2. September 2013
Börfink, Deutschland
Kilometer 133
Der Wanderweg vor mir hat nichts Schwieriges an sich: keine besonderen Unebenheiten, keine großen Steine, keine quer liegenden Äste. Er ist einfach ein fünfzig Zentimeter breiter, gut ausgetretener und an dieser Stelle flacher Pfad durch den Wald. Und dennoch stolpere ich plötzlich und verliere das Gleichgewicht. Die Millisekunden meines Falls nehme ich wie in Zeitlupe wahr – und dann durchzuckt mich ein rasender Schmerz. Ich bin direkt auf mein linkes Knie gestürzt. Tränen schießen mir in die Augen. Tränen des Schmerzes und vor allem der Wut über diesen völlig idiotischen Sturz. Wie ein Kind schreie ich einfach los, und es ist mir egal, ob mich jemand hört. Ich schreie und schreie und schreie, bis mir die Lächerlichkeit der Situation bewusst wird. Da liege ich platt auf dem Weg, durch meinen Rucksack und die unter mir eingeklemmten Trekkingstöcke unbeweglich wie eine Schildkröte auf dem Rücken und brülle völlig unbeherrscht wie ein hungriges Baby. Ein gequältes Lächeln huscht über mein Gesicht. Mir wird klar, dass ich nicht ewig hier so liegen und mich dem Selbstmitleid hingeben kann. Widerwillig wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, befreie mich von meinem Rucksack und ziehe die Stöcke unter mir hervor. Jetzt bin ich wieder beweglicher und kann mich zum Aufstehen auf das unverletzte Knie stützen. Mühsam rapple ich mich endgültig hoch. Geschafft! Dann zwinge ich mich zur Schadensaufnahme. Mein linkes Knie ist großflächig aufgeschürft, blutet leicht und schwillt immer mehr an. Vor allem aber ist die Wunde völlig verdreckt.
Ich schließe vor Schmerz die Augen und schmiede einen Plan: Etwa einen Kilometer entfernt liegt das Dorf Börfink am Weg. Dort will ich die Wunde reinigen und abwarten, ob sich das lädierte Knie beruhigt. Also schultere ich wieder meinen Rucksack und humple los. Im Schneckentempo geht es durch den Wald, aber ich bin froh, dass ich mich überhaupt noch allein fortbewegen kann.
Als ich nach einer qualvollen halben Stunde endlich den Ort erreiche, stoße ich glücklicherweise sofort auf eine Art Gemeindehaus mit öffentlichen Toiletten und einem Rastplatz. Die Schmerzen in meinem Knie sind jetzt erträglich, doch ich weiß, dass ich nur schwer wieder hochkommen werde, sobald ich mich einmal hingesetzt habe. So fülle ich erst meine Wasserflaschen auf, bevor ich mich auf einer Bank im Schatten niederlasse. Dann reinige ich mit zusammengebissenen Zähnen die Wunde mit kaltem Wasser. Meine Notfallapotheke ist minimal: Ibuprofen gegen Kopf- und Gelenkschmerzen, ein paar Antibiotika für den Notfall, Immodium gegen Durchfall, ein paar Pflaster. Aber auch eine kleine Tube Jodsalbe, die jetzt an meinem Knie zum Einsatz kommt.
Nachdem die Wundversorgung erledigt ist, kommt das Mittagessen an die Reihe: Es ist zwar erst elf Uhr vormittags, aber ich möchte noch etwas Zeit gewinnen und koche mir ein Tütengericht auf meinem kleinen Gaskocher. Mit einer Portion »Nudeln Bolognese« im Magen und einem hochgelegten Knie sieht die Welt eine Stunde später schon ganz anders aus. Doch wie soll es jetzt weitergehen?
Vorsichtig setze ich den Fuß des lädierten Beins auf die Erde und versuche aufzustehen – keine gute Idee. Nach der langen Pause ist das Knie angeschwollen und lässt sich kaum noch bewegen. Ich lasse mich wieder auf die Bank plumpsen und überdenke meine Optionen. Wenn ich mich ernsthaft verletzt haben sollte, dann müsste ich jetzt einen Arzt aufsuchen – und wahrscheinlich meine Tour abbrechen. Das glaube ich aber nicht, denn dann hätte ich es wohl nicht aus eigener Kraft bis hierher geschafft. Das Knie wird sich schon wieder erholen. Doch kann ich damit einfach so weiterlaufen, oder braucht das Gelenk eine Ruhepause? Über mir lädt ein strahlend blauer Himmel zum Wandern ein. Außerdem bin ich gerade erst ein paar Tage unterwegs und noch gar nicht erholungsbedürftig. Und wo sollte ich hier denn überhaupt übernachten? Zu meiner großen Überraschung verrät mir mein Smartphone, dass es in dem kleinen Ort sogar mehrere Unterkünfte gibt. Und so beschließe ich seufzend, vernünftig zu sein …
Drei Stunden später liege ich in einem Bett in der Pension »Alte Mühle« und starre an die Decke. Mein Zimmer liegt im ersten Stock, und mit meinem geschwollenen Knie habe ich es kaum die Treppe hinauf geschafft. Mir graut schon vor dem Augenblick, wenn mich meine volle Blase zum Gang auf die Toilette zwingt. Wie gerne würde ich jetzt mit Werner telefonieren und mich trösten lassen. Aber mein Handy hat hier absolut keinen Empfang, und das Hotel hat nicht mal WLAN. Zweifel und Ängste steigen wieder in mir hoch. Habe ich mich vielleicht doch ernsthaft verletzt? Kann ich so überhaupt noch schlappe 3500 Kilometer laufen? Oder ist die ganze Tour nicht einfach nur eine Schnapsidee? Lange wälze ich mich hin und her, bis ich früh am Abend einschlafe.
