Vorwort
Zu früh dran
Als Karl Rahner, einer meiner großen Lehrer in Innsbruck, wieder einmal für seine kühnen theologischen und pastoralen Überlegungen von „Rom“ ein Rede- und Schreibverbot erhalten hatte, wurde er gefragt, wie er denn damit umgehe. Brummig meinte er, er habe da nur zwei Möglichkeiten: Entweder habe er sich geirrt, dann müsse er wieder zurück auf den festen Boden des Bewährten; oder er sei zu früh dran gewesen.
Dieser weise Ausspruch eines der größten Theologen Europas im letzten Jahrhundert wird manchen heute in den Sinn kommen. Papst Franziskus hat nämlich in seiner Apostolischen Exhortatio im Bereich der Ehe- und Familienpastoral Positionen bezogen, für die Bischöfe und Theologen vor seiner Zeit verurteilt worden waren. Zu diesen zählen die inzwischen zu Kardinälen kreierten Bischöfe Walter Kasper von Rottenburg-Stuttgart und Karl Lehmann von Mainz, die 1994 für ihr Schreiben als oberrheinische Bischöfe vom damaligen Chef der Glaubenskongregation Kardinal Joseph Ratzinger harsche Kritik ernteten. Der dritte im oberrheinischen Verbund war der inzwischen verstorbene Freiburger Erzbischof Oskar Saier. Ihnen war von Rom strengstens verboten worden, ihre Position öffentlich weiter zu vertreten.
Den erleichternden Gedanken, zu früh dran gewesen zu sein, wird auch der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl haben. Er hatte mit dem Wiener Priesterrat im Jahre 1979 ein Dokument zur Pastoral rund um Scheidung und Wiederheirat verfasst. Kardinal König hatte als Wiener Erzbischof die Bemühungen des Priesterrats wohlwollend unterstützt. Kurz danach war Weihbischof Krätzl mit Kardinal Franz König zur Familiensynode 1979 nach Rom gefahren, zu der Johannes Paul II. eingeladen hatte. Schon während des Konzils hatte der Wiener Kardinal 1963 die katholische Kirche aufgefordert, in die Schule der Orthodoxie zu gehen und von ihr in Fragen der Geschiedenenpastoral zu lernen. Als sich dann bei der Bischofssynode in Rom 1979 abzeichnete, dass der Moraltheologe Papst Johannes Paul II. in dieser Frage keine Entwicklung zulassen werde, fuhren die beiden heim und versammelten die österreichische Bischofskonferenz. Diese gab 1980, noch bevor sich der Papst geäußert hatte, eine Erklärung heraus, die nicht nur von den Beratungen auf der Familiensynode berichtete, sondern mit besorgtem Blick auf die konkrete pastorale Praxis faktisch den Vorschlag des Wiener Priesterrates aufgriff. Wörtlich erklärten sie:
„Ein besonderes Problem, das die Bischofssynode sehr beschäftigt hat, betrifft die Pastoral an Geschiedenen, die wieder geheiratet haben. Die Kirche hat auch solchen Christen gegenüber zu bezeugen, dass die Ehe nach dem Gebot des Herrn als unauflösliche Gemeinschaft zu verstehen ist. Deshalb kann sie derartige Zweitehen nicht als sakramentale Gemeinschaften anerkennen. Auch die Kirche steht unter dem Wort des Herrn.
Andererseits ist es aber nach der Überzeugung der Bischofssynode Aufgabe der Kirche, auch gegenüber solchen, bloß standesamtlich geschlossenen Ehen Verständnis zu zeigen. Solche Eheleute sind nicht von der Kirche getrennt. Sie sollen am gottesdienstlichen Leben teilnehmen. Nach der traditionellen Praxis der Kirche können sie aber nicht am vollen sakramentalen Leben teilnehmen, es sei denn, es liegen besondere Verhältnisse vor, die jeweils im Gespräch mit einem erfahrenen Priester der näheren Klärung bedürfen.“1
Hier tauchen schon all jene Elemente auf, welche das Schreiben von Papst Franziskus bestimmen: Die orthodoxe Unterscheidung zwischen „Akribie“ (wir müssen ungeschmälert das Gebot des Herrn bezeugen) und „Oikonomie“ in der Form von Verständnis und Einzelfalllösung und im Einzelfall Begleitung durch erfahrene Seelsorger mit dem Ziel der vollen Integration in das kirchliche, also auch sakramentale Leben.
Die österreichischen Bischöfe hatten sich in der Einschätzung von Papst Johannes Paul II. nicht getäuscht. In seinem nachsynodalen Schreiben „Familiaris consortio“ (Die familiäre Schicksalsgemeinschaft, 1980) bestätigte dieser die traditionelle Praxis. Zwar schrieb er dagegen an, dass die betroffenen wiederverheiratet Geschiedenen „exkommuniziert“ seien (FC 83). Er betonte zudem, dass die Fälle oftmals sehr verschieden gelagert seien und pastorale Aufmerksamkeit erforderten – eine Passage, welche die Familiensynode und mit ihr Papst Franziskus bereitwillig aufgegriffen hat. Zugleich aber betonte er, dass der Zugang zu Beichte und Eucharistie solange verwehrt werden müsse, als die betroffenen Personen in der zweiten Verbindung verblieben. Denn in diesem Fall bestehe ein objektiver Widerspruch zwischen dem Sakrament der Einheit der Eucharistie und der in der Zweitehe gelebten Untreue. Solange das erste Eheband bestehe und nicht annulliert werden könne, sei daher ein Zugang zu den Sakramenten nicht möglich. Muss dann ein Paar wegen neuer Verbindlichkeiten aus sittlichen Gründen dennoch zusammenbleiben – der Papst nannte konkret die Sorge um gemeinsame Kinder – und es möchte dennoch zur Kommunion hinzutreten, dann müsste es bereit sein, sich jener Akte zu enthalten, die Eheleuten vorbehalten sind (FC 84). Dieses „wie Bruder und Schwester zu leben“ würde die zweite Verbindung von ihrer „sündhaften Eheförmigkeit“ befreien, auch wenn sie dann doch eine „familiale Schicksalsgemeinschaft“ bliebe. Der Weg zu den Sakramenten führe also allein über eine sogenannte „Josephsehe“.
