1.1 Wahrnehmung – Warum ist alles so laut?
„Eine Überempfindlichkeit ist einfach auf allen Gebieten da. Ich kann ein wenig zu viel hören und zu viel sehen, aber die Sinnesorgane sind o. k. Einfach innen geht alles durcheinander. [...] Die Lautstärke und das Durcheinander sind einfach unzumutbar.“
Birger Sellin
Autistische Störungen äußern sich, wie du im Kapitel „Autismus“ lesen kannst, sehr unterschiedlich. Es gibt Betroffene, die geistig behindert sind und nie alleine leben können. Und es gibt andere, die auf ihre Umgebung, auf Freunde und Familie vielleicht „merkwürdig“ oder „still“ wirken. Aber sie besuchen wie alle anderen Kinder auch eine normale Schule, studieren oder machen eine Ausbildung. Trotz dieser Unterschiede haben alle Autisten einen Gemeinsamkeit: eine besondere Wahrnehmung der Welt, wie zum Beispiel Birger Sellin sie im obigen Zitat beschreibt. Autisten scheinen die Welt anders wahrzunehmen als Nichtautisten. Genauer gesagt läuft bei Menschen mit Autismus vermutlich die „Reizverarbeitung“ ein bisschen anders ab, also das „Sortieren“ von dem, was täglich auf das Gehirn einwirkt. Von Musik bis zum Signal „Ich habe Bauchschmerzen“.
Was ist eigentlich „Wahrnehmung“? Wahrnehmung setzt sich aus verschiedenen Sinnen zusammen: Sehen, Riechen, Hören, Schmecken und Tasten beziehungsweise Fühlen. Für jeden Sinn ist ein Organ zuständig – die Augen fürs Sehen, die Nase fürs Riechen, die Haut fürs Tasten. Fürs Schmecken ist der Mund beziehungsweise die Zunge zuständig, und die Ohren regeln gleichzeitig das Hören sowie den Gleichgewichtssinn.
Bei manchen Menschen funktioniert eines der Organe nicht richtig oder gar mehrere. Dann sind sie blind oder taub und ihre Wahrnehmung ist verändert. Die Wahrnehmung kann aber auch dann anders funktionieren, wenn alle Organe vollkommen gesund sind. Denn zur Wahrnehmung gehört nicht nur, dass man einen Reiz spürt, etwa einen Geschmack oder eine Berührung, sondern der Reiz muss auch ins Gehirn geleitet und dort richtig verarbeitet werden. Genau hier liegt vermutlich ein Problem beim Autismus.
Normalerweise werden Reize im Gehirn „gefiltert“. Nicht alles von dem, was um einen herum vorgeht, nimmt man tatsächlich bewusst wahr. Bewusst bedeutet in etwa, von der Wahrnehmung wissen und darüber reden können. Vielleicht kennst du aus dem Chemie-, Biologie- oder Physikunterricht eine semipermeable Membran, durch die nur bestimmte Stoffe hindurchkommen, andere dagegen nicht. So ungefähr funktioniert der Hirnfilter auch – ein Teil der Wahrnehmung wird durchgelassen und wird „bewusst“. Der Rest muss „draußen bleiben“; man sagt, er bleibt „unbewusst“.
Auch die Feststellung des Gehirns „Hier kommt was“ macht die Wahrnehmung noch nicht vollständig. Der Reiz muss zudem in einen Zusammenhang gebracht wird. Zum Beispiel muss das Gehirn merken, wo der Reiz herkommt. Und es muss beurteilen, ob es ihn gut oder schlecht findet. Soweit man heute weiß, sind dafür Hirnbereiche notwendig, die ein bisschen wie Mandelkerne aussehen und die deshalb auch so heißen – „Mandelkerne“ (der Fachbegriff ist Amygdalae). Sie sorgen auch dafür, dass man Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“, also ohne bewusstes Nachdenken, treffen kann. Das ist vor allem in bedrohlichen Situationen wichtig.
Wenn das Filtern und Beurteilen nicht klappt, haben Menschen eine Reizverarbeitungsstörung.
Das kommt selbst bei ganz gesunden Menschen vor, zum Beispiel bei optischen Täuschungen. Bei Autisten kommt es jedoch auch im „ganz normalen“ Alltag zu „Täuschungen“ (und dafür übrigens bei optischen Täuschungen manchmal gerade nicht).
Wie schon in der Einleitung beschrieben, nehmen Menschen mit autistischen Störungen oft viel mehr Details bewusst wahr als nichtautistische Menschen. Doch sie können die Details nicht so gut in einem Zusammenhang erfassen. Dieses Problem nennt man auch eine eingeschränkte Fähigkeit zur zentralen Kohärenz.
Das Talent, Einzelheiten besonders gut wahrnehmen zu können, kann manchmal richtig vorteilhaft sein, zum Beispiel um Dinge wie eine verlegte Brille oder einen verlorenen Schlüssel wiederzufinden. Autisten fallen solche kleinen Dinge sofort ins Auge, wenn sie sich an einem ungewohnten Ort befinden. Die Detailwahrnehmung kann auch helfen, Texte auf Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler durchzusehen. Es gibt Berufe, für die das sehr wichtig ist, zum Beispiel den des Lektors, der Bücher vor der Veröffentlichung auf solche Fehler überprüft (mehr zum Thema Berufe erfährst du im Kapitel „Beruf“.
Der Nachteil ist hingegen, dass autistische Menschen Unwichtiges oft nicht ausfiltern können und daher das „große Ganze“ nicht erkennen. Man sagt, sie „sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht“*. So verstehen Autisten bei Büchern und Texten manchmal die eigentliche Geschichte nicht, weil sie vielmehr einzelne Wörter und Sätze betrachten. Oder sie sehen zwar den Schlüssel auf dem Kühlschrank, nehmen den Raum aber nicht als Ganzes wahr.
Das Problem der Detailwahrnehmung taucht nicht nur beim Sehen auf. Ebenso bemerken Autisten meist viel mehr Töne und Gerüche als andere Menschen. Allgemein wirken Sinneseindrücke auf sie häufig stärker als auf nichtautistische Menschen. Ihnen erscheint Licht unangenehm hell, Geräusche extrem laut und selbst leichte Berührungen empfinden sie wie einen heftigen Stromschlag. Das Ganze nennt man Überempfindlichkeit oder Hypersensibiltät.
Eine hohe Sensibilität kann etwas Schönes sein. So betrachtet die Autistin Jasmine Lee O‘Neill ihre Hypersensibilität eher als eine gute Eigenschaft:
„Ich zum Beispiel möchte die Sensibilität meiner Sinne in keinem Fall missen und schätze die tiefen Erfahrungen, mit denen sie mein Leben bereichert. Sie nährt meine Kreativität und verhilft mir zu wunderbaren Eindrücken und Gefühlen“ (O‘Neill 2001, 31)
Aber die starken Sinneseindrücke können auch überfordern. Du kannst dir das wie bei einem Computer vorstellen: Es gibt bei der Wahrnehmung einen „Input“ – das sind die Reize, die im Anschluss „verarbeitet“ und dann „abgespeichert“ werden müssen. Erfolgt ein zu großer „Input“, sind sozusagen zu viele „Programme“ auf einmal geöffnet, entsteht eine „Systemüberlastung“ und das Gehirn sendet „Error“. Das führt dann dazu, dass du Kopfschmerzen bekommst, dir übel oder schwindelig wird und du gar Angst bekommst. Man bezeichnet diese Gefühle als „Overload“, auf Deutsch also als eine Überlastung.
Die Asperger-Autistin Christine Preißmann (sie ist Ärztin, Psychotherapeutin und Autorin und hält oft Vorträge über Autismus) muss in solchen Situationen sogar manchmal erbrechen:
„Leider merke ich meist nicht rechtzeitig, dass ich in diese schlimmen Zustände komme, sondern ich registriere sie erst dann, wenn ich bereits dieses ,ich kann nicht mehr‘-Gefühl habe“ (Preißmann 2005, 101)
Nicht alle Autisten bekommen direkt Übelkeit oder Kopfschmerzen von der Reizüberflutung. Aber so gut wie alle haben durch die zu vielen Inputs Probleme, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Viele Autisten „schalten“ daher gelegentlich einfach „ab“: Sie versuchen, sämtliche Reize auszublenden. Gerade in der Schule ist das selbstverständlich nicht gerade toll. Denn erstens ist es wichtig, den Unterrichtsstoff mitzubekommen, und zweitens wirken Autisten während so einer Sinnes-Auszeit oft so, als wären sie faul, da sie dann meist total abwesend in die Luft starren.
Allerdings werden nicht immer alle Sinne abgeschaltet. Manchmal blenden Autisten nur einzelne Sinne aus. Sie ignorieren automatisch störende Sinne und Reize, um sich besser auf andere Sinne konzentrieren zu können, so als möchtest du zum Beispiel einem Geruch genau nachspüren und konzentrierst dich so sehr darauf, dass du Geräusche nicht mehr wahrnimmst. Dadurch haben autistische Menschen oft eine viel bessere Konzentrationsfähigkeit als Nichtautisten, vor allem bei Dingen, die sie interessieren.
An sich ist das eine tolle Eigenschaft. Doch sie kann auch von Nachteil sein, nämlich dann, wenn man sich so sehr konzentriert, dass man dabei alles andere um sich herum vergisst und andere wichtige Dinge nicht mehr bemerkt. Stell dir zum Beispiel vor, du löst gerade Rechenaufgaben und deine Mutter ruft dir zu, dass du den Müll hinunter tragen sollst. Die Aufforderung deiner Mutter registrierst du aber nicht, weil du zu sehr auf die Rechenaufgabe konzentriert bist. Das kann man sich so vorstellen, als sei dein Gehirn ein Computer, auf dem gerade das Programm „Rechnen“ aufgerufen ist. Um das Programm „Hören“ auszuwählen, müsste das Rechenprogramm erst geschlossen werden. Mit anderen Worten: Das „autistische Gehirn“ kann manchmal nur eins nach dem anderen, aber nicht gleichzeitig Reize aus verschiedenen Sinnesorganen verarbeiten. Das nennt man intermodulare Störung. Nichtautisten können dieses schrittweise Wahrnehmen oft nicht nachvollziehen. So wird deine Mutter vermutlich ärgerlich, weil der Müll bleibt, wo er ist. Dabei kannst du gar nichts dafür. Dein Kopf „schaltet“ nur nicht so schnell um, wie es notwendig wäre.
Aber nicht in jedem Fall nehmen Autisten die Welt stärker wahr als nichtautistische Menschen. Umgekehrt kommt es auch vor, dass Autisten gegenüber bestimmten Reizen besonders unempfindlich sind. So kann es zum Beispiel passieren, dass ein autistischer Mensch im Winter nur mit T-Shirt und Sandalen auf die Straße geht und gar nicht merkt, wie kalt es eigentlich ist. Das nennt man...