|24|Kapitel II Intuition – nicht »aus dem Bauch«, sondern aus dem ganzen Menschen
Intuition
(aus lat. intueri, intueor, intuitus sum: ansehen, hinschauen, betrachten, erwägen)
Anschauung;
unmittelbar ganzheitliche Sinneswahrnehmung im Gegensatz zum Beobachten von Einzelheiten;
Erkennen des Wesens eines Gegenstandes ohne längeres Nachdenken in einem Akt des Erkennens, dies im Gegensatz zur Diskursivität: in logischen Einzelschritten in der Erkenntnis voranschreiten;
eingebungsartiges Schauen, ahnungsvolles Erfassen.
Der kleine Jörg ist mit seinen Eltern über zehn Tage zu Besuch bei den Großeltern. Zum Gutenachtritual gehört, dass der Opa abends die Lieder, die Jörg sonst von seinen Eltern vorgesungen bekommt, jetzt auch auf der Flöte vorspielt. Jörg hört stets andächtig zu. Eines Abends signalisiert er nach dem Flötenspiel jedoch nicht – wie sonst zu erwarten gewesen wäre – sein Einverständnis, jetzt ins Bett gebracht zu werden. Vielmehr zerlegt er in Windeseile seine Kugelbahn, fügt mehrere kleine Rohre zu einem längeren Rohr zusammen und stellt sich damit vor den Notenständer. Dann summt er in dieses Rohr die ihm gegenwärtigen Melodien und bewegt die Finger dazu wie beim Flötenspiel. Nach einigen Takten dreht er sich um, schaut gespannt in die Runde und beginnt zu |25|strahlen, als er die freudigen Gesichter der applaudierenden Zuhörer sieht.
Hätten die Erwachsenen hier nicht intuitiv erkannt, dass es in diesem Augenblick nicht darum ging, die Zeitgrenzen, d. h. die pädagogischen Richtlinien vom Zubettgehen, einzuhalten, sondern sich auf das einzulassen, was dem kleinen Jörg vorschwebte, dann hätte sich diese wunderbare Geschichte nicht ereignet. Aber nicht nur das. Die Erwachsenen hätten – zumindest vorerst – eine große Chance verpasst, den Jörg eine eigene Motivation für das Musizieren finden zu lassen. Aus eigener Motivation und Freude heraus zu musizieren ist nämlich etwas anderes als das, was meine Patientin Wiebke erlebte, von der in Kap. VII die Rede sein wird.
Dass die Erwachsenen nicht darauf bestanden, Jörg seine Kugelbahn beiseitestellen zu lassen und ihn ins Bett zu schicken, verdankten sie ihrer Intuition aus ihrem eigenen impliziten Beziehungswissen heraus.
Seit zweieinhalbtausend Jahren schon befassen sich die Menschen mit der Intuition beziehungsweise deren unterschiedlichen Bedeutungen und Wertschätzungen. Offensichtlich stellt die Intuition ein Thema dar, das die Menschen in ihrem Erkenntnisstreben seit Beginn des überlieferten philosophischen Denkens nicht loslässt.1
Immanuel Kant (1704–1784) hielt von Intuition als Weg zur Erkenntnis durch innere bildhafte Anschauung zunächst herzlich wenig. Denn Erkenntnis, so Kant, wird begrifflich-diskursiv und nicht in der Anschauung gewonnen. Diese schroffe Position provozierte in der Folgezeit, insbesondere auch in der Romantik, Gegenbewegungen. (Die schrecklichste Gegenbewegung war die Rede der Nationalsozialisten vom »zersetzenden Verstand«.) Aber Kant selbst hat implizit (!) diese |26|schroffe Position aus der Kritik der reinen Vernunft späterhin wieder in Frage gestellt.2 Veranschaulicht sei dies an der intuitiv-schöpferischen Entstehensweise eines Entwurfes, zum Beispiel dem eines Hauses.
Jedes Haus, nehmen wir als Beispiel das Hundertwasser-Haus in Wien, erscheint zunächst als Entwurf in der inneren Anschauung – gewissermaßen auf der »inneren Leinwand«. In diese innere Anschauung wird der Entwurf von der Fantasie eingespeist. Anschauung und Fantasie (Letztere als produktive Einbildungskraft im Kant’schen System) sind eng miteinander verknüpft. Denn ich bekomme zuerst in der inneren Anschauung zu Gesicht, was die Fantasie mit ihrer Fähigkeit, etwas Neues hervorzubringen, entwirft.
Der Entwurf des Hauses, den wir in unserer inneren Anschauung wahrnehmen, setzt aber praktische, d. h. auch implizite Kenntnisse über die Bedürfnisse und Bräuche seiner künftigen Bewohner, Kenntnisse der Gesellschaft, der diese Bewohner angehören, sowie deren Kulturstufe und politische Ordnung voraus, damit sich diese zukünftigen Bewohner des Hauses darin wohlfühlen, sich eben »zu Hause fühlen« können. Jeder gelungene architektonische Entwurf zeigt, dass Vernunft und Intuition nicht voneinander zu trennen sind.3 Vernunft zeigt sich also nicht nur im Technisch-Naturwissenschaftlichen. Dies zu meinen wäre sogar höchst unvernünftig. So wie es unvernünftig wäre, ein Haus zu bauen, das zwar der Statik genügt, aber nicht ermöglicht, dass seine Bewohner sich darin wohlfühlen, wie die aufs Technisch-Funktionale reduzierten Plattenbauten zeigen: »Es ist also durchaus nicht eine Sache der Willkür und des freien Beliebens, wie unser produktives Vermögen die Modelle, die wir verwirklichen wollen, entwirft. Sie müssen im Zusammenhang der Welt, in die sie hineingestellt werden, ›richtig sitzen‹« (Picht 1969). Die Vernunft, die in den schöpferischen |27|Entwurf mit eingeht, ist also nicht nur begrifflich-diskursiv. Sie entspricht zugleich auch in vielem dem, was bereits als implizites Wissen vorgestellt worden ist.
Eben dieses Wissen speist unsere Intuition. Der Augenblick, in dem diese sich freisetzt, lässt leise knisternd die Vergangenheit des prozedural Erworbenen mit dem Zukünftigen, dem jeweils noch nicht ganz Bewussten im Entwerfen zusammengehen. Oder etwas weniger feierlich: Unser Erfahrungswissen hat, sofern es in irgendeiner Weise reflektierbar ist, eine ungeheure Kraft in sich.
Für Ernst Bloch4 zeigt es sich als »belehrte Hoffnung« (docta spes), als aufsässig-schöpferisches Moment utopischer Entwürfe für eine menschlichere gesellschaftliche Verfasstheit. (Was könnten wir, globalisierungsverschlissen, derzeit dringender brauchen?)
Unser lebendiges schöpferisches Handeln, das nicht nur reproduziert, lebt von diesem Wissen und kann es zugleich vermehren. Gleich, ob wir ein Bild malen (s. Kap. VII) oder einen Garten anlegen.
Und noch ein Köder für »Realisten«: Wirtschaftlicher Innovation und Kreativität könnte, wie die Japaner Nonaka und Takeuchi (s. Kap. VI) beispielhaft belegen, dieses Wissen ebenfalls zugute kommen. Sofern man sich die Mühe macht, es zu vermitteln.
Das implizit-prozedurale Wissen ist auch entscheidend für unser Körperschema und Körperbild, d. h. für die Gewissheit, in unserem eigenen Leib zu Hause zu sein. Zugleich ermöglicht dieses Wissen, die Leibhaftigkeit eines Gegenübers zu verstehen: Sei es die des Patienten in der ärztlichen Sprechstunde oder der Schülerin im Sportunterricht. Wir können dann intuitiv sowohl deren Zerbrechlichkeit als auch deren Ressourcen erspüren.
|28|Unser implizites Beziehungswissen ermöglicht uns Spontaneität in der Begegnung mit anderen Menschen. Die mit unserem impliziten Wissen verbundenen inneren Bilder ermöglichen, dass wir uns situativ rasch orientieren können, das heißt schnell im Bilde sind, wenn beispielsweise unser Freund am Ende der Straße erscheint. Wir erkennen schnell, dass er es ist und wie es um ihn bestellt sein mag.
Damit wird deutlich, dass die oben genannte schroffe Kant’sche Position nicht haltbar ist: Wenn wir im Bilde sind, dann haben wir etwas schon bestens verstanden, ohne es zwangsläufig auf den Begriff gebracht haben zu müssen.
Ohne begriffliche Interpretation können wir auch die bildnerische Darstellung eines Künstlers verstehen, wenn wir in dieses Bild einsteigen, uns in diesem Bild bewegen. Wir sind dann im wortwörtlichen Sinne im Bilde.5 Dass wir uns in einem Bild bewegen können, hat wiederum viel mit unserem impliziten Wissen zu tun.
Was hier für die bildnerische Darstellung gilt, verdeutlicht Daniel Stern (2005) beispielhaft an dem Erleben von Musik: »Man kann ein musikalisches Werk hören und dekonstruieren und auf diesem Wege zu einem expliziten Verständnis seiner Komposition gelangen. Dazu bedarf es einer gewissen Ausbildung. Zumeist aber verhalten wir uns anders. Wir hören die Musik immer wieder und erleben sie mit wachsender Intensität. Bei jedem Hören interessieren, überraschen und erfreuen uns andere Aspekte. Wir kennen die Komposition besser, und zwar im...