Am nächsten Morgen weckt mich strahlender Sonnenschein. Zehn Stunden Schlaf haben meinen Widerstandsgeist zu neuem Leben erweckt: Ich bin wild entschlossen, heute weiterzuwandern. Noch ein Tag Zwangsaufenthalt voller Grübeleien würde mich wahnsinnig machen. Energisch schwinge ich die Füße aus dem Bett und belaste langsam meine Beine. Mein Knie ist steif und schmerzt. Probehalber mache ich ein paar Schritte durch das Zimmer, wobei ich mich anfangs noch an den Möbeln abstützen muss. Nach diesem Aufwärmtraining nehme ich die Treppe nach unten in Angriff. Mit jedem Schritt geht es besser, obwohl ich mit meinem Gang immer noch mehr einer neunzigjährigen Oma als einer dynamischen Mittvierzigerin ähnle.
Im Frühstücksraum befindet sich außer mir kein Gast. Ungelenk lasse ich mich mit durchgestrecktem Knie an einem Tisch nieder und ziehe ein Heft über den Saar-Hunsrück-Steig aus der Tasche.
»Tee oder Kaffee?«, fragt mich der freundliche Wirt, und ich bestelle Kräutertee. Als er mir zwei Minuten später das Getränk serviert, fällt sein Blick auf die Wanderbroschüre.
»Sind Sie auf dem Steig unterwegs?«, fragt er neugierig, und ich bejahe. »Der Weg hat mir ja schon viele zusätzliche Gäste beschert«, erklärt er mir in Plauderlaune und nimmt an meinem Tisch Platz. Das soll mir nur recht sein, denn ich habe es heute gar nicht so eilig mit meinem Aufbruch.
»Der Saar-Hunsrück-Steig ist ja auch ein zertifizierter Premiumwanderweg«, verkünde ich fachmännisch und beiße genussvoll in ein knuspriges Brötchen mit Schinken – eine großartige Abwechslung zu meinem normalen Wanderfrühstück, Müsli mit kaltem Wasser.
»Oh ja«, pflichtet der Wirt mir bei und ergänzt schmunzelnd: »Man muss schon ein Deutscher sein, um auf die Idee zu kommen, Wanderwege zu zertifizieren.« Da ich noch den Mund voll habe, kann ich nur zustimmend nicken. »Möchten Sie noch ein weich gekochtes Ei zum Frühstück?«, fragt er nun fürsorglich und erntet dafür von mir ein begeistertes Brummen.
Während der Wirt in der Küche verschwindet, denke ich über die Sinnhaftigkeit von Wanderwegszertifizierungen nach. In Deutschland vergeben zwei Verbände Qualitätssiegel für Wanderwege, so ähnlich wie Sterne für Restaurants. Unabhängige Prüfer untersuchen die Strecke nach über dreißig unterschiedlichen Kriterien wie Wegeformat, Beschilderung, Verkehrsanbindung und Verpflegungsmöglichkeiten. Wenn alle Standards erfüllt werden, endet diese Zertifizierung in dem Prädikat »Premium-« oder »Qualitätswanderweg«. Selbst die Hotels und Pensionen entlang der Strecke werden auditiert und dürfen sich erst dann »Qualitätsgastgeber« nennen. Das alles kostet die betroffenen Landkreise und Betriebe natürlich Zeit und vor allem Geld. Ich bezweifle zwar, dass man ein Wandererlebnis »vermessen« kann oder sollte, aber dennoch liebe ich diese »Sterne«-Wege aus einem ganz praktischen Grund: Sie erleichtern mir die Planung meiner Wanderung durch Europa ganz erheblich! Denn anders als in den USA gibt es hier kaum viel begangene und gut dokumentierte Langstreckenwanderwege. Für den Appalachian Trail oder den Pacific Crest Trail, die beiden bekanntesten amerikanischen Fernwanderwege, gibt es mehrere vollständige Tourenführer, komplette Kartensets, ja sogar Apps für das Smartphone und vor allem eine gut vernetzte trail community, die in Online-Foren und Hunderten von Blogs Informationen zur Verfügung stellt.
Bei uns in Europa ist das Wandern zwar weiter verbreitet als in den USA, beschränkt sich in der Regel jedoch auf Tages- oder bestenfalls ein- bis zweiwöchige Touren. Daher sind die europäischen Wanderwege im günstigsten Fall ein paar Hundert Kilometer lang und regional beschränkt. Zwar gibt es insgesamt elf europäische grenzüberschreitende Fernwanderwege, die sogenannten E-Wege, aber die sind nicht durchgängig markiert. Der europäische Wanderverband hat hierfür einfach bereits bestehende regionale Wege zu einer Strecke zusammengefasst. Und genauso bin ich bei der Planung meiner Route vom Rhein nach Tarifa ebenfalls vorgegangen: Ich habe in wochenlanger Kleinarbeit Wanderwege gesucht, die zwischen meinem Start- und Endpunkt liegen und diese dann zu einer Gesamtstrecke zusammengepuzzelt. Dieser Prozess wurde dadurch vereinfacht, dass es für die bekannten »Premium-« oder »Qualitätswege« natürlich jede Menge Unterlagen und Informationen im Netz gibt. Wie zum Beispiel den kostenlosen Führer über den Saar-Hunsrück-Steig mit Karten und Wegbeschreibung, den ich nicht nur jetzt beim Frühstück, sondern auch beim Wandern mehrmals täglich konsultiere. Auch den entsprechenden Track für mein GPS konnte ich mir einfach aus dem Internet herunterladen.
»So, hier ein...