen Dinge, die uns immer mehr beschweren und uns zu erdrücken drohen, können abgebaut werden, sodass nur bestehen bleibt, was aus einem deutlichen Bedürfnis heraus notwendig ist. Diesen Unterschied zwischen echten, das Wesen der Menschen betreffenden Bedürfnissen und dem äußerlichen Ballast zu erkennen, das ist die eigentliche Herausforderung.

Uns ist mit den Schöpfungsmythen als Archetyp des einfachen Lebens deutlich geworden, dass Einfachheit durch einen Willen zur Ordnung entsteht. Wer Einfachheit sucht, glaubt an eine Rangordnung der Werte, das heißt, an eine Rangordnung innerhalb der Schöpfung und entsprechend an eine Rangordnung in dem, was gut und wichtig im eigenen Leben ist und was weniger oder nicht wichtig ist. Einfachheit ist niemals apodiktisch im Sinne, dass sie etwas radikal ablehnt und ein anderes unbesehen zulässt, sondern das einfache Leben folgt der Intuition, die entscheidet, was auf den verschiedenen Ebenen des Lebens notwendig ist und was in einer gegebenen Situation wichtiger ist als etwas anderes. Menschen, die das einfache Leben verwirklichen wollen, entscheiden von Tag zu Tag und von Situation zu Situation neu, was ein solches Leben von ihnen verlangt.

Maßgebend ist hier das Wort Intuition. Sie ist ein innerer Kompass, mit dem die jeweils angemessene Weise der Einfachheit bestimmt werden kann. Intuition ist jene Instanz, die unser rationales Denken und unsere Gefühlswelt überragt und über sie wacht und bemüht ist, sie kreativ zu den richtigen Entscheidungen zu führen. Wir müssen nur bereit sein, die Signale der Intuition zu empfangen, und den Mut besitzen, ihnen zu folgen, auch gegen unser rationales und vom Gefühl kontrolliertes »besseres Wissen«. Mahatma Gandhi (1869–1948) hat diese Instanz der Intution the still small voice in unserem Innern genannt.1

Die Einfachheit der Lebensweise, die wir anstreben, ist einerseits so natürlich und folgerichtig, weil sie einzig der Gesetzmäßigkeit des schöpferischen Prozesses folgt; anderseits ist diese Einfachheit so schwierig zu finden und zu behaupten, weil es in unserer modernen Welt mächtige Gegenströmungen gibt, die diese Einfachheit als primitiv, unpraktisch, antimodern, unklug, »uncool« und dergleichen erscheinen lässt. Einfachheit genießt geringes Prestige. Darum ist die Klarheit und Strenge der Intuition als Begleit­instanz so wesentlich.

Voraussetzungen der Einfachheit

Hier einige Voraussetzungen für eine praktisch erfüllte Einfachheit.

Einfachheit ist nur möglich, wenn kein Mangel herrscht. Unsere Grundbedürfnisse müssen gestillt sein. Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Gesundheitsfürsorge, Arbeit, das Leben der Familie müssen gesichert sein. Nur wenn dieses soziale und materielle Gleichgewicht herrscht, kann sich unser Wollen mit Idealen beschäftigen. Dieser Grundsatz, dass Einfachheit nur möglich ist, wenn kein Mangel besteht, geht schon aus dem Vergleich mit der Schöpfungsgeschichte hervor. In der Schöpfung herrscht – als Idealbild von Gottes Schöpfung – kein Mangel.

Diese Vorstellung hat zur Folge, dass Einfachheit als Lebensweise auch wesentlich das wirtschaftliche Ziel der Verteilungsgerechtigkeit der Güter verfolgt und ebenso den bedachtsamen Umgang mit der Umwelt.

Ebenso soll auch im Innern des Menschen ein Gleichgewicht bestehen. Die Entscheidung zur Einfachheit soll nicht einer Not, einem Ärger oder Trotz, einer hohlen, aufgeblasenen Begeisterung gehorchen, sondern in mentaler Ruhe und emotionaler Nüchternheit getroffen werden. Die äußere, materielle Sphäre und die innere Befindlichkeit gehören zusammen und bilden ein Ganzes.

Nur aus einer Ruhe und Nüchternheit können wir die Einfachheit als einen positiven Schritt zu einem veränderten Leben auffassen. Einfachheit kann nur gelingen, wenn wir die Dämonen der Besitzgier, des gesellschaftlichen Prestiges, der Präsentation im Äußeren und der narzisstischen Selbst­überhöhung als solche erkannt haben und wissen, dass wir sie in Schach halten müssen. Sind wir uns dieser Dämonen nicht bewusst, wird unser Leben in den breiten Bahnen des additiven Lebens weiterlaufen: Man häuft eins aufs andere.

Es gibt »sekundäre Dämonen«, nämlich den Dämon der Zerstreuung; den der Gleichzeitigkeit, wenn man glaubt, die unterschiedlichen Tätigkeiten in einem und ohne Differenzierung voneinander tun zu können (»multi-tasking«), weil der Alltag es so zu verlangt; den der Hast und des unentwegten, maschinenartigen Tätigseins; den Dämon des Pflichtgefühls,...

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