Kapitel 2
Wer ausbrennt und wer nicht
Ich wartete auf meine neue Gruppe. Während ich den Raum noch ein wenig herrichtete, trafen nach und nach die ersten Männer ein, grüßten freundlich und suchten sich ihre Plätze. Mir fiel besonders ein etwa 40 Jahre alter Mann auf. Eine auf den ersten Blick vitale Erscheinung, nur bei genauerem Hinsehen erkannte man die Müdigkeit in seinen Augen. Er war sehr gut angezogen – nicht auffällig, aber jemand, der sich auskannte; ich sah sofort, wie gut sein Sakko geschnitten war und dass das Hemd nicht aus einem Kaufhaus stammte. Mit seiner Ausstrahlung von Autorität, Erfolg und Stil erfüllte er den ganzen Raum. Was hatte der bei mir im Kurs zu suchen?
In der Vorstellungsrunde erzählte er, dass er ein promovierter Ingenieur sei und in der Fotovoltaik-Branche arbeite. Er hatte Führungsverantwortung für eine ganze Abteilung und stellte seinem Unternehmen Tag für Tag Bestleistungen zur Verfügung. Aber auch im privaten Bereich war er hochengagiert. Ehrenamtlich arbeitete er bei der Siedlungsvereinigung, er spielte fast konzertreif Klavier und sorgte liebevoll für seine Familie.
Die Zuhörer in der Runde konnten dem Mann ebenso wie ich selbst vom ersten Moment an viele positive Fähigkeiten attestieren: ein ausgeprägtes Organisationstalent, gelassene Weitsicht, gut entwickeltes Selbstbewusstsein sowie das Talent, seine Bedürfnisse und Interessen zu formulieren. Er konnte vorhandene Probleme benennen und sein analytischer Verstand verschloss sich keinem Denkansatz.
Als er von seiner Arbeit berichtete, war es das Übliche: Ärger, Druck, Stress – von allen Seiten zerrte es an ihm. Der lange Anfahrtsweg, die unflexiblen Arbeitszeiten, die endlosen Sitzungen, all das machte ihm zu schaffen. Sein direkter Vorgesetzter fürchtete ihn als Konkurrenten und machte ihm deshalb das Leben schwer. Auch die räumlichen Verhältnisse waren alles andere als optimal. Das Unternehmen wuchs rasant, platzte aus allen Nähten. Obwohl er schon weit oben in der Hierarchie angekommen war, musste er sich seit ein paar Monaten mit vier anderen Managern ein Büro teilen. In dem ständig unruhigen Umfeld konnte er nicht in Ruhe arbeiten, seine nächtlichen Schlafprobleme verschärften die Situation nur noch. Ganz nebenbei erzählte er auch von seiner Familie, den zwei Kindern und dem neuen Haus. »Eigentlich müsste ich mich mehr um meine Familie kümmern«, sagte er.
Vor einiger Zeit hatte ihn dann ein Warnschuss auf physischer Ebene aufgeschreckt. Er war allein im Auto auf der Autobahn unterwegs, als er beunruhigende Schmerzen in der Brust spürte. Das Herz raste und stolperte. Ein unkontrollierbares Zittern erfasste seinen ganzen Körper und eine rasch einsetzende Atemnot löste in ihm das Gefühl aus, gleich ersticken zu müssen. Glücklicherweise konnte er noch rechtzeitig anhalten. Erst nach etwa 30 Minuten sah er sich in der Lage, ganz langsam weiterzufahren und die Autobahn zu verlassen. Am selben Tag noch ging er zum Arzt und ließ sich gründlich durchchecken, weil er Sorge hatte, einen leichten Herzinfarkt gehabt zu haben. Doch die Untersuchungen endeten ohne Befund. Autobahnen – und nach Möglichkeit auch das Autofahren – meidet er seither.
Trotz allem war die Stelle bei dem Solarenergie-Unternehmen für den Ingenieur immer noch sein Traumjob und er identifizierte sich in hohem Maße mit seinem Betrieb. Aber er litt darunter, dass er unter den gegebenen Bedingungen nicht das leisten konnte, was er leisten wollte.
Damit wäre die Sache eigentlich erledigt gewesen, die Diagnose klar: Die Arbeit frisst ihn auf, der Chef macht ihn fertig, unter diesen Arbeitsbedingungen kann doch kein Mensch vernünftig arbeiten … Doch ich war misstrauisch. Ich sah einen erschöpften Menschen, der aber augenscheinlich noch vollkommen Herr der Situation war. Oder ließ er uns – unbewusst – nicht in seine Karten gucken und verbarg das eigentliche Problem vor sich selbst und uns? Wieso konnte dieser Mann die Bedingungen in seinem Job so unerschütterlich vorbringen, so glasklar analysieren, so distanziert beschreiben?
Ich fragte ihn genauer nach seiner persönlichen Situation, nach seiner Familie.
Da schluckte der gestandene Manager und senkte den Blick. Ich konnte ihm ansehen, dass ich mit dieser Frage plötzlich an seine emotionale Grenze gestoßen war. Die souveräne Gelassenheit des Mannes war mit einem Mal dahin. »Ich denke den ganzen Tag an meine Familie, doch wenn ich nach Hause komme, bin ich wie ausgebrannt. Ich kann gar nicht mehr auf meine Kräfte zugreifen«, entgegnete er mit belegter Stimme, »die waren doch bis dahin so selbstverständlich da!« Sein Hals wurde zunehmend enger, das Sprechen wurde immer mühsamer. Mit tiefen Atemzügen versuchte er, die Kontrolle über seine Stimme zurückzubekommen. Doch es gelang ihm nicht. Er schaute hilfesuchend nach oben, wollte dann mit Gesten an seinen Sitznachbarn weitergeben. Es dauerte eine ganze Weile, bis er stückweise und mit längeren Unterbrechungen erzählen konnte, wie es wirklich um ihn stand: Er, der Top-Performer, lebte mit der ständigen Angst, als fürsorglicher Vater und Ehemann zu versagen und seine Familie zu verlieren: »Das zerreißt mich!« Er war am Ende seiner Kräfte.