Noch in meiner Passauer Zeit am Lehrstuhl für Pastoraltheologie hatte ich 1982 ein Buch geschrieben mit dem damals bedrängenden Titel: „Scheidung – was dann …? Fragment einer katholischen Geschiedenenpastoral“. In diesem Buch hatte ich die pastorale Bedeutung der Erklärung der österreichischen Bischöfe aus dem Jahre 1980 als einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gewürdigt. Es gebe für sie viele gute Argumente prominenter Theologen wie Rahner, Ratzinger, Lehmann und Kasper. Kurz nach dem Erscheinen des Buches übermittelte mir der damalige Bischof von Passau, Antonius Hofmann, – er tat dies gar nicht gern – wegen dieses Buches ein Monitum der Glaubenskongregation. So kann auch ich mich in die gar nicht kleine Zahl jener Bischöfe, Theologinnen und Theologen einreihen, die nach Karl Rahner in der Ehe- und Familienpastoral offensichtlich „zu früh dran waren“.
Ein neuer Ton
In dem vorliegenden pastoraltheologischen Essay werde ich die Apostolische Exhortatio „Amoris Laetitia“ (Die Freude der Liebe, 2016) von Franziskus, Bischof von Rom, kritisch würdigen. Dabei mögen die interessierte Leserin, der interessierte Leser keinen typischen Fachkommentar zu dem vielseitigen „päpstlichen Handbuch für die katholische Ehelehre, Eheberatung und Ehespiritualität und in all dem Ehe- und Familienpastoral“ erwarten. Das ist auch allein deshalb nicht vordringlich, weil das Dokument dank einer eingängigen und realitätsnahen Sprache keiner eigenen Erschließung bedarf: Es versteht sich von selbst und legt sich selbst aus.
Vielmehr greife ich einige wenige zentrale Aspekte heraus, um diese zu präsentieren und fachlich einzuordnen. Sie sollen die grundlegende pastorale Tragweite dieses engagierten päpstlichen Dokuments herausschälen. Denn das Dokument berührt nicht nur die Pastoral rund um Scheidung und Wiederheirat und ist auch nicht nur einfach eine Ehe- und Familienpastoral. Vielmehr werden Grundzüge einer überaus innovativen feinfühligen „Pastoralkultur“ erkennbar, die versucht, das Evangelium in die Lebenskultur heutiger Menschen behutsam einzuweben. Ein „neuer Ton“ wird hörbar, der dank Franziskus weitere Bereiche der Pastoral durchdringen wird.
Papst Franziskus ist kirchenpolitisch nicht leicht einzuordnen. Progressive möchten ihn ungeduldig vereinnahmen, Konservative bekämpfen ihn geharnischt. Aber der Papst ist weder konservativ noch progressiv. Wenn man ihn schon mit einem einzigen Wort charakterisieren will, dann am ehesten mit „radikal“. Des Papstes Pastoral hat jesuanische Wurzeln (radix). Sie lebt vom Vertrauen, dass Gott als der wahre Oberhirte der Herzen in jedem Menschen ein Leben lang als der „unbeirrbar treue Gott“ (Dtn 32,4) mit einem Erbarmen, das seine Gerechtigkeit krönt, am Werk ist. Und die Kirche steht, randvoll mit dem Evangelium, gewissenhaften Menschen bei der letztlich eigenverantwortlichen Meisterung ihres Lebens wegweisend und leidsensibel-heilend zur Seite und kümmert sich darum, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sie dabei mehr fördern als behindern.
Eine pastorale Wende
Dies sind einzelne Facetten dieser noch weithin ungewohnten feinfühligen Pastoralkultur, die in diesem Essay in juwelartigen Kapiteln bedacht werden sollen:
Tuchfühlung mit der Realität
Typisch ist des Papstes hoher Realitätssinn. Er geht nicht davon aus, wie er die Menschen haben möchte, sondern wie sie faktisch sind: mit all ihren Freuden und Leiden, Erfolgen und Niederlagen, aber immer in ihrer einmaligen Geschichte, die sie inmitten eines unentrinnbaren gesellschaftlichen Klimas schreiben. Dabei verzichtet der Papst nicht darauf, den Menschen auf ihrem Lebens- und Liebesweg das Evangelium als Ermutigung zu einer Entwicklung ihrer Lage zuzusingen. Er ermutigt zur Freude der Liebe, übersieht aber auch nicht die Schattenseiten.
Leidsensibles Dokument
Sein Dokument ist leidsensibel. Während bisher viele in der Kirche mehr auf das Gelingen von Ehe und Familie im Sinn der kirchlichen Weisungen geschaut haben, geht sein Blick auf die Menschen, die nicht heiraten können, weil sie keine Arbeit finden, die Gewalt...