STIMME UND GESTALT
Im Anfang war die Stimme.
Stimme ist klingender Atem, tönende Kundgebung des Lebens. Sie ist Spiegel des stärksten Unterschiedes der Menschen: des Geschlechtsunterschiedes, sie ist Spiegel aller Verschiedenheiten der Lebensalter, sie ist Spiegel der individuellen Besonderheit innerhalb der Geschlechtsgattung: der Persönlichkeit. So ist die singende Stimme Projizierung der Erscheinung des Menschen in die Sphäre des Klanges, Verwandlung seiner körperhaften Sichtbarkeit in eine tönende Unsichtbarkeit.
Als der Mensch Wesen nach seinem Bilde zu formen begann, erkannte er drei ihm unmittelbar eigene Mittel des Gestaltens: Gedanke, Klang, Bewegung. Dem Gedanken diente die Sprache, dem Klang die singende Stimme, der Bewegung der Körper. Das sind die drei elementaren Kundgebungen des Spieltriebes: der Mensch als sprechendes Wesen, der Mensch als singendes Wesen, der Mensch als tanzendes Wesen. Sie bedürfen keines fremden Gestaltungsmateriales. Der lebendige Mensch selbst ist für sie Objekt und Subjekt, Gegenstand und Mittel des Spieltriebes, der hier als naturhafter Lebenstrieb unmittelbar erscheint.
Die Bahnen der drei, durch menschliche Grundmateriale bestimmten Spielgattungen laufen zu verschiedenen Zeiten verschieden. Oft weit entfernt voneinander, nähern sie sich plötzlich, überkreuzen, decken sich, ziehen einander parallel, um dann schnell wieder voneinander zu weichen. Gemeinschaftlich zu allen Zeiten ist ihnen nur der Wille zur Veranschaulichung: im Theaterspiel. Auch hierbei sind sie zeitweise völlig beherrscht von Sonderproblemen der eigenen Gattung, dann wieder tritt die Erkenntnis der Beziehungen zueinander stärker hervor. Gelegentlich steigert sich das Bewusstsein des gemeinschaftlichen Ursprunges und Zieles bis zum Willen völliger Gleichheit auch der Wege. Unberührt von solchem Wechsel bleibt die Materie der Gattung selbst: Sprache, Stimme, Körper. Nur die Art, sie zu erkennen, zu gestalten - gleichviel ob für sich allein oder in Verbindung miteinander - ändert sich. Den historischen Ablauf dieser Metamorphosen nennt man Geschichte des Dramas, der Oper, des Tanzes, das ist: Geschichte des Menschen als sprechender, als singender, als tanzender Erscheinung.
Die Sprache ist das selbständigste von den drei Elementen der Menschengestaltung aus dem Menschen selbst. Sie bedarf auch als theatralische Erscheinung weder des Gesanges noch des Tanzes, ihr Reich ist der Gedanke. Weniger selbständig ist der Tanz. Er erstrebt die Verbindung mit dem Gesang, zum mindesten mit der musikalisch rhythmischen Unterlegung. Völlig unselbständig ist der Gesang. Er bedarf stets der Verbindung mit dem Sprachlaut. Gleichzeitig aber sucht er die Beziehung zur tänzerischen Bewegung und erlangt erst in der Vereinigung mit beiden seine höchste Ausdruckskraft.
Sprache und Tanz, beide jenseits ihres Eigenlebens vom Gesang her erfasst, sind also die natürlichen Verbündeten der theaterspielenden Stimme. Die Geschichte der Stimmwandlungen ist die Geschichte ihrer wechselnden Beziehungen zur Sprache und zum Tanz. Entbehren kann die Stimme keines von ihnen. Aber sie kann beide bis auf eine äußerste Grenze zurückdrängen. Sie kann von beiden bis nahe zur Aufhebung ihrer eigenen Natur überwältigt werden. Sie kann schließlich die beiden anderen Elemente sich organisch einbeziehen und eine Auswägung der verschiedenen Kräfte versuchen. Alles zusammengefasst ergibt die Sondergeschichte jener Kunstgattung, die man seit dem Jahre 1600 Oper nennt. Man nimmt dieses Jahr als Ursprungsjahr der Oper, weil hier zum erstenmal die singende Stimme in körperhafter Veranschaulichung als Grundkraft eines Theaterspieles erscheint.
Hierauf beruht die historische Bedeutung jener schöpferischen Tat der Florentiner Musik-Hellenisten.
Wichtig war nicht die Rekonstruktion des griechischen Dramas, überhaupt nicht die Idee des Dramatischen. Hierfür hätte man die Musik nicht gebraucht, auch nicht einen Kreis von Musikliebhabern als Urheber. Wichtig war der Gesang. Er kam aus einer primär musikalischen Reaktion, nämlich aus dem Willen zur Vereinfachung, zur Verdrängung des Konstruktiven durch das Naturhafte. „Man wurde vor allem darüber einig, dass man, da die heutige Musik im Ausdruck der Worte ganz unzureichend und in der Entwicklung der Gedanken abstoßend war, bei dem Versuch, sie der Antike wieder näherzubringen, notwendigerweise Mittel finden müsse, die Hauptmelodie eindringlich hervorzuheben und so, dass die Dichtung klar vernehmlich sei.“ So charakterisiert der Florentiner Dom den zeitgenössischen neuen Bühnengesang von 1640. Die Stimme sollte führen. Sie sollte es im Gegensatz zu der Kompliziertheit der kontrapunktischen Formen: als melodische Individualerscheinung. Hierzu bedurfte sie der Sprache. Sollte aus Gesang und Sprache anschauliche Gestaltung entstehen, so blieb nur die Äußerung in dramatisch aufbauender Form.
So wurde das Wort Mittel zur Formgestaltung der Stimme, Wort in natürlicher Einfachheit, sinnhaft in Sätze gegliedert, klar erkennbar von der Einzelstimme vorgetragen, dialogisch geordnet, bis zur körperhaften Anschaulichkeit der Erscheinungen verdeutlicht.
Darin lag die Annäherung an die Idee des alten klassischen Dramas. Es war, schon im Anfang der Oper, nur ein Mittel, nicht aber zum Zwecke der Musik, sondern zum Zwecke des Gesanges.
Wie wäre ein Unterschied zwischen Gesang und Musik aufzufassen? Ist nicht Gesang stets Musik?
Gewiss, doch Musik ist nicht stets Gesang. Die Spannung zwischen beiden kommt von den verschiedenen klimatischen Bedingungen der Länder und den hieraus sich ergebenden physiologischen Musizierbedingungen. Bei allen Mittelmeer-Kulturen dominiert der Gesang. Die Ausbildung auch der instrumentalistischen Fähigkeiten wird dadurch nicht behindert, aber sie stehen stets in Zusammenhang mit dem Gesang, sind in bezug auf ihn gedacht. Der Gesang bestimmt Wesen und Begriff der Musik. Der Wille zur Erneuerung des einstimmigen Gesanges führt in Italien zum Durchbruch des harmonischen Empfindens und damit zur Schaffung der Oper.
Mit der Abwanderung nach Norden verschiebt sich das Verhältnis.
Sprache, Klima und natürliche Begabung sind der Stimme weniger günstig, sie verliert die führende Bedeutung. Es bildet sich neben dem gesanglichen noch ein anderer Begriff von Musik heran, erwachsend aus der Welt des Instrumentalklanges. Dauernd genährt durch gesteigerte Komplizierung des Instrumentalen, erlangt dieser Musikbegriff solche Übermacht, dass auch die Stimme nur noch als ein Teil des Gesamtapparates erscheint, ein Organ unter vielen. Dem mechanisch konstruierten Ganzen eingeordnet, verliert sie ihre originale formbildende Kraft und verfällt der instrumentalen Mechanisierung. So erscheint hier auch die Oper nur als Musik, wie eine Sinfonie, eine Klaviersonate. Sie unterscheidet sich von diesen Kompositionsgattungen lediglich durch den größeren Aufwand an ausführenden Kräften und die Tatsache der szenischen Wiedergabe.
Parallel der Umwandlung vom Gesang zur Musik geht eine Bedeutungsänderung der optischen Mittel in der Oper. Die singende Stimme als Handlungsfaktor bedingt die Irrealität des von ihr dargestellten Menschen. Indem sie ihn singend wiedergibt, hebt sie ihn aus allen Voraussetzungen der Wirklichkeit heraus, kennzeichnet ihn als ein stets scheinhaft bleibendes Wesen. Aufgeben kann es diese Scheinhaftigkeit ebensowenig, wie ein Lichtbild Körperhaftigkeit zu gewinnen vermag. Der singend sich bewegende, singend handelnde, singend sprechende Mensch ist der Wirklichkeit unwiederbringlich entrückt. Er bleibt gebunden an die Traumwelt der Phantasie, die ihn erzeugt hat. Also muss auch alles, was er tut: die Art seines Handelns, seiner Bewegung, Kleidung, räumlichen Umgebung dieser Scheinhaftigkeit entsprechen, denn es ist nur vorhanden, um sie zu ermöglichen und ihr Atmosphäre zu geben. Herder, ein guter Kritiker der Oper, sagt: „Einmal in eine Welt gesetzt, in der alles singt, alles tanzt, entspreche auch die Welt ringsum dieser Gemütsart: sie bezaubere.“
Demnach ist das Drama im Sinne des aus der Sprache gestalteten Sprechdramas unmöglich in der Welt der singenden Stimme. Vorstellbar wird es nur als Scheinhaftigkeit des Dramas im gleichen Sinne, wie der singende Mensch als scheinhaft gilt. Die Möglichkeit einer dramatischen Wirkung im Spiel der singenden Stimmen ist damit nicht aufgehoben, sie liegt aber auf anderer Ebene und ist niemals durch Wettbewerb mit dem Sprechdrama zu erzielen. Das gleiche gilt von den äußeren Mitteln der Veranschaulichung: Kostüm, räumlicher Szenengestaltung bis zur Bewegungssprache des Singenden. Alles untersteht dem Grundgesetz der bewussten Scheinhaftigkeit, der Atmosphäre des Klanghaften, in der allein die Oper leben und atmen kann.
Diese Scheinhaftigkeit ist gewahrt worden, solange die Verbundenheit mit der Grundnatur der Oper bestand. Sie hat sich verloren im gleichen Masse, wie sich diese Verbundenheit lockerte: wie durch Abwanderung der Kunstgattung in nordische Länder das Primat des Gesanges zugunsten der Instrumentalmusik verloren ging. Aus der Klangwelt des Orchesters drängten die Ideen des Dramas und aller damit zusammenhängenden veranschaulichenden Elemente hervor: der Handlung, der Bühnengestaltung, der Darstellung.
Aber wäre das wirklich falsch? Ist, gleichviel ob aus spekulativen oder physiologischen Gründen, eine Annäherung oder gar Gleichstellung der Oper gegenüber dem von Vernunft und Sprache geformten Drama nicht möglich, nicht nützlich, nicht vielleicht sogar im Sinne eines Fortschrittes denkbar?
Gleiche Zielsetzung für Oper und Drama auf gleichen Wegen mit Hilfe gleicher Mittel wäre ein Doppelspiel gestaltender Kräfte, wie es in...