Was ist hier eigentlich los?, fragte ich mich. Der Mann macht einen anspruchsvollen Job und verantwortet ein großes Budget – und bricht in Tränen aus, wenn er an Frau und Kinder denkt. Wie ist das zu erklären? Wenn das eigentliche Problem nicht der Job ist, wo verläuft dann die Grenzlinie zwischen denen, die ausbrennen, und denen, die den komplexen Alltag mühelos meistern? Mit anderen Worten: Wer brennt aus und wer nicht?
Sind es die äußeren Umstände?
Es gibt zahlreiche klassische Erklärungsmodelle für Burnout-Störungen. Der bedeutendste Ansatz stammt von Christina Maslach. Hier wird die Verdichtung der Arbeit als Verursacher des Burnout dingfest gemacht. Gemeinsam mit Susan E. Jackson entwickelte Maslach 1981 das »Maslach Burnout Inventory« (MBI), das bis heute gängigste Messinstrument zur Erfassung des Burnout-Syndroms. Mithilfe eines Fragebogens werden dabei drei Dimensionen erfasst: emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit.
Klassisch wird Burnout wie folgt beschrieben: Ein Burnout-Syndrom oder Ausgebranntsein ist ein Zustand ausgesprochener emotionaler Erschöpfung mit reduzierter Leistungsfähigkeit. Es kann als Endzustand einer Entwicklungslinie bezeichnet werden, die mit idealistischer Begeisterung beginnt und über frustrierende Erlebnisse zu Desillusionierung und Apathie, psychosomatischen Erkrankungen und Depression oder Aggressivität und einer erhöhten Suchtgefährdung führt. Burnout gilt demnach nicht als Krankheit mit eindeutigen diagnostischen Kriterien, sondern als eine körperliche, emotionale und geistige Erschöpfung aufgrund beruflicher Überlastung. Also landläufig: Stress, der nicht bewältigt werden kann.
Auslöser für Burnout ist für die Fachwelt demnach die veränderte Arbeitswelt, immer stressiger werdende Jobs mit immer weiter steigenden Belastungen.
Ein anderer oft gehörter Ansatz beschäftigt sich mit den immer unrealistischer werdenden Zeitplänen, die das Berufsleben den Menschen aufzwingt. Zeitnot – Zeitmanagement! Diese Saat fällt bei Burnout-Gefährdeten auf fruchtbaren Boden! Wenn diese Menschen etwas besser machen können, wollen sie das auch. Bei allen ist die Lust da, etwas gut zu machen. Ausbrenner sind leistungsbereit und engagiert. Ich will nicht sagen ehrgeizig, denn Ehrgeiz klingt immer auch nach einer gewissen Skrupellosigkeit, und das passt zu diesen Menschen überhaupt nicht. Die potenziellen Burnout-Kandidaten zeichnet vielmehr ein ausgeprägter Werkstolz aus. Für sie ist wichtig: »Was ich mache, mache ich gut!«
Sie bringen sich mit ihrer ganzen Person ein, mit Verstand, Herz und Hand. Sie können sich emotional nicht distanzieren von dem, was sie machen, können ihren Werkstolz nicht einfach abschalten. Deshalb helfen ihnen auch keine Ratschläge nach dem Schema: »Lass mal fünfe gerade sein und tritt mal etwas kürzer!« Das macht für einen typischen Ausbrenner überhaupt keinen Sinn.
Stattdessen fallen sie auf das fragwürdige Versprechen des Zeitmanagements herein, dass mehr (Frei-)Zeit entsteht, wenn sie ihre Aufgaben effizienter erledigen und somit weniger Zeit dafür benötigen. Doch das ist bekanntermaßen ein Trugschluss: Zum einen endet der Arbeitstag mit Einführung einer effizienteren Methode nicht einfach eine Stunde früher, sondern in die freigeschaufelte Stunde werden neue Aufgaben gepackt. Das heißt, die Arbeit verdichtet sich, damit sie mehr werden kann. Und wer seine Arbeit dichter packt, dem fehlen die wichtigen »Schlendrianpausen«: der Plausch mit der Kollegin am Kopierer, der Zwischenstopp in der Teeküche, der Mittagsbummel um den Block, die Blumen-Gieß-Pause.
Effizienzsteigerung macht Spaß und spornt an. Ich kenne das selbst und teilweise schon im ganz Kleinen. Wenn ich für die ganze Familie Erbsen pule, schiebe ich die Schüsseln so lange hin und her, bis ich alle Handgriffe möglichst wirkungsvoll und energiesparend ausführen kann. Diese Zeitersparnis ist toll, doch gleichzeitig droht hier die Verführung: Weil ich es so schnell kann, will ich es auch jetzt immer so schnell schaffen. Und weil ich es heute so schnell geschafft habe, schaffe ich es morgen noch schneller. Dieses Bedürfnis, die eigene Leistung immer weiter zu verbessern, ständig zu optimieren, ist meinen Seminarteilnehmern sehr vertraut.
Ausbrenner sind leistungsbewusst und wollen mehr leisten, wenn sie können. Das macht ihnen...