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Die rote Pille schlucken
Auf die Gefahr hin, die menschliche Befindlichkeit über Gebühr zu dramatisieren: Haben Sie den Film »Matrix« gesehen?
Seine Hauptperson ist ein junger Mann namens Neo (dargestellt von Keanu Reeves), der entdeckt, dass er in einer Traumwelt gelebt hat. Das Leben, das er zu führen glaubte, war tat-sächlich nur eine raffinierte Halluzination. Er lebte diese Halluzination, ohne darum zu wissen, dass sein tatsächlicher physischer Körper sich in einer klebrigen, sarggroßen Kapsel befand – eine unter vielen Kapseln in Reihen über Reihen von Kapseln, die alle ein Menschenwesen enthielten, das in einen Traum versunken war. Die Menschheit hatte vor langer Zeit einen Krieg gegen die von ihr selbst erschaffenen Maschinen mit künstlicher Intelligenz verloren. Die Maschinen nutzten die Menschen nun zur Energiegewinnung und hatten ihnen zur Ruhigstellung ein Traumleben gegeben.
In der berühmten »Rote-Pille«-Szene des Films wird Neo vor die Wahl gestellt, weiterhin eine Illusion zu leben oder zur Wirklichkeit zu erwachen. Neo wurde von »Rebellen« kontaktiert, die in seinen Traum eingetreten sind (oder, um es genau zu sagen, deren Avatare in seinen Traum eingedrungen sind). Ihr Anführer Morpheus (gespielt von Laurence Fishburne) erklärt Neo die Situation: »Du wurdest wie alle in die Sklaverei geboren. Du lebst in einem Gefängnis, das du weder anfassen noch riechen kannst, einem Gefängnis für deinen Verstand.« Das Gefängnis wird »die Matrix« genannt. »Dummerweise ist es schwer, jemandem zu erklären, was die Matrix ist. Jeder muss sie selbst erleben.« Er bietet Neo zwei Pillen an, eine rote und eine blaue. Neo kann die blaue Pille einnehmen und in seine Traumwelt zurückkehren, oder er kann die rote Pille nehmen und den Schleier der Illusion durchbrechen. Neo entscheidet sich für die rote Pille.
Das ist eine ziemlich schwerwiegende Entscheidung: ein Leben der Verblendung und Gefangenschaft oder ein Leben der Einsicht und Freiheit. Es ist in der Tat eine dermaßen dramatische Wahl, dass man glauben möchte, so etwas sei zwar genau richtig für einen Hollywoodfilm, die Entscheidungen, die wir tatsächlich darüber treffen müssen, wie wir unser Leben führen wollen, seien aber weniger bedeutungsschwer und viel prosaischer. Doch als dieser Film in die Kinos kam, versinnbildlichte er für viele Menschen eine Entscheidung, die sie tatsächlich selbst getroffen hatten.
Die Menschen, an die ich denke, könnte man »westliche Buddhisten« nennen, Leute in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern, die zum größten Teil nicht als Buddhisten aufgewachsen sind, die sich aber irgendwann für den Buddhismus entschieden haben. Sie übernahmen zumindest eine Version dieser Religion, die man einiger der übernatürlichen Elemente entkleidet hatte, welche sich typischerweise im asiatischen Buddhismus finden, wie etwa der Glaube an die Reinkarnation und an verschiedene Gottheiten. Dieser westliche Buddhismus konzentriert sich auf einen Teil der buddhistischen Praxis, der in Asien eher unter Mönchen als unter Laien verbreitet ist: Meditation zusammen mit der Versenkung in buddhistische Philosophie. (Zwei der am meisten verbreiteten Vorstellungen vom Buddhismus im Westen – dass er atheistisch sei und um Meditation kreise – sind falsch. Die meisten asiatischen Buddhisten glauben tatsächlich an Götter, wenn auch nicht an einen allmächtigen Schöpfergott, und sie meditieren auch nicht.)
Diese westlichen Buddhisten waren, bereits lange bevor sie den Film »Matrix« gesehen hatten, zu der Überzeugung gelangt, dass die Welt, wie sie sie einst gesehen hatten, eine Art von Illusion war – nicht durch und durch eine Halluzination, aber ein stark verzerrtes Bild der Realität, das wiederum ihre Lebensweise verzerrt hatte, und zwar mit schwerwiegenden Konsequenzen für sie und ihre Mitmenschen. Sie hatten das Gefühl, dass sie die Dinge dank der Meditation und der buddhistischen Philosophie jetzt klarer sahen. Für diese Menschen war »Matrix« eine angemessene Allegorie für die Verwandlung, die sie durchgemacht hatten, und sie betrachteten den Film als einen »Dharma-Film«. Das Wort »Dharma« hat mehrere Bedeutungen; es bezeichnet unter anderem die Lehren Buddhas und den Pfad, den Buddhisten diesen Unterweisungen entsprechend einschlagen sollten. Im Kielwasser von »Matrix« wurde die Metapher »Ich habe die rote Pille geschluckt« für viele ein neuer Ausdruck für »Ich folge dem Weg des Dharma«.
Ich habe »Matrix« im Jahr 1999 gesehen, gleich nachdem der Film in die Kinos gekommen war; und einige Monate später erfuhr ich, dass ich in einer gewissen Verbindung damit stand. Die Wachowski-Geschwister, verantwortlich für Drehbuch und Regie des Films, hatten Keanu Reeves zur Vorbereitung auf die Rolle von Neo drei Bücher zu lesen gegeben. Eines davon war Diesseits von Gut und Böse,1 das ich einige Jahre zuvor geschrieben hatte.
Ich bin mir nicht sicher, welche Art von Verbindung die Regisseure zwischen meinem Buch und »Matrix« gesehen haben. Aber ich weiß, welche Verbindung ich sehe. Die Evolutionspsychologie lässt sich auf unterschiedliche Weise beschreiben; ich habe sie in meinem Buch folgendermaßen interpretiert: Es ist die Wissenschaft davon, wie das menschliche Gehirn von der natürlichen Selektion dazu konzipiert wurde, uns in die Irre zu führen, uns sogar zu versklaven.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Die natürliche Selektion hat ihre Vorteile, und ich bin lieber von ihr geschaffen als überhaupt nicht existent – was, soweit ich sehen kann, die beiden Optionen sind, die uns dieses Universum bietet. Ein Produkt der Evolution zu sein bedeutet allerdings keineswegs, dass diese Evolution ganz und gar eine Geschichte der Versklavung und Verblendung war. Unser entwickeltes Gehirn befähigt uns in vieler Hinsicht und segnet uns oft mit einer grundlegend zutreffenden Sicht der Realität.
Und trotzdem: Der natürlichen Selektion geht es letztlich nur um eine einzige Angelegenheit (oder vielleicht sollte ich besser sagen: Sie »funktioniert« nur zu einem Zweck, denn die natürliche Selektion ist bloß ein blinder Prozess, kein bewusster Gestalter). Und diese eine Sache ist, unsere Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Genetisch bedingte Züge, die in der Vergangenheit zur genetischen Fortpflanzung beigetragen hatten, blühten und gediehen, während andere Züge, die dies nicht leisteten, auf der Strecke geblieben sind. Und zu den Zügen, die diesen Test überlebt haben, gehörten mentale Züge – Strukturen und Algorithmen, die in unser Gehirn eingebaut sind und unsere Alltagserfahrung formen. Wenn Sie also die Frage stellen: »Welche Art von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen leiten uns in unserem täglichen Leben?«, so ist die Antwort auf der grundlegenden Ebene nicht: »Die Art von Gedanken und Gefühlen und Wahrnehmungen, die uns ein zutreffendes Bild der Realität vermittelt.« Nein, auf der grundlegendsten Ebene ist die Antwort: »Die Art von Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen, die unseren Vorfahren geholfen hat, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben.« Ob diese Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen uns eine wahre Sicht der Realität vermitteln, ist im Grunde unwichtig. Und das führt dazu, dass sie es manchmal nicht tun. Unser Gehirn ist dazu konzipiert, uns unter anderem auch irrezuführen.
Nicht, dass daran irgendetwas schlecht wäre! Einige meiner glücklichsten Momente ergaben sich aus einer Illusion – zum Beispiel dem Glauben, dass die Zahnfee mir einen Besuch abstatten würde, nachdem ich einen Zahn verloren hatte. Aber Illusionen können auch schlechte Erfahrungen hervorbringen. Und ich meine damit nicht nur Momente, die im Rückblick offensichtlich eine Illusion waren, wie schreckliche Albträume. Ich meine auch Momente, die Sie vielleicht nicht für verblendet halten, wie etwa nachts mit Angst wach zu liegen. Oder sich Tag für Tag hoffnungslos, ja sogar deprimiert zu fühlen. Oder vielleicht Wutanfälle gegenüber anderen Menschen zu haben, Ausbrüche, die sich für einen Moment vielleicht tatsächlich gut anfühlen, die aber langsam Ihren Charakter zersetzen. Oder das Gefühl von Affronts gegenüber sich selbst. Oder ein Gefühl von Gier, das Gefühl eines Zwangs, etwas in einem Ausmaß zu konsumieren, das weit über die Sorge für unser Wohlergehen hinausgeht. Auch wenn Emotionen wie Angst, Verzweiflung, Hass und Gier nicht auf die gleiche Weise illusionär sind wie ein Albtraum, werden Sie, wenn Sie gründlich darüber nachdenken, doch herausfinden, dass sie Elemente der Verblendung enthalten, ohne die es Ihnen besserginge.
Und wenn Sie denken, Ihnen würde es bessergehen ohne diese Emotionen, dann stellen Sie sich einmal vor, wie es der ganzen Welt gehen könnte. Schließlich können Gefühle wie Verzweiflung, Hass und Gier Kriege und Gräueltaten fördern. Sollte das, was ich sage, also wahr sein – wenn diese grundlegenden Quellen menschlichen Leidens und menschlicher Grausamkeit tatsächlich zum großen Teil ein Produkt von Verblendung sind –, dann ist es allemal sinnvoll, diese Verblendung ans Licht zu holen.
Das hört sich logisch an, nicht wahr? Aber hier gibt es ein Problem, das mir, schon bald nachdem ich mein Buch geschrieben hatte, langsam deutlich wurde: Der genaue Wert der Entlarvung einer Illusion hängt davon ab, welche Art von Licht man darauf wirft. Manchmal hilft ein Verständnis der letztlichen Quelle unseres Leidens an...