Die Saga vom freien Jäger
zum gebundenen Bauern
Gegen Ende der letzten Eiszeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die Jäger und Sammler in Eurasien. Jahrtausendelang hatten sie Mammuts, Wisente, Hirsche, Wildpferde und andere Großtiere gejagt. Doch nach und nach wurden diese immer seltener. Die Verbesserung der Jagdtechnik konnte lange den Niedergang des Wildes ausgleichen. Mit Pfeilspitzen aus Obsidian und mit Speeren, die von Wurfschlingen wuchtig und treffsicher geschleudert wurden, gelang es, auch scheuere oder große Beute zu erlegen. Da und dort boten sich natürliche Engpässe an, durch die das Wild kommen musste, wenn es im Frühjahr auf die schneefrei werdenden Flächen hinaus- und im Herbst davon wieder zurückzog. Aber die verstärkte Bejagung beschleunigte den Rückgang der Wildbestände. Fleisch, von dem sich die Menschen bisher weitgehend ernährt hatten, wurde bald zur raren Köstlichkeit. Es galt, auf Pflanzenkost auszuweichen. Doch abgesehen von den bisher schon genutzten Pflanzen war kein Ersatz in Sicht. Von den Gräsern und Kräutern, die von den Großtieren beweidet wurden, konnten Menschen nicht leben: von Rentierflechten ebenso wenig wie von der Rinde des weitverbreiteten Weidengebüsches. Im sommerfeuchten, im Winter aber tief gefrorenen Boden gab es außer Zwiebeln, die entweder giftig oder nur als Zusatzkost geeignet waren, keine verwertbaren Knollenfrüchte. Auch Pilze und Beeren boten keinen wirklichen Ersatz für das Wildfleisch. Pilze ließen sich getrocknet den Winter über aufbewahren. Ihr Nährwert ist allerdings gering. Die beginnende Erwärmung zwang deshalb die Eiszeitmenschen immer weiter nach Süden in Regionen, in denen im Sommer recht dürftig anzuschauende Gräser aufwuchsen. An diesen entwickelten sich Körner. Vögel kamen zu Beginn der Reife von weit her geflogen, um sie zu verzehren. Die hungernden Menschen taten es ihnen gleich. Hand für Hand, Stunde um Stunde, tagelang sammelten sie die Körner und zerkauten sie zu einem Brei, der im Mund süßlich zu schmecken anfing und offenbar bekömmlich war. Sie merkten mit der Zeit, dass sich reife, hart gewordene Körner längere Zeit aufbewahren lassen. Man konnte sie als Vorrat für kommende, noch schlechtere Zeiten zurücklegen. Kritisch wurde vor allem das Frühjahr, wenn das ohnehin spärliche, getrocknet gelagert Fleisch aufgezehrt war. Dann war man froh um die Körner. Einige davon blieben übrig, keimten an den Stätten aus, an denen die Menschen überwintert hatten, und entwickelten dort neue Grasbestände, an denen im Sommer oder Frühherbst wieder reife Körner abgesammelt werden konnten. Dieses Sammeln, Bevorraten und Wiederaufwachsen neuer Saat verdichtete sich zu Kenntnissen. Diese reiften zu Einsichten in den zugrunde liegenden Vorgang. Beiläufiges und Zufälliges wandelte sich zur Regelmäßigkeit. Anfänglich bloß weggeworfene Reste wurden zu Saatgut; das Einsammeln der gereiften Körner zur Ernte.
Sicher zeigte sich bald, dass solche Flächen am ertragreichsten wurden, die vor der Aussaat von störendem, die keimenden Pflänzchen behinderndem Wuchs gesäubert worden waren. Reinbestände brachten mehr ein als vereinzelte Ähren in pflanzlichem Mischmasch aus Wildgetreide-Gräsern und anderer Vegetation. Auch waren die Ähren leichter zu sammeln, wenn nicht jede für sich gesucht werden musste. Doch wo das Eingesparte und Nichtverzehrte an Körnern im nächsten Frühjahr ausgesät wurde, dorthin kamen auch die Vögel und bedienten sich, als ob für sie Futter ausgeworfen worden wäre. Sie wurden nun zu Feinden der neuen Ernte. Und wenn die Körner in den Ähren zu reifen begannen, kamen noch mehr Vögel angeflogen. Ihre Schwärme vergrößerten sich mit dem Umfang der zu erwartenden Ernte. In der Zeit zwischen Aussaat und Ernte interessierten sich auch andere Tiere für solche ersten Kulturen. Gazellen kamen, die gerne gejagt wurden, die aber scheu und selten geworden waren. Das neue, schmackhafte Grün zog sie stärker an als das bei den dürren Gräsern der Waldsteppen an den sonnenseitigen Berghängen der Fall war. Wildziegen und Wildschafe weideten dort gern, wohin die Gazellenherden nicht wanderten. Auch diese Grasfresser kannten und schätzten sehr wohl die Qualität der Wildgräser. Auf den neuen Fluren wuchs bestes Futter. Das führte sie in die Falle. Denn in nächster Nähe lauerten gut versteckt Menschen, um ihre Felder zu bewachen und die unerwünschten Gäste fortzujagen oder zu erbeuten. Die neue Vorgehensweise brachte doppelten Ertrag. Die junge Saat, das keimende, heranwachsende Wildgetreide, lockte die Ziegen und Schafe herbei. Das reife Korn aber würde später den Menschen helfen, über die Hungerzeit zu kommen. Einzige Bedingung: Man musste an Ort und Stelle bleiben. Wer jedoch von der Jagd alleine lebte, konnte nicht länger an einem Ort bleiben, denn das vorhandene Wild war schnell dezimiert. Die Jäger mussten dem Wild folgen. Nun aber kam es ganz von selbst herbei. Es konnte direkt gejagt und erlegt, mit etwas Glück und Können auch gefangen werden. Denn in der Zeit der besonders schmackhaften Jungsaat zogen insbesondere die Muttertiere mit ihren Kitzen, Zicklein oder Lämmchen zum frischen Grün. Gelang es den Menschen, die Mütter zu erlegen, blieben die Jungen ganz von selbst. Sie wurden leichte Beute. Waren sie schon groß genug, um sich vom Gras der Umgebung zu ernähren, konnte man sie in Umzäunungen einsperren und später, bei Bedarf, töten. Während ihnen die Menschen Schutz boten, wurden die heranwachsenden Ziegen oder Schafe zutraulicher. Die Haustierwerdung konnte beginnen. Da die Menschen nur an den Körnern, nicht aber an den Wildgräsern selbst interessiert waren, kam eine Verwertungsgemeinschaft zustande, die einander ergänzte. Wer Jungtiere aufzog und in Gefangenschaft hielt, bemerkte sicherlich, dass nach der Fülle des Sommers das Futter immer knapper wurde. Im Nahbereich der kleinen Niederlassung war bald alles abgeweidet. Entweder mussten die Tiere nun geschlachtet oder an andere, noch nicht übernutzte Stellen gebracht werden. So begann das Wanderhirtentum.
Begünstigt wurde es von einer biologischen Eigenart der Tiere, die »Prägung« genannt wird. Die Jungtiere prägen sich in den ersten Lebenswochen das Aussehen desjenigen Lebewesens ein und folgen diesem nach, bei dem sie aufwachsen. Wie klein sie sein müssen, um auf den Menschen geprägt zu werden, hängt von den einzelnen Arten ab und auch von der Möglichkeit, die Jungtiere mit Milch versorgen zu können. Gefangene Muttertiere geben Milch. So lange wenigstens, wie sie das in Freiheit auch tun würden, wenn sie Nachwuchs führen. Muttertiere versuchen oft auch, zu ihren Jungen zu kommen, wenn diese in eine ausweglose Situation geraten sind. Gefangene Jungtiere befinden sich in so einer Lage. Die zunächst flüchtige Mutter lässt sich von den Klagelauten ihres Kindes zurücklocken – und gefangen nehmen. Leben solche Tiere von Natur aus in Gruppen, etwa in Familienverbänden oder in Herden, geht es viel leichter, sie an Menschen als Ersatzgruppe zu gewöhnen als bei Einzelgängern. Nur wenige Tiere passender Größe und Ernährungsweise eignen sich daher ihrer Natur nach für das Zusammenleben mit den Menschen. Sie dürfen körperlich nicht zu groß sein und zu gefährlich werden. Sie sollten aber groß genug sein, um zu lohnen. Zumindest für die Anfänge scheiden solche Tiere aus, die zu schnell zu groß werden. Denn selbst wenn sie bei ihrem Heranwachsen die Menschen nicht direkt bedrohen, brauchen sie in ihren Gehegen zu viel Nahrung.
Ziegen und Schafe haben zweifellos eine günstige Körpergröße. Schon größere Kinder, gewiss aber heranwachsende Jugendliche können mit ihnen zurechtkommen. Bei Rindern geht das nicht so leicht; bei Pferden noch weniger, denn sie können mit ihren ausschlagenden Hufen auch lebensgefährlich sein, wenn man sich von hinten nähert. Tieren, die Geweihe oder Hörner tragen, kann man eher ausweichen. Die weiblichen Hornträger sind in aller Regel von Natur aus friedlicher als die männlichen. Große Tiere lassen sich auch nicht mehr so leicht schlachten; zu kleine sind schwierig unter Kontrolle zu halten, weil sie aus einfachen Gehegen durch Spalten und Lücken entweichen. Für diese einfache Form von Haltung passende Tiere gibt es nicht überall. Aber es kommen Arten genügend vor, die grundsätzlich dafür in Frage kämen. Besonders günstig sollten solche (gewesen) sein, die gleich mehrere Junge pro Wurf gebären und nicht nur eines. Werden die Jungen bis auf eines weggenommen, bleibt noch Milch übrig. Die Menschen können diese nutzen. Das Grundproblem bleibt jedoch in jedem Fall die Ernährung. Nur solche Tiere kommen als Haustiere in Frage, die von den Menschen auch versorgt werden können. Am leichtesten geht dies mit Tieren, die von dem leben, was die Menschen selbst nicht nutzen können oder von ihrer Nahrung übrig lassen. Ganz von selbst kommen wir auf diesem Weg der Betrachtung zu den Ergebnissen, die wir kennen. Ganz bestimmte Arten von Säugetieren, wie Ziegen und Schafe, kleine Rinder und Schweine sowie einige wenige Vögel erfüllen diese Anforderungen und sind Haustiere geworden. Auch wenn man sich scheinbar von einer anderen Seite dem Problem der Domestikation nähert und wie Jared Diamond (1998) die Frage stellt, welche Arten von Säugetieren passender Größe denn in den verschiedenen Regionen der Erde von Natur aus vorhanden waren, die sich für die Haustierwerdung geeignet hätten, kommt dasselbe Ergebnis zustande. Es muss auch zustande kommen, weil wir diese und nicht anders geartete Haustiere vorfinden. Das vorhandene Ergebnis diktiert die Begründung. Wirkliche Alternativen scheint es nicht gegeben zu haben. Vielleicht gab es sie, aber...