Erst der Schritt in die Industrialisierung und Fabriksarbeit ermöglichte die Herausbildung einer modernen Populärkultur. Die für uns selbstverständliche Trennung zwischen Arbeits- und Freizeitwelt war in der vorindustriellen Gesellschaft gänzlich unbekannt. In der adeligen und höfischen Gesellschaft waren Konzerte, Opernbesuche und Feste ein grundlegender Bestandteil des Lebens. Die unterbürgerliche Stadt- und Landbevölkerung ging vom Aufstehen bis zum Schlafengehen der Arbeit nach. Singen, gemeinsames Essen und Trinken waren in der Arbeitszeit eingeschlossen. Das Abseits der Arbeit war von Sonn- und Feiertagen des Kirchenkalenders geprägt.
Mit der einsetzenden Industrialisierung veränderte sich das Verhältnis zur Arbeit. Der Lohnarbeiter hatte sich fortan nach der Fabriksuhr zu richten und unter fremdbestimmten Umständen einer beliebigen Arbeit nachzugehen. Die bürgerliche Gesellschaft geriet in einen Konkurrenzkampf um den Verkauf des individuellen Arbeitsvermögens, um sich ihr Überleben sichern zu können. Erst diese Entwicklungen begünstigten die Entstehung einer Massenkultur. Durch Trennung von Arbeit und Freizeit verfügten die Lohnarbeiter über freie Zeiten und Räume, die sie selbstbestimmt verwenden konnten.[1] Im Mittelpunkt dieser neuen Strukturen, die sich um 1900 voll entfalteten, stand plötzlich ein neues Publikum mit Freizeiterwartungen. Um zu einer Massenkultur zu gelangen, benötigt es aber auf der anderen Seite Anbieter von diversen Freizeitangeboten. Der Fundus, aus dem die Anbieter schöpfen konnten, entwickelte sich unentwegt und wurde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt für immer breitere Schichten erreichbar. Massenkünste zielen darauf ab, die Aufmerksamkeit möglichst vieler Menschen zu gewinnen sowie befriedigende ästhetische Erfahrungen zu bewirken. Erst im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg bahnt sich eine Massenkultur im weiteren Sinn an. Neue Drucktechniken als auch Medien wie Schallplatte, Film und Rundfunk erleichterten den Austausch und die Verbreitung unterschiedlichster ästhetischer Erfahrungen.[2]
„Aber meine Herren, wir werden uns doch nicht von einem Bauchredner zum Besten halten lassen.“[3] Das rief der Gelehrte Bouillaud skeptisch aus, als Edisons Phonograph das erste Mal in der Alten Welt an der Pariser Académie des Sciences vorgeführt wurde.
Der Aufstieg der populären Musik im 20. Jahrhundert zur Massenkultur ist fest mit der Erfindung des Phonographen verknüpft. Thomas Alva Edison präsentierte bereits 1877 seinen Phonographen, auch „Sprechmaschine“ genannt. Edison dachte bei seiner Erfindung weniger an die Aufzeichnung von Musik als an praktische Anwendungsmöglichkeiten wie einen Buchersatz für Blinde sowie an Hilfe in der Stenographie und der Sprecherziehung. Bei seinen Präsentationen demonstrierte Edison die Aufnahmeleistung seiner Maschine anhand live spielender und singender Musiker. Ohne dass es ihm bewusst war, nahm er somit die zukünftige Hauptanwendung seiner Maschine vorweg, obwohl er seinen Phonographen vorübergehend als Spielzeug ohne kommerziellen Wert betrachtete.[4] Schallwellen wurden in dem von Edison entwickelten Verfahren von dem Phonographen auf mechanischem Weg in Staniolwalzen eingeschnitten. Das Problem bei Edisons Entwicklung stellte die Vervielfältigung der Walzenaufnahmen dar. Die Möglichkeit der Kopie war äußerst kompliziert und durch die Lebensdauer des Originalzylinders begrenzt: Etwa 25 Kopien ließen sich von der Originalaufnahme erstellen. Um der Nachfrage an „Schlagern“ gerecht werden zu können, mussten die Lieder mehrmals aufgenommen und danach von verschiedenen Walzen vervielfältigt werden. Europa geizte nicht, die neue technische Errungenschaft mit Satire zu überschütten. So schrieb Peter Rosegger 1885:
„Jetzt werden wir gar eine Sprechmaschine bekommen, durch die wir zu unseren Nachkommen reden können. Bei aller Hochachtung vor dem technischen Fortschritt, aber ein Gespräch mit den Vorfahren wäre notwendiger für unsere Zeit.“[5]
Eine Karikatur im Londoner „Punch“ erhielt folgende beißende Unterschrift:
„Signor Nebelhorno, der große Basso-Tenore robusto-profundo, ist so entsetzt über die gegenwärtige musikalische Geschmacklosigkeit (die nicht reif ist, ihn zu würdigen), daß er jeden Versuch aufgibt, der lebenden Generation zu gefallen. Er kauft statt dessen einen Phonographen und wendet alle Energie daran, für die Nachwelt zu singen. Sobald er sein Lied gesungen hat, legt er sein Ohr an den Trichter und hört nun nicht nur seine eigene Stimme, die aus ferner Zukunft widerhallt, sondern auch den begeisterten Beifall von Millionen von Menschen, die noch nicht geboren sind.“[6]
Der deutsch-amerikanische Einwanderer Emile Berliner erkannte das Potential der Aufnahmetechnik und entwickelte zehn Jahre nach Edison das Grammophon. Er ersetzte die Walzen durch Platten aus rundem wachsbeschichteten Zinkblech, die nach der Aufnahme geätzt wurden, um die ins Wachs geritzten Rillen dauerhaft auf dem Zinkblech zu fixieren.[7] Berliner prophezeite bei der ersten Vorführung seines Apparates 1888, dass es möglich sei, eine beliebige Anzahl von Kopien des Tonträgers herzustellen, und dass ein Unterhaltungsmarkt für Musikaufzeichnungen entstehen werde, der den Künstlern ein Tantiemensystem bringt[8]. Im Gegensatz zu den Edison-Walzen, die nicht in beliebiger Zahl produzierbar waren und nur Tonaufnahmen bis zu vier Minuten ermöglichten, eroberte die unbegrenzt produzierbare Schallplatte von Emile Berliner den Weltmarkt.[9] Insbesondere der Tenor Enrico Caruso wird für den Triumph der Schallplatte im 20. Jahrhundert verantwortlich gemacht. Bereits 1902 besang er in Mailand Schallplatten und erzielte hohe Verkaufszahlen, was für die Entwicklung der Industrie weit reichende Folgen nach sich zog.[10]
Abb. 1[11]: Enrico Caruso, abgebildet als Herzog in „Rigoletto“
Richtig spannend wurde es in der Schallplattenindustrie, als es dem 1878 in Wien geborenen Physiker Robert von Lieben gelang, den Effekt zur Verstärkung von Fernsprechströmen praktisch auszunützen. Die Firma Telefunken kaufte sein Patent, womit der Elektrifizierung von Tonaufnahmen nichts mehr im Wege stand. Durch die neue Aufnahmetechnik verbesserte sich der Klang der Schallplatten ungemein, was ihr zu noch größerer Popularität verhalf. Denn bis dato war der größte Kritikpunkt der Gegner die schlechte Tonqualität der Aufnahmen gewesen.
1925 begann die amerikanische Industrie mit der Anwendung der neuen Aufnahmetechnik, Mitteleuropa zog erst 1926 nach. Elektrische Aufnahme bedeutete allerdings nicht automatisch elektrische Wiedergabe. Die technischen Möglichkeiten für eine elektrische Wiedergabe waren zwar schon gegeben, die Erzeugung von günstigen Wiedergabegeräten mit Verstärkerröhren aber noch nicht möglich. Erst mit dem Aufstieg der Radioindustrie verbreitete sich die elektrische Wiedergabe rasant. Als logische Folge der technischen Verbesserungen kam es in den zwanziger Jahren zu einem großen Aufschwung der Schallplattenindustrie.
Anhand einer deutschen Statistik, die den Verbrauch von Sprechmaschinen dem Klavierverbrauch gegenüberstellt, lässt sich dieser Aufschwung und die wachsende Bedeutung der Schallplatte sehr gut ablesen:
Abb. 2[12]: Gegenüberstellung Grammophon- und Klavierverbrauch
Die Weiterentwicklung der Schallplatte zur Langspielplatte setzte sich ausgerechnet in der Wirtschaftskrise fort. Edison versuchte auch auf diesem Markt mitzumischen, schaffte es aber nicht ein konkurrenzfähiges Produkt zu entwickeln. Als Folge der hereinbrechenden Wirtschaftskrise gab Edison 1929 die Produktion von Platten endgültig auf. 1931 gelang es Leopold Stokowski die Zahl der Rillen auf der Platte zu verdoppeln, und die Umdrehungsgeschwindigkeit auf 33 1/3 pro Minute zu verringern. Die Spielzeit einer Platte erhöhte sich durch diese Maßnahmen auf 14 Minuten pro Seite. Aufgrund der schwindenden Kaufkraft der Bevölkerung und der instabilen Wirtschaftslage mussten Musikbegeisterte bis 1948 auf eine ausgereifte Version der Langspielplatte warten. 1944 nahm die amerikanische Columbia die Weiterentwicklung in Angriff. Ein Ingenieur der Firma konnte ein Modell vorführen, das dreimal so viel Rillen wie die alte Standardplatte hatte, mit einer Geschwindigkeit von 33 1/3 Umdrehungen pro Minute abzuspielen war und noch dazu durch Unzerbrechlichkeit glänzte. 1950 gelangte die Langspielplatte aus dem neuen Vinylit-Kunststoff nach Europa und behauptete sich gegen die alten Schellackplatten, deren Anteil von nun an zu sinken begann.[13]
Diese neue Form der Zugänglichkeit zur Musik ist von enormer kultureller Bedeutung. Das Ausmaß der kulturellen Bedeutung der...