2. Was heißt hier ‹Christ›?
«Wenn man’s so hört,
möcht’s leidlich scheinen,
Steht aber doch immer schief darum;
Denn du hast kein Christentum.»
Margarete zu Faust, Goethe, Faust I,
Marthens Garten, Vers 346ff.
Wer sagt, er sei kein Christ, muß wohl hinzusagen, was er unter ‹Christsein› versteht. Das ist gar nicht so leicht. Denn es gibt nicht das Christentum, sondern Christentümer. Zum Glück brauche ich nicht zu entscheiden, wer das Recht hat, sich ‹Christ› zu nennen. Der Titel scheint begehrt und sein Besitz umstritten zu sein. Ich möchte nur sagen, in welchem Sinn von Christsein ich keiner bin.
Das Wort ‹Christ› läßt sich verschieden auslegen. Mancher Mann gilt schon als ‹Christ›, weil er keine Schecks fälscht und seine Frau nicht schlägt. Andere verstehen unter einem ‹Christen› einen Menschen, der sich um seine Nächsten sorgt. Das ist schon besser, reicht aber nicht. Es gibt eine Palette von weiterführenden Bestimmungen, ich gehe von der einfachen zur vollständigeren.
Mancher nennt sich ‹Christ› und verbindet damit die Minimalvorstellung, Gott meine es gut mit ihm oder überhaupt mit den Menschen. Frage ich ihn, was das mit Christus zu tun habe, fügt er vielleicht hinzu, Christus habe die Botschaft gebracht, daß Gott nicht zornig sei und keine blutigen Opfer verlange; Gott sei gütig, sogar die Liebe selbst. Ein Christ wäre demnach ein metaphysischer Optimist; sein Glaube bestünde darin, daß er auf die Güte Gottes baut.
Ein zweiter Typus von Christ vertraut auf Gott und erhofft nach dem Tod ein besseres Leben in einer gerechteren Welt. Er fügt seinem Glauben die Jenseitshoffnung hinzu und das Motiv der Gerechtigkeit, wenn nicht für dieses Leben, dann doch fürs Jenseits. Auf Befragen antwortet er vielleicht, er nenne sich ‹Christ›, denn Christus habe ihm den Zugang zu Gott eröffnet.
In dritter Version sagt ein Christ: Er glaube der Bibel. Er nehme an, Gott habe die Welt erschaffen. Vielleicht nicht in sechs Tagen, aber immerhin habe er dem Menschen eine hohe Stelle zugedacht. Er behaupte nicht, die Geschichten von Adam und Eva erzählten den faktischen Anfang der Menschheitsgeschichte; er verstehe sie ‹bildlich›. Er wisse nicht, ob die Menschheit von einem einzigen Paar abstamme. Fragt man, was diese Ansicht mit Christus zu tun hat, dann antwortet er vielleicht, Christus habe dies bestätigt und uns gelehrt, zum Schöpfergott ‹Vater› zu sagen. Ihm verdankten wir ein vertrautes, ein vertrauliches Verhältnis zum Schöpfer.
Eine vierte, nun schon sehr besondere Gruppe gibt Gründe an, warum sie mit Recht glaube. Sie verteidigt ihre Orthodoxie, ihre Rechtgläubigkeit. Heute sagt sie es nicht mehr so laut, aber sie denkt, Muslime glaubten leichtfertig, Christen glaubten mit guten Gründen. Für die Glaubwürdigkeit dieses christlichen Glaubens weiß sie sich im Besitz sicherer philosophischer und historischer Beweise. Diese dienten als rationale Hinführung zum Glauben. Sie nennt sie praeambula fidei. Darunter versteht sie zwei Gruppen von Beweisen, die das Christentum glaubwürdig machten: Die erste Gruppe bildeten die philosophischen Argumente, mit denen die natürliche, allgemeinmenschliche Vernunft beweise, daß Gott ist und daß die Seele den Tod übersteht. Die zweite Gruppe beweise historisch, daß Gott sich de facto in Christus offenbart hat.
Nicht nur Katholiken stützten den christlichen Glauben durch philosophische Argumente für Theismus und Seelenunsterblichkeit. Das taten auch Muslime, sobald sie mit der griechischen Philosophie vertraut wurden. Auch Protestanten betrieben bis etwa 1800 ‹natürliche Theologie›, die sich auf rationale Einsichten berief. Ich erinnere nur an Leibniz, gestorben 1716. Auch Kant brach nicht in letzter Konsequenz mit dieser Tradition. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie zunehmend zum Sondergut der römischen Katholiken. Das Erste Vatikanische Konzil behauptete sie als verbindliche christliche Lehre und dekretierte, die rechte Vernunft beweise die Grundlagen des Glaubens, cum recta ratio fidei fundamenta demonstret.[1] Diese Position stützte sich sowohl auf Philosophie wie auf Geschichtsforschung. Sie rechtfertigte den Glauben mit philosophischen und historischen Argumenten.
Die fünfte Ansicht ist der soeben genannten entgegengesetzt. Diese Christenart verlangt für ihren Glauben keine Beweise; sie beruft sich auf ihr Herz und ihr Gefühl. Sie nimmt an, es gebe keine sicheren Beweise zugunsten der Glaubensentscheidung, der Christ wage den Sprung des Glaubens.
Diese Theorie entstand als Ablehnung der Religionsphilosophie des deutschen Idealismus und verbreitete sich im Lauf des 20. Jahrhunderts besonders unter protestantischen Theologen. Der Gott der Philosophen war bei ihnen in Verruf geraten; die Metaphysik der unsterblichen Seele galt als überholt; sie haben im November 1918 mit Wilhelm II. ihren Pontifex maximus verloren, sie lernten in der Not beten und suchten ihre Zuflucht jetzt mehr beim stärkeren Arm des himmlischen Herrn. Diese Glaubensgruppe beruft sich gern auf Pascal und Kierkegaard, sie hält sich für die gegenwartsgeeignetere, die fortgeschrittene Version; sie nimmt ihre Verlegenheit zum Anlaß, sich des großherzigen Verzichts auf Metaphysik und Polizei zu rühmen. Die vierte Christensorte strotzte vor Erkenntniszuversicht in Sachen der philosophischen Theologie und überforderte die Geschichtsforschung, von der sie den Beweis für ‹Glaubenstatsachen› verlangte; sie unterschied Glauben und Glaubwürdigkeit und konstruierte diese rationalistisch als die rationale Vorbereitung des Glaubens. Ganz anders die fünfte Variante. Sie verhält sich skeptisch zur philosophischen Gotteserkenntnis und zur Metaphysik der Seele; sie setzt auf den Glauben als Sprung. Sie deutet ‹Glauben› als persönliche Beziehung, als Vertrauen auf Gott, nicht als gehorsame Zustimmung zu einer Gruppe von Sätzen, die von der Kirche vorgelegt wird. Sie versteht sich als vernunft- und kulturkritisch. Während die Christen der vierten Variante darauf bestanden, daß ihre Botschaften historische Tatsachen mitteilen, nimmt die fünfte Konzeption die Glaubensbotschaften vorwiegend bildlich, gerät aber in die Schwierigkeit, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen zwischen dem, was sie bildlich versteht und dem, was faktisch, historisch real sein soll. Und so erzeugt sie in ihren Reihen eine Protestgruppe, die zur buchstäblichen Auslegung, also zu einer ‹Theologie der Tatsachen› zurückwill. Jetzt muß das Grab Jesu wieder leer sein.
So geht es mit der Frage der Metaphorik oder Allegorie mehrfach hin und her. Man entgeht ihr nicht. Ganz ohne metaphorische Deutung kommt kein Bibelleser aus. Dafür gibt es zwei schöne Beweise:
Erstens: Jesus nennt in Lukas 13,32 Herodes einen ‹Fuchs›. Muß der Christ nun glauben, der Gottessohn habe in diesem Augenblick den König in einen Fuchs verwandelt? Oder hat er eine Metapher gebraucht und nur gemeint, Herodes sei schlau wie ein Fuchs? Aber wenn Jesus beim Letzten Abendmahl vom Brot sagt: «Das ist mein Leib», dann lehren Thomas von Aquino und Luther, das Brot sei nicht mehr vorhanden oder nur zum Schein da, Jesus habe inzwischen das Brot in seinen Leib verwandelt. Warum beim Fuchs bildlich, beim Brot buchstäblich? Wo und warum gerade dort liegt die Grenze der metaphorischen Auslegung? Der einfache Glaube kann das offenlassen, aber Theologie, die als Wissenschaft auftreten wollte, konnte das nicht und schuf endlose Konflikte. Sie wird weder friedlicher noch klarer, wenn sie sich verbindet mit sozialethischen oder ‹spirituellen› Motiven.
Das zweite Argument ergeben die sechs Tage, in denen nach dem ersten Buch der Bibel Gott die Welt erschaffen haben soll. Ein gegenwärtiger Religionsverteidiger nennt jeden einen ‹Fundamentalisten›, der die sechs Tage wörtlich nimmt. Aber die Bibel selbst präsentiert sie wörtlich; sie gibt in keiner Weise zu verstehen, daß diese Darstellung dem Wirken Gottes nicht angemessen ist. Aber schon in der Antike haben Juden und Christen den philosophischen Gottesbegriff dagegen geltend gemacht und die sechs Tage ‹symbolisch› genommen. Ihr Gott war zeitlos; sein Wirken zählte nicht nach Tagen. In diesem Fall wurde die Bibel so früh allegorisiert, daß der buchstäbliche Sechs-Tage-Glaube heute als Kennzeichen des ‹biblischen Fundamentalismus› durchgeht.
Ich bin in keiner der charakterisierten Bedeutungen Christ. Am wenigsten harmoniere ich mit Mischungen dieser Versionen, die im deutschsprachigen Raum – außer in strengnormierten Zirkeln – das Normale geworden zu sein scheint.
Ich nehme also das Christentum nicht als Einheit, sondern differenziere. Vielleicht veranlasse ich den einen oder anderen christlichen Leser zu der Frage, zu welcher dieser Varianten er tendiert. Er könnte damit seinen Ideenhaushalt schon ein wenig aufräumen. Indem ich sage, ich teile keine dieser fünf Versionen, behaupte ich nicht, sie seien Unsinn. Ich nenne keine von ihnen ‹Unsinn›, ich mache nur von keiner dieser Hypothesen Gebrauch. Meine Position ist konsequent agnostisch, nicht atheistisch. Denn ein Atheist traut sich zu, er könne beweisen, daß kein Gott sei. So zuversichtlich bin ich nicht.
Daher bin ich auch nicht verpflichtet, an die Stelle des christlichen Glaubens etwas Besseres zu setzen. Wenn ich sage, daß ich kein Christ bin, werde ich oft gefragt, ob ich etwa...