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Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben

Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit

AutorKristen R. Ghodsee
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783518763728
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR

Im August 2017 sorgte ein Beitrag von Kristen R. Ghodsee in der New York Times für Furore. Der Titel: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex hatten. Bei »Sozialismus« mögen viele an alte Männer in grauen Anzügen denken. Tatsächlich aber garantierten zahlreiche sozialistische Länder ihren Bürgerinnen durch die Integration in den Arbeitsmarkt, Lohngleichheit und eine aktive Sozial- und Familienpolitik ein hohes Maß an ökonomischer Unabhängigkeit. Das erlaubte vielen Frauen, ihre Partner nicht nur unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Absicherung, sondern eben auch unter dem der individuellen Entfaltung zu wählen.

Dreißig Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus blickt die Historikerin und Ethnografin zurück und untersucht die Auswirkungen der kapitalistischen Transformation auf die Leben von Frauen. Die Lasten einer unregulierten Wirtschaft, so das Ergebnis ihres Essays, den sie nun erweitert als Buch vorlegt, tragen vor allem Frauen. Und sie sind es, die durch eine gerechtere Gesellschaft am meisten zu gewinnen haben.



<p>Kristen R. Ghodsee, geboren 1970, ist Professorin f&uuml;r Russische und Osteurop&auml;ische Studien an der University of Pennsylvania. Sie schreibt unter anderem f&uuml;r The New York Times, Washington Post und The New Republic. 2019 erschien <em>Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben</em>. Das Buch wurde in vierzehn Sprachen &uuml;bersetzt. Zuletzt wurde im Suhrkamp Verlag<em> Utopien f&uuml;r den Alltag. Eine kurze Geschichte radikaler Alternativen zum Patriarchat </em>(2023) ver&ouml;ffentlicht.</p>

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Leseprobe

Vorwort zur deutschen Ausgabe


Meine Erinnerungen lassen sich im Wesentlichen in vier Kategorien einteilen. Der erste Typ Erinnerungen ist historisch: eine lineare Abfolge bestimmter Ereignisse. Die Autofahrt von Sofia nach Zagreb 2009, um ein U2-Konzert zu besuchen, oder die Reise von Boston über Amsterdam und Nairobi nach Lusaka, um eine verehrte Stammesführerin zu interviewen. Andere sind intellektueller Natur: Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich etwas über Hegels Dialektik oder die kulturelle Vielfalt von Verwandtschaftsmustern lernte. Der dritte Typ von Erinnerungen sind Sinneseindrücke: der Klang von Rachmaninows »Vocalise«, der Anblick der aufgehenden Sonne in Japan, der Geruch von Gardenien im Frühling oder der Geschmack von frischer Wassermelone mit salzigem weißen bulgarischen Käse. Die letzte – und eindringlichste – Kategorie umfasst emotionale Erinnerungen. Was diesen an Detailliertheit mangelt, machen sie mit ihrer Intensität wett. Es ist eine solche emotionale Erinnerung, die ich an den Abend des 30. Juni 1990 auf dem Alexanderplatz habe.

Elena Lagadinowa (rechts, mit Angela Davis) (1930-2017): Die jüngste Partisanin, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die mit den Nationalsozialisten verbündete bulgarische Monarchie kämpfte. Bevor sie Vorsitzende des Komitees der bulgarischen Frauenbewegung wurde, machte sie einen Doktor in Agrarbiologie und arbeitete als Forschungsassistentin. Lagadinowa stand an der Spitze der bulgarischen Delegation auf der ersten UN-Weltfrauenkonferenz 1975. Da freie Märkte zur Diskriminierung jener führen, die Kinder austragen, so Lagadinowas Überzeugung, können Frauen in ihrer Doppelrolle als Arbeiterinnen und Mütter nur durch staatliche Eingriffe unterstützt werden.
(Mit freundlicher Genehmigung von Elena Lagadinowa.)

Mein erster Aufenthalt in Deutschland führte mich in ein Land, das es nicht mehr gibt. Ich hatte den Sommer 1990 damit verbracht, als Rucksacktouristin durch Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien, Ungarn und die Tschechoslowakei zu reisen. Beim Grenzübertritt in die DDR ließen mich die Grenzbeamten erst passieren, nachdem ich einen bestimmten Betrag Dollar in Ostmark umgetauscht hatte – dabei sollte diese Währung in weniger als einer Woche Geschichte sein. Und als Amerikanerin hatte ich keinen Anspruch darauf, Ostmark am 1. Juli in D-Mark zu wechseln. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie auszugeben, und das tat ich, indem ich allerhand Deutschen, die ich nie zuvor gesehen hatte, Getränke spendierte.

An den Namen des Lokals kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es war randvoll mit Menschen, die den bevorstehenden Umtausch ihrer Ostmarkscheine in eine harte Währung feierten. Es waren überwiegend junge Leute, und das Zechgelage dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Ich erinnere mich, wie ich nach zahllosen Gesprächen mit Fremden und viel zu vielen Bieren das Gefühl hatte, ich surfe auf der Welle der Geschichte und werde Zeugin eines bedeutenden Einschnitts. In mein emotionales Gedächtnis brannten sich die Hoffnung, die Freude und die Ungläubigkeit über die unendlichen Möglichkeiten ein, die mit der neuen Freiheit verbunden waren. Als jemand, der den Großteil seiner Teenagerjahre in großer Angst vor dem drohenden Inferno eines Atomkrieges verbracht hatte, wurde ich in jener Nacht auf dem Alexanderplatz mit einem alles durchdringenden Optimismus angesichts der Geburt einer neuen Welt angesteckt.

Nach jenem ersten Aufenthalt fand Deutschland immer wieder Wege, mich zurückzulocken. Nach Kurzbesuchen in einem Berlin voller Kräne 1995, 2000 und 2005 zog ich 2008 nach Rostock, wo ich am Max-Planck-Institut für demografische Forschung ein Aufenthaltsstipendium erhalten hatte. Fast 18 Jahre nach jener wunderbaren Nacht unter dem Berliner Fernsehturm erlebte ich, dass sich die mit der Wiedervereinigung verknüpften Hoffnungen für viele Ostdeutsche nicht erfüllt hatten. Als ich im Sommer 2009 einen weiteren Monat in Rostock verbrachte, wuchs meine Neugier hinsichtlich der gesellschaftlichen Auswirkungen auf einfache Männer und Frauen im Osten. Da ich seit 1997 die Folgen der »Wende« in Bulgarien erforschte, war ich mit den Hoffnungen, die die Menschen in Demokratisierung, Kapitalismus und freie Märkte gesetzt hatten und die nunmehr enttäuscht worden waren, bestens vertraut. Zwar wünschte sich niemand den Autoritarismus zurück, doch viele litten noch immer unter den Folgen der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen und ärgerten sich über die Weigerung im Westen, dieses Leid zur Kenntnis zu nehmen.

Im August 2014 nahm ich ein weiteres Aufenthaltsstipendium an, dieses Mal am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), und streifte anlässlich der Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls durch die Straßen von Berlin. Doch das Narrativ von der geglückten Wiedervereinigung – samt prächtigem Feuerwerk über dem Brandenburger Tor und der »Ode an die Freude« aus Beethovens 9. Sinfonie, dirigiert von Daniel Barenboim – blendete die Schwierigkeiten, mit denen viele Männer und Frauen nach wie vor zu kämpfen hatten, die mir im ehemaligen Osten begegnet waren, völlig aus. Wenige Stunden zuvor war ich an der großen Gegendemonstration vor dem Reichstag vorbeigekommen und hatte einen Mann mittleren Alters gesehen, der ein Plakat mit der Aufschrift: »Gestern = SED-Opfer Heute = Merkel-Opfer« hochhielt. Während des Jahres, das ich in Freiburg im Breisgau verbrachte, musste ich angesichts des Aufstiegs von Pegida und der wachsenden Popularität der Alternative für Deutschland, insbesondere im ehemaligen Osten, immer wieder an dieses Plakat denken. Im Dezember 2015 zog ich nach Jena, vertiefte mich fünf weitere Monate in die deutsche Politik und versuchte zu verstehen, was zwischen dem Jubel auf dem Alexanderplatz am 30. Juni 1990 und dem Fackelmarsch von Rechtsextremen im Zentrum von Jena, dessen Zeugin ich am 20. April 2016 wurde, eigentlich geschehen war.

Da in diesem Jahr der 30. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert wird, scheint es mir angebracht, uns über die Geschichte der letzten drei Dekaden Gedanken zu machen. Ich weiß, dass viele Deutsche beim Wort »Sozialismus« an den blassen, weißhaarigen Erich Honecker denken, wie er vor grauen, bröckelnden Fassaden veralteter Fabriken steht, in denen minderwertige Produkte hergestellt werden, die niemand kaufen will. »Sozialismus« ist im besten Fall fade und langweilig, im schlimmsten Fall mörderisch und grausam.

Und doch sind mit der Abkehr vom Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts Probleme wie die Instabilität und Ungleichheit, die der freie Markt in Europa hervorgebracht hat, keineswegs gelöst, und die Reallöhne der meisten deutschen Arbeiter sind seit Anfang der neunziger Jahre kaum gestiegen. Ein entfesselter Kapitalismus hat neue Monopole wie Google und Amazon hervorgebracht und uns den Aufstieg von Geschäftsmodellen beschert, die auf befristeten und prekären Arbeitsverhältnissen beruhen. Zudem steuert Deutschland wie alle Industrienationen mit großer Geschwindigkeit auf eine neue Welt zu, in der Kohlendioxid produzierende Arbeiter von Algorithmen und Androiden verdrängt werden, während gleichzeitig der menschengemachte Klimawandel unseren Planeten zu einem immer unwirtlicheren Ort werden lässt. Der Kapitalismus hat der zersetzenden Kraft der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus oder des Sexismus nichts entgegenzusetzen. Auch in Deutschland steht eine Frau, die sich ein Kind wünscht, trotz Elterngeld und garantiertem Kitaplatz vor einem ganzen Berg von Schwierigkeiten. Gesellschaftliche und kulturelle Erwartungen schränken Mütter in ihren beruflichen Möglichkeiten ein, und auf umkämpften Arbeitsmärkten werden Frauen mit familiären Verpflichtungen diskriminiert – mit der Folge, dass sie wirtschaftlich zu oft von Männern abhängig sind.

Da das 21. Jahrhundert so viele neue Herausforderungen bereithält – politisch, persönlich, wirtschaftlich und ökologisch –, ist es meiner Meinung nach an der Zeit, die Geschichte des Staatssozialismus im 20. Jahrhundert neu aufzurollen und uns mit Aspekten zu beschäftigen, die in der Vergangenheit geschmäht, ignoriert oder schlicht vergessen wurden. Vermutlich sind die potenziellen Lektionen eines solchen Unterfangens vielfältig; mich interessiert am meisten, was wir darüber lernen können, wie es in Gesellschaften, in denen emotionaler Gewinn und...